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Werde, der du bist
Philosophie ist das Selbstbekenntnis ihres Urhebers (Nietzsche)
Die glühende Abendsonne wirft ihren Bordeauxroten Schleier über das Land und reflektiert sich im riesigen Bergsee, dessen Wasseroberfläche tausender funkelnder Sterne gleichkommt. Es ist ruhig hier. Vereinzelte Windböen raunen durch die hohen Tannenwipfel und streicheln das Wasser. Ich bin wortloser Betrachter dieses unglaublichen Paradieses, das ruhig und einsam mit mir zieht, während ich den breiten Erdweg entlanggehe. Ich bin kein Poet, und deshalb auch nicht annähernd in der Lage, euch Außenstehenden diese Bildgewalt nahe zu bringen. Ihr könntet sie auch nicht verstehen, geschweige denn nachempfinden. Das hier ist einzig und alleine mein Land und ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Zufluchtsstätte. Ich kenne dieses Paradiesische Fleckchen Erde noch gar nicht so lange. Aber egal, wo mich mein Weg auch hinträgt, ich kehre immer wieder an diesen Ort zurück. Nur die Musik ist mein ständiger Begleiter. Sie ist es, die alles hier in Bewegung bringt. Tänzelnde Blätter im Wind, ein Meer aus sich biegenden Gräsern. Sie ist es, die meinen Geist beflügelt und auf Wanderschaft gehen lässt. Dann bin ich da. Ich habe den langen Spaziergang genossen und bin genau zur richtigen Zeit am Zielpunkt meiner Reise. Auf den breiten Steintreppen wirbelt einiges Laub verspielt umher. Zwei hohe Säulen umrahmen das Tor zum Atrium. Ich verweile noch kurz auf dem Plateau und genieße das atemberaubende Panorama das neben mir liegt. Wie schön diese Welt sein kann, wenn alles im Einklang miteinander steht. Ich beschließe zu gehen, denn lange kann ich nicht bleiben. Es ist nicht nötig das Tor zu öffnen, der Wind erledigt das für mich. Schon beim Eintreten spüre ich die Präsenz des Anderen. Seine kühlen, stahlblauen Augen lasten schwer auf mir. Sie scheinen direkt in mein unvollkommendes Herz zu blicken. Er steht vor dem großen Marmorbrunnen und schaut mich strafend an. Seine Erscheinung ist unbeschreiblich schön und einschüchternd zugleich. Pechschwarzes, mittellanges Haar steht im Kontrast zu seinen blauen Augen, die so tief zu sein scheinen das in ihnen jedwede Antwort zu finden wäre. Eine Robe umhüllt seinen athletischen Körper, deren dunkle Farbe mühelos mit dem tiefen Schwarz seiner Haare konkurrieren kann. Ich erinnere mich an Tage, da war er mir komplett anders erschienen. Da strahlten seine Augen Wärme und Zuversicht aus und er war weniger bedrohlich gekleidet. Doch sein Charakter blieb immer der selbe. Er ließ sich nicht von Emotionen leiten. Sein Geist war allwissend und lastete schwer auf mir, der ich doch keine Chance hatte seinem Einfluss zu entgehen. Er konnte alles sein was ich nicht war und war zugleich alles was ich bin. Obwohl ich sein Vater bin, brauche ich ihn doch wesentlich mehr. Ohne mich kann er zwar nicht existieren, aber sein Wissen und sein Intellekt überflügelten mich bei weitem. Er war die Antwort auf alle Fragen. Aber freiwillig gewährte er mir keine Auskunft. Es war stets an mir, die Antworten selber zu formulieren. Er ist es bloß, der mir die Antwort auf meine Antworten gibt. Obwohl ich zu ihm gehöre, kann ich dennoch nicht bei ihm sein. Noch nicht. Denn wenn der Tag kommt, an dem wir endlich zusammen von hier weggehen können, bin ich genauso erleuchtet wie er. Dann herrsche ich über diese Welt und verstehe einfach alles.
Ich knie nieder und lausche seiner Stimme. Seine Wortwahl ist wahnsinnig komplex und frei von Zweifeln. Er verachtet mich zwar, aber seine Stimme ist sanft und gutmütig. Damit schafft er es jedes Mal, mein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Die schwankenden Eckpfeiler von Gut und Böse positionieren sich wieder in einer beruhigenden Neutralität. Ich stehe auf und schaue ihn eine Weile lang an. Er macht das Gleiche bei mir. Währenddessen höre ich nur das sanfte Plätschern des Wassers. Beide lächeln wir uns an, dann drehe ich mich um und verlasse den Tempel. Eine Verabschiedung ist nicht von Nöten, schließlich werden wir uns immer wieder begegnen. Als ich abermals auf dem Plateau stehe, sehe ich über den Bergen die Veränderung voran schreiten. Die Welt löst sich auf. Schafft Platz für eine andere. Ich kann es mir nicht nehmen einen kurzen Seufzer gen Himmel zu schicken. Ich werde ihn später wieder besuchen gehen, aber mitnehmen kann ich ihn nicht, auch wenn ich es noch so sehr versuche. Eines Tages aber werde ich es schaffen, nämlich genau an dem Tag, an dem unsere beiden Welten zu einer verschmelzen werden...