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- 24.04.2003
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Wer ist eigentlich Frank?
In meinem Traum begegnete ich einem jungen Mädchen, das keine Kleider trug.
Wortlos gingen wir aneinander vorbei, doch meine ich, sie später noch kichern gehört zu haben.
An dem kleinen Bach, der in den Tannenwald führte, wusch ich mir die Hände, die seltsamerweise voller Blut waren.
Mit einem Lächeln im Gesicht erwachte ich. Für einen Moment war mir, als sei mein Herz stehengeblieben. Ich lag auf dem Bett, schaute an die graue Decke, roch meinen eigenen Schweiß. Dennoch war ich ganz einfach nicht da. Erst, als ich meinen Herzschlag wieder spürte, kehrte das Leben in mich zurück.
Ich stand auf und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Vorher musterte ich meine Hände, die grobschlächtigen Pranken, die so gar nicht zu meiner hageren Gestalt passen. Es war kein Blut an ihnen.
Draußen dämmerte es bereits. Ich sah zum Radiowecker. Scheinbar hatte es in der Nacht einen Stromausfall gegeben. Die roten Ziffern blinkten und zeigten zwei Uhr dreißig an.
Der neue Tag brachte eine Leere mit sich, die mich fast weinen ließ. Ich zog die schweren Vorhänge beiseite und beobachtete die Leute, die sich unten auf der Straße tummelten. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden hatte, als es plötzlich an der Tür klingelte.
"Einen Moment", rief ich, und sammelte hastig die Sachen zusammen, die ich am Abend achtlos neben das Bett geschmissen hatte. Das große Loch in meiner Jeans nahm ich nur kurz wahr, da es jetzt laut und ohne Unterbrechung klopfte. Zwischendrin immer wieder die Klingel.
"Was zum Teufel soll das?", brüllte ich, und riss die Tür auf. Vor mir lag das Treppenhaus; es war verlassen. Ich tat ein paar Schritte aus der Wohnung und lukte über das Geländer nach unten. Niemand da.
Verstört ging ich zurück in mein Schlafzimmer, und griff nach dem Telefon. Die Nummer vom Büro habe ich schon vor längerem eingespeichert.
"Nein, es geht wirklich nicht...ja, wieder diese Kopfschmerzen...ich weiß, es tut mir ja auch Leid...natürlich werde ich zum Arzt gehen...die liegen bei mir auf dem Schreibtisch...hören Sie, bitte, es geht mir nicht besonders...ja, mache ich...vielen Dank...bis Montag."
Ich legte auf. Für einen Augenblick ging mir der irrationale Gedanke durch den Kopf, dass mein Chef gehört haben könnte, mit welcher Lautstärke ich den Hörer auf die Gabel geschmettert hatte.
Was mochten sie im Büro jetzt über mich reden? Ich fehlte oft in letzter Zeit. Zu oft.
Immer dann, wenn diese Träume kamen.
Die Sprechstundenhilfe meldete sich mit ruppigem Tonfall. Ich fragte sie, ob noch ein Termin zu bekommen sei. Nein, das wäre nicht möglich, ich müsste so vorbeikommen. Wie lange ich dann ungefähr warten müsse? Das könne sie nicht sagen.
"Aber ich kann ja mal nachschauen."
Schon durch die Leitung hörte ich lautes Kindergeplärre und zwei Frauen, die über irgendetwas lachten. Ich legte auf.
Im Bad besah ich mir das Loch in der Jeans näher. Es befand sich am linken Bein und legte das gesamte Knie frei. Was mich außer seinem Vorhandensein sonst noch wunderte, war, wie sauber es an den Rändern des Stoffes verlief. Von einem Sturz konnte es unmöglich herrühren, auch deshalb nicht, weil keine Wunde am Knie war. Vielmehr sah es aus, als wenn es mit einer Schere geschnitten worden wäre. Aber selbst dann hätten Fransen herausgehangen.
Bei dem Versuch, den vergangenen Abend zu rekonstruieren, stieß ich auf eine tiefe, schwammige Leere. Vereinzelt drangen Worte in mein Denken, die ich nicht zuordnen konnte. Ich hatte mich mit Frank getroffen. Ich erinnerte mich an den Witz über den russischen Wissenschaftler, den er erzählt hatte. Ich konnte mich aber nicht daran erinnern, wo wir uns getroffen hatten, und auch nicht daran, wie ich nach Hause gekommen war.
Mit Entsetzen stellte ich plötzlich fest, dass ich sogar Franks Telefonnummer vergessen hatte. Und nicht bloß das, ich wusste überhaupt nicht mehr, wer Frank war.
