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Wenn Menschen ihre Gesichter verlieren

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14.07.2003
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Wenn Menschen ihre Gesichter verlieren

Menschen ohne Gesichter

Ich gehe beinahe jeden Tag meines Lebens zielstrebig zu meiner Arbeitsstelle, erledige meinen Job so gut es nur geht, dies immer in der ständigen Gewissheit, dass morgen wieder derselbe Tag in Grün auf mich wartet, am Abend setze ich mich dann in den Zug, steige an meiner Haltestelle aus, trinke zu Hause schließlich entspannt ein kleines Bierchen mit dem Nachbarn und schlafe letzten Endes friedlich vor dem Fernseher ein. Wie ich bereits erwähnte, lege ich die Strecke zur Firma mit der Bahn zurück, deshalb durchquere ich jeden Tag meines Lebens hektisch und eilend das Bahnhofsgelände, bis ich endlich zu meinem Zug gelange.

Doch nicht gestern. Gestern war alles anders...

Wie gewohnt war ich pünktlich um 7.30 Uhr am städtischen Bahnhof anzutreffen, doch als ich mich inmitten dieser wuselnden, umherlaufenden, reisenden Menge befand, musste ich einfach stehen bleiben. Bisher nahm ich all diese Menschen nicht wirklich wahr. Sie waren für mich nicht mehr als Wesen ohne Gesichter, Leidende der Großstadt ohne greifbare Seele. Normalerweise drängelte ich mich, leise vor mich her fluchend, durch diese Menge, machte mich dort und da dünn um gerade noch durch diese eine Lücke hier und hier zu passen und benutzte manchmal auch clevere Umwege um schneller an mein Ziel zu kommen... Aber die Menge nahm ich nie wirklich wahr, außer gestern. Denn an diesem Tag konnte ich nicht mehr tun als stehen zu bleiben, um dabei zuzusehen wie diese Menschen langsam aber stetig wieder zu einzelnen Individuen wurden.

Ich sah mich um und realisierte auf einmal die wartende, schwangere Frau vor dem Zug auf Gleis 1 und begann mich gleichzeitig zu fragen, was den Obdachlosen hinter mir wohl so weit gebracht hat, um hier bei den Toiletten zu übernachten. Auf einmal bemerkte ich, wie erniedrigend die Arbeit der Putzfrauen dieses Bahnhofs war, welche die Schlafstätten dieser Menschen reinigten und konnte mich in ihre Lage versetzen. Ein Leben voller schweißtreibender Arbeit hinter Eimern und Putzlappen und weit und breit kein Mensch, der dies respektiert und würdigt.

Aber ich registrierte auch den Herrn im Gucci-Anzug, der vier Fahrkartenautomaten neben mir in sein brandneues Nokia brabbelte. Ob ihm das viele Geld wirklich glücklich macht oder ob er dieses nur als Füllmaterial für sein ausgehöhltes Leben verwendet, wird wohl nie jemand erfahren... Auf jeden Fall rauschte er Sekunden später mit einem gut operierten Pamela Anderson-Verschnitt gen Süden davon.

Seinen Platz nahm nun ein älterer Herr mit Hut ein, sein Blick war weise und sein Gesicht konnte man mit einem Baumstamm vergleichen, voller Furchen, natürlich und geformt vom Leben. Er hielt eine circa ebenso alte Dame an der Hand, sie glich sich seinem Erscheinungsbild erstaunlich nahe an, die beiden vermittelten mir den Eindruck, in einer Art Symbiose zu leben, der eine schien vom anderen zu profitieren, zu lernen und mit dem andern zu wachsen.

Ich war überwältigt über meine neue Denk,- und Sichtweise, Menschen zu betrachten und zu beurteilen.

Doch dann, als mein Zug auf dem 5er Gleis ankam und ich mich noch mächtig sputen musste um ihn zu erreichen, verloren die Menschen ihre Gesichter und wurden wieder zum Teil der Großstadt, sie mutierten zu kleinen Komparsen eines billigen Films...

Hektisch suchte ich mir einen Sitzplatz und ließ mich neben irgend so einem pubertierenden Jüngling nieder. Oder war es doch eine Dame um die 40?

 
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Hallo Jingles!

Herzlich willkommen auf kg.de! :anstoss:

Etwas besonders großartiges erzählst Du uns zwar nicht, aber für den Einstand ist Deine Geschichte ganz nett. :)
Sie liest sich wie das Zoomen mit dem Objektiv einer Kamera: Erst die Menschenmasse, dann das Scharfstellen auf die einzelnen Gesichter, das Erfassen ihrer Situation, ein Erfühlen der fremden Schicksale. - Aber bevor wir zu tief eintauchen, kommt der Zug und wir zoomen wieder weg - gehen den eigenen Weg wie gewohnt weiter...

Vielleicht zoomst Du ja demnächst noch ein bisschen näher an die Leute heran und widmest jedem eine eigene Geschichte...? - Nur so als Anregung. ;)

Hier ...

um dabei zuzusehen wie diese Menschen langsam aber stetig, wieder zu Menschen wurden
...würde ich etwas anders formulieren (daß Menschen zu Menschen wurden, klingt etwas seltsam), zum Beispiel "wie diese Menge (oder "Masse") langsam aber stetig zu Menschen wurde"

Was mir etwas seltsam vorkam, ist der Vergleich von Gesicht und Baumstamm:

sein Gesicht konnte man mit einem Baumstamm vergleichen, zäh, natürlich und geformt vom Leben.
Also, eigentlich ist es das Wort "zäh", das mich dabei am meisten irritiert, das paßt, finde ich, irgendwie nicht so ganz zum Baumstamm.

