Wer mag Georges Brassens?
Ich will, nur so für mich, eine Jacques-Brel-Discographie erstellen. Lese dazu eine dicke Biographie desselben, verfasst von einem gewissen Olivier Todd.
Etwa auf Seite 250 wird zum wiederholten Male Georges Brassens erwähnt. Es geht um seine ausgewogenen Verse, die er in irgendeiner klassischen Form vollendet praktizierte. Mh, das weckt meine Neugier. Also schnell ans Regal, den großen schweren Sammelband mit sämtlichen Brassens-Texten rausgezogen und nachgelesen!
Er wird in der Etage „Französische Autoren“ eingeordnet sein, nehme ich relativ selbstsicher an.
Mein Blick schweift hin und her, gleitet in andere Etagen ab. Habe es vielleicht aufgrund seines Formats irgendwo draufgelegt, ist schließlich recht groß, - nee. Nicht da. Nirgends. Also im Wohnzimmer nachsehen, wo bei den Schallplatten ein paar Bücher mit musikalischem Bezug stehen. Auch nicht.
Wo könnte es noch sein? Im Flur. Wildes Sammelsurium von Büchern, in die man selten schaut, die aber zum Wegwerfen zu schade sind. Doch hier finde ich es ebenso wenig.
Verborgt? Aber wem? Wer könnte sich für die Brassens-Texte interessiert haben? Oder – wem wollte ich mit dem Buch imponieren? Könnte es meine Exfrau jetzt versehentlich in ihrem Bestand haben? Oder liegt es in einem der seit zwei, drei Jahren nicht geöffneten Bücherkartons, die auf Hängeböden, in Kellern und anderswo lagern und auf bessere Zeiten warten?
Ich werde langsam wütend, bekomme einen hypothetischen Zorn auf den, der jetzt gerade mein Buch bei sich zuhause liegen hat, in das er (oder sie?) noch nie gesehen hat, und das ich wahrscheinlich nie zurückbekommen werde, weil ich nicht mehr weiß, wer er oder sie ist, bzw. weil er oder sie nicht mehr weiß, wie dieses seltsame große Buch mit den komischen Texten – links französisch, rechts deutsch – jemals in die eigene Wohnung gekommen ist, denn mein Name steht natürlich nicht drin.
Und selbst wenn, würde er oder sie es sich wohl nicht mehr trauen, nach so langer Zeit das Buch zu mir zurück zu bringen.
Ich versuche, gegen irgendjemanden einen Verdacht zu entwickeln. Mir fällt niemand ein, für den es ein halbwegs belegbares Indiz gäbe, dass er oder sie mein Buch haben könnte.
Ich stehe nun an einem gefährlichen Abgrund namens „Selbstvorwürfe“. Leise, wie von fern, höre ich in mir Rufe: „Du Idiot! Immer verleihst du deine besten Sachen und vergisst dann, an wen!“ Und: „Gib nicht anderen die Schuld an deiner Unordnung, du Arschloch!“ Ich zucke zusammen. Wer ist da? „Jemand, der dich gut kennt!“ Wer soll das sein? Hohngelächter als Antwort.
Schluss da, ich will mein Buch! Ich will die Kunst der sechzehnsilbigen Verse nachlesen! Brassens, höre mich, Brassens, erscheine!
Stille.
Ich bin wohl übermüdet. Also gehe ich in die Küche, mache mir ein paar Brote, um meinen Frust zu zähmen, und setze mich dann mit einem Reudnitzer Urbock wieder an den Schreibtisch. Der schöne Abend. Total futsch wegen...!?
Bücher nicht zurückgeben kommt noch vor Fahrraddiebstahl und Frau wegnehmen. Im Moment jedenfalls. Ich hasse das Schwein.
Und ich hasse mich für meine Schludrigkeit.
Ich lege Brel auf, mache laut. Mir ist egal, dass es nach zwei Uhr nachts ist. Brel, auf keinen Fall Brassens.
Ich versuche, mich wieder in die Biographie hinein zu lesen. Blödes Buch. Dick, teuer, und die Antworten auf gewisse Fragen muss man sich mühsam erarbeiten. Voller Stolpersteine, wie dieser Brassens. Was geht mich der ganze Chansonquatsch überhaupt an? Vergangene Zeiten! Wer hört denn heute noch Brel? Wer legt heute noch Wert auf guten Gesang?
Und wer, zum Teufel, interessiert sich für Brassens?!