Frank. Dieser Name sagte mir nichts. Ich wusste lediglich, dass ich mich mit ihm getroffen hatte.
Ohne Jacke verließ ich meine Wohnung. Im Treppenhaus war es noch immer still. Eine bedrückende Stille. Als ich aus dem Haus trat, regnete es leicht. Ich hastete über die Straße. Ein Auto hupte.
Im Stadtgarten, der nur wenige Minuten entfernt liegt, setzte ich mich auf eine Bank, und atmete tief ein. Ein furchtbarer Gedanke kam mir. Kann es möglich sein, die eigene Identität zu verlieren?
Noch einige weitere Male atmete ich tief, und langsam ein, dann genauso gleichmäßig wieder aus. Ich rekapitulierte. Seit wann hatte ich diese Träume?
Wieder diese schwammige Leere; jegliche Konzentration war aus meinem Kopf gewichen. Meine Hände zitterten.
Wie oft hatte ich diesen Monat schon auf der Arbeit gefehlt? Welcher Monat war es überhaupt?
Mir wurde eiskalt. Erneut hatte ich das Gefühl, mein Herz würde stehenbleiben. Es ging nicht anders, unwillkürlich fragte ich weiter.
Welches Jahr hatten wir überhaupt?
Ich konnte nicht länger auf der Bank sitzenbleiben. Mit einem Ruck stand ich auf und begann zu laufen. Warum, dass wusste ich nicht. Ich bog von dem Kiesweg ab und beschleunigte mein Tempo. Schließlich rannte ich über die aufgeweichte, schlammige Wiese. Schmutz spritzte zu den Seiten hoch. Ich spürte ihn an meinem nackten, linken Knie, und es tat gut, etwas zu fühlen.
Minuten später fand ich mich vor einem kleinen Bistro wieder, das mitten im Park, am Ende einer langen Allee stand. Erschöpft stieß ich die Doppeltür auf. Die Kellnerin sah mich im ersten Moment an, als erwarte sie Ärger, lächelte dann aber freundlich und kam auf mich zu. Keuchend nahm ich Platz, als ich auch schon die Karte vor mir liegen hatte.
"Möchten Sie auch etwas essen?"
"Nein, danke. Einen Korn bitte. Warten Sie, besser zwei Korn."
In der Ecke stand ein fetter Mann, der den Spielautomaten ununterbrochen mit Geld fütterte, als hänge sein Leben davon ab. Mit hektischen Bewegungen hämmerte er auf die großen Knöpfe ein. Das Gepiepse dieses Dings machte mich halb wahnsinnig. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte...
Die Kellnerin stellte die beiden Gläser vor mich hin, wobei sie es vermied, mich anzuschauen. Als sie ging, blieb mein Blick an ihrem Hintern haften.
Das erste Glas stürzte ich hinunter, und mein Magen explodierte. Ich verfluchte mich dafür, nicht meine Jacke angezogen zu haben, in der ich immer die Tabletten gegen Sodbrennen bunkere.
Dann fiel mir etwas ein: Ich hatte gar kein Geld bei mir. Das Portemonnaie lag irgendwo in der Wohnung. Ja, sogar die Schlüssel hatte ich vergessen.
Ich spülte den zweiten Korn runter, was meinen Magen seltsamerweise zu beruhigen schien.
Ohne ihnen den Befehl dafür gegeben zu haben, trommelten meine Handflächen laut auf die Tischplatte. Unwillkürlich begann ich zu pfeifen. Diese Melodie, war die nicht auch gestern Abend dabei gewesen, als Frank den Witz erzählt hatte?
Das junge Mädel sah in meine Richtung und nickte genervt, während der Fettsack weiter sein Kleingeld in den Metallbauch des bunten Monstrums warf, das sich piepsend dafür bedankte.
"Ja bitte?"
"Noch zwei Korn, Süße!"
Langsam wurde ich wieder klarer. Alles schien jetzt einen Sinn zu ergeben. Nur Frank passte noch nicht richtig in das Gesamtbild. Ich hatte gestern lange gearbeitet, kam es mir in den Sinn. Danach wollte ich trinken gehen.
"Nein Scheiße, ich wollte mich besaufen gehen."
Ich hatte den Gedanken laut ausgesprochen, aber niemand schien es bemerkt zu haben. Also überlegte ich weiter.
Frank, dieser Kerl aus dem...aus der Puffstraße, genau! Da hatte ich ihn getroffen. Ich war zuerst davon ausgegangen, er sei ein Stricher, dabei ist er selbst bloß auf der Suche gewesen.