Ein paar Anmerkungen hab ich noch:

"doch als mich inmitten dieser wuselnden, umherlaufenden, reisenden Menge befand"
- als ich mich

"an diesem Tag konnte ich nicht mehr tun als stehen zu bleiben, um dabei zuzusehen wie diese Menschen langsam ..."
- wäre hier nicht "nichts mehr" besser?

"wie diese Menschen langsam aber stetig, wieder zu Menschen wurden"
- entweder vor "langsam" auch einen Beistrich (ein Komma), oder den hinter "stetig" weg (beide oder keinen) ;)

"Ob ihm das viele Geld wirklich glücklich macht"
- ihn

"Ich war überwältigt über meine neue Denkweise und meiner neuen Art und Weise"
- überwältigt von meiner neuen Denkweise
- hier wiederholt sich "Weise", vielleicht besser statt "von meiner neuen Denkweise" "von meinem neuen Denken"


Liebe Grüße,
Susi :)

PS.: Korrigieren kannst Du, indem Du rechts unterhalb Deiner Geschichte auf "Bearbeiten" klickst. ;)

 

Hi Jingles!

Ich finde Deine Geschichte recht gut geworden, da sie schön - wenn auch etwas zu kurz - beschreibt, dass es der bewussten und gewollten Wahrnehmung bedarf, um an Stelle der anonymen Masse die einzelnen Menschen zu sehen.

Ob ihm das viele Geld wirklich glücklich macht oder ob er dieses nur als Füllmaterial für sein ausgehöhltes Leben verwendet, wird wohl nie jemand erfahren...
Hier stört mich die Verallgemeinerung "niemand". Besser fände ich, wenn Du das auf Dich selbst beziehen würdest: "... werde ich wohl nie erfahren."

Doch dann, als mein Zug auf dem 5er Gleis ankam und ich mich noch mächtig sputen musste um ihn zu erreichen, verloren die Menschen wieder ihre Gesichter und wurden wieder Teil der Großstadt, sie mutierten wieder zu kleinen Komparsen eines billigen Films...
Hier würde ich umformulieren, denn dreimal "wieder" ist etwas zu viel ...

LG
Aragorn

 

Hallo Jingles,
schöne Geschichte, die eine Momentaufnahme auf dem Bahnhof beschreibt, erst die Masse, dann einzelne Personen aus dieser hervorhebt, kurz beleuchtet und dann wieder in der Anonymität der Masse verschwinden lässt. Ich finde Häferl hat das gut ausgedrückt, mit ihrem Zoomvergleich.
Die anderen haben Dich ja bereits auf die Fehler aufmerksam gemacht.
Eine Sache, die mir noch aufgefallen ist:

...was den Obdachlosen hinter mir wohl soweit gebracht hat, um hier bei den Toiletten zu übernachten.
Auf einmal bemerkte ich, wie erniedrigend die Arbeit der Putzfrau hier war...

Zweimal hintereinander hier, besser vielleicht: wie erniedrigend die Arbeit der Putzfrau doch war...

Ansonsten bin ich schon auf Deine nächste Geschichte gespannt.

LG
Blanca

 
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Meiner Meinung nach hat Aragorn den Sinn dieses Textes am besten erfasst, obwohl der Vergleich von Häferl auch nicht schlecht war.

 

Hallo Jingles,
habe mich nun erstmal mit deiner ersten Geschichte befasst, da mir der Titel gefiel. Dieses Gefühl kenn ich sehr gut, hunderte von Gesichtern, die zu einer Masse verschwimmen und dann manchmal das Gefühl, dass der Horizont erweitert ist und das Schicksal der Menschen einem sehr nahe kommt. Bequemer ist sicher ersteres, aber die Menschen zu sehen, oder wenigstens tageweise richtig anzusehen ist das was ich mir für die Menscheit wünsche.

 

Moin Jingles :)

Für mich sind Deine Stories irgendwie immer: "Super Story" oder "ist die vom gleichen Autor?"

Diese hier gehört zu der ersten Kategorie. Ich wohne selbst in einer Grosstadt und habe den Effekt das ma manche Menschen zu genau, übergenau sieht, sich über solche "Nebensächlichkeiten" wie die sache mit der Putzfrau oder dem Penner ewig lange Gedanken macht, andere Menschen aber nur noch als eine verschwommene einförmige Masse wahrnimmt.

Ich mag solche Storys :)

*wink*

jaddi

 

brauchbarer Schnappschuss, oder was war das noch???
nee, im ernst, war ganz gut beschrieben, n´bischen nüchtern vielleicht...
Lord

 

@Jadzia & Lord Arion

Danke, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, um diese alte Geschichte auszugraben. Lob hört man immer gerne. ;-)

 

Ich finde die Geschichte schrecklich. Voller Klischees und bekannter Gedanken. Furchtbar.

Trotzdem hat sie mich selbst an Zugafahrten und Bahnhöfe erinnert. Immerhin was.

Tut mir leid, ist nicht böse gemeint.

 

Keine Ursache. Allerdings ist dies ja immerhin ein Alltagstext, also ist es mM nach nicht verwerflich "bekannte Gedanken" und Klischees miteinzubauen.

 

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