Irgendwann sind wir dann in dieser Kneipe gelandet, und haben uns ganz mächtig die Kante gegeben.
Danach, Leere.
"Wo bleibt denn jetzt mein Korn?"
Schnell kam sie auf mich zu, und stellte meine Bestellung vor mich hin.
"Seien Sie bitte nicht so laut. Sie sind nicht der einzige Gast hier", sagte sie, und in diesem Moment schämte ich mich dafür.
Ich nahm mir vor, meine Unverschämtheit wieder gut zu machen. Obwohl ich aufgehört hatte zu pfeifen, summte es in meinen Ohren. Ich leerte die beiden Gläser und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Dann wusste ich mit einemmal, wie ich mich bei ihr entschuldigen konnte. Ich würde sie zu einem Tanz auffordern. Ein Tanz, nur zu der Melodie des Geldspielautomatens. Plötzlich war mir der fette Kerl gar nicht mehr so unsymphatisch. Ich meine, wer kommt schon auf so eine verrückte Idee? Alles legte ich mir genau zurecht. Noch zwei, drei Korn, damit die Beine das richtige Gespür zu dem bizarren Rhythmus des Soundprozessors entwickeln konnten. Der Fettsack musste bloß weiterhin den Automaten füttern, notfalls hätte ich ihm das Geld dafür gegeben. Aber nein, ich hatte ja mein Portemonnaie vergessen.
Mein Plan geriet aus den Fugen.
Das Loch!
Jetzt wusste ich es wieder. Es war ebenfalls ein Liebesbeweis gewesen. Dieser Hure hatte ich gesagt, ich würde mir sogar ein Loch in meine Lieblingsjeans schneiden, wenn sie mich heiraten würde. Die Fransen hatte Frank mir abgeschnitten, weil ich schon zu betrunken war.
Danach sind wir dann aber doch nach Hause gegangen. Jeder für sich. Obwohl er, glaube ich, ganz attraktiv gewesen ist, dieser Frank. Mir hatte das Knie gefroren, das wusste ich wieder.
Da war aber noch etwas zuvor gewesen. Dieses junge Ding ohne Kleider. Bin ich durch den Wald zurückgegangen? War ich alleine?
"Noch zwei Korn!"
Die Süße kam an, in einem Schritt, der keinen Widerspruch duldete.
Ich bäumte mich auf, setzte zur Frage an, als ihre wahren Absichten zum Vorschein kamen.
"Darf ich bitte schonmal kassieren?"
Kurz hielt ich inne, verwundert der Frage wegen. Ein bittersüßes Grollen vernichtete meinen Magen, und von Schmerzen geplagt sprang ich auf und schmetterte die hohle Hand nach vorn, die einen sauberen Abdruck auf dem Gesicht dieser dürren Henne hinterließ.
"Nein, darfst du nicht, Schlampe!"
Irgendwann stand ich wieder im Park, Blut floss aus meiner Nase, über das dunkelgraue Hemd. An den Rest des Tages kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich mein Portemonnaie geholt und mir einen über den Durst getrunken. Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, wie ich dann schlussendlich nach Hause gekommen bin. Bei meinem Nachbarn habe ich noch kurz geklingelt.
"Weckst du mich aber morgen wieder...ja, kannst ruhig an die Tür trommeln und Klingelgewitter machen...nein, heute nicht mehr, du kennst mich ja, ein paar Korn und ich bin hin und weg...bis morgen, mein Lieber."
Ist morgen nicht Samstag? - Ich glitt ohnmächtig ins Bett.
In meinem Traum begegnete ich einem jungen Mädchen, das keine Kleider trug.
Der Wald wurde dichter.
Als sie an mir vorbeigegangen war, wusch ich mir im Bach die Hände, die seltsamerweise voller Blut waren.
Ich erwachte mit einem Lächeln im Gesicht.
Da war nur die graue Decke, und der Geruch meines eigenen Schweißes. Ich selbst war ganz einfach nicht da.
Erst, als es an der Tür klingelte, bemerkte ich die dunkelroten Blutflecken auf meinem Hemd, und das Loch im linken Knie der Jeans.
Ich hatte keine Zeit, mich damit zu beschäftigen, denn mittlerweile hämmerte es ununterbrochen gegen die Wohnungstür.
Als ich öffnete, schlug die Tür meines Nachbarn zu.
Ich wollte mich auf der Arbeit krankmelden, aber niemand nahm ab.
Schließlich kam mir ein Name in den Sinn.
Frank.
Wer zum Teufel war eigentlich Frank?