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Werde, der du bist

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08.07.2002
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Werde, der du bist

Philosophie ist das Selbstbekenntnis ihres Urhebers (Nietzsche)

Die glühende Abendsonne wirft ihren Bordeauxroten Schleier über das Land und reflektiert sich im riesigen Bergsee, dessen Wasseroberfläche tausender funkelnder Sterne gleichkommt. Es ist ruhig hier. Vereinzelte Windböen raunen durch die hohen Tannenwipfel und streicheln das Wasser. Ich bin wortloser Betrachter dieses unglaublichen Paradieses, das ruhig und einsam mit mir zieht, während ich den breiten Erdweg entlanggehe. Ich bin kein Poet, und deshalb auch nicht annähernd in der Lage, euch Außenstehenden diese Bildgewalt nahe zu bringen. Ihr könntet sie auch nicht verstehen, geschweige denn nachempfinden. Das hier ist einzig und alleine mein Land und ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Zufluchtsstätte. Ich kenne dieses Paradiesische Fleckchen Erde noch gar nicht so lange. Aber egal, wo mich mein Weg auch hinträgt, ich kehre immer wieder an diesen Ort zurück. Nur die Musik ist mein ständiger Begleiter. Sie ist es, die alles hier in Bewegung bringt. Tänzelnde Blätter im Wind, ein Meer aus sich biegenden Gräsern. Sie ist es, die meinen Geist beflügelt und auf Wanderschaft gehen lässt. Dann bin ich da. Ich habe den langen Spaziergang genossen und bin genau zur richtigen Zeit am Zielpunkt meiner Reise. Auf den breiten Steintreppen wirbelt einiges Laub verspielt umher. Zwei hohe Säulen umrahmen das Tor zum Atrium. Ich verweile noch kurz auf dem Plateau und genieße das atemberaubende Panorama das neben mir liegt. Wie schön diese Welt sein kann, wenn alles im Einklang miteinander steht. Ich beschließe zu gehen, denn lange kann ich nicht bleiben. Es ist nicht nötig das Tor zu öffnen, der Wind erledigt das für mich. Schon beim Eintreten spüre ich die Präsenz des Anderen. Seine kühlen, stahlblauen Augen lasten schwer auf mir. Sie scheinen direkt in mein unvollkommendes Herz zu blicken. Er steht vor dem großen Marmorbrunnen und schaut mich strafend an. Seine Erscheinung ist unbeschreiblich schön und einschüchternd zugleich. Pechschwarzes, mittellanges Haar steht im Kontrast zu seinen blauen Augen, die so tief zu sein scheinen das in ihnen jedwede Antwort zu finden wäre. Eine Robe umhüllt seinen athletischen Körper, deren dunkle Farbe mühelos mit dem tiefen Schwarz seiner Haare konkurrieren kann. Ich erinnere mich an Tage, da war er mir komplett anders erschienen. Da strahlten seine Augen Wärme und Zuversicht aus und er war weniger bedrohlich gekleidet. Doch sein Charakter blieb immer der selbe. Er ließ sich nicht von Emotionen leiten. Sein Geist war allwissend und lastete schwer auf mir, der ich doch keine Chance hatte seinem Einfluss zu entgehen. Er konnte alles sein was ich nicht war und war zugleich alles was ich bin. Obwohl ich sein Vater bin, brauche ich ihn doch wesentlich mehr. Ohne mich kann er zwar nicht existieren, aber sein Wissen und sein Intellekt überflügelten mich bei weitem. Er war die Antwort auf alle Fragen. Aber freiwillig gewährte er mir keine Auskunft. Es war stets an mir, die Antworten selber zu formulieren. Er ist es bloß, der mir die Antwort auf meine Antworten gibt. Obwohl ich zu ihm gehöre, kann ich dennoch nicht bei ihm sein. Noch nicht. Denn wenn der Tag kommt, an dem wir endlich zusammen von hier weggehen können, bin ich genauso erleuchtet wie er. Dann herrsche ich über diese Welt und verstehe einfach alles.
Ich knie nieder und lausche seiner Stimme. Seine Wortwahl ist wahnsinnig komplex und frei von Zweifeln. Er verachtet mich zwar, aber seine Stimme ist sanft und gutmütig. Damit schafft er es jedes Mal, mein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Die schwankenden Eckpfeiler von Gut und Böse positionieren sich wieder in einer beruhigenden Neutralität. Ich stehe auf und schaue ihn eine Weile lang an. Er macht das Gleiche bei mir. Währenddessen höre ich nur das sanfte Plätschern des Wassers. Beide lächeln wir uns an, dann drehe ich mich um und verlasse den Tempel. Eine Verabschiedung ist nicht von Nöten, schließlich werden wir uns immer wieder begegnen. Als ich abermals auf dem Plateau stehe, sehe ich über den Bergen die Veränderung voran schreiten. Die Welt löst sich auf. Schafft Platz für eine andere. Ich kann es mir nicht nehmen einen kurzen Seufzer gen Himmel zu schicken. Ich werde ihn später wieder besuchen gehen, aber mitnehmen kann ich ihn nicht, auch wenn ich es noch so sehr versuche. Eines Tages aber werde ich es schaffen, nämlich genau an dem Tag, an dem unsere beiden Welten zu einer verschmelzen werden...

 

Hallo anima,

deine Geschichte hat mich beeindruckt. Ich konnte ihr gut folgen und habe einige Parallelen zu Menschen gesehen, die mir nahe stehen.
Wissen kann entfremden, das stimmt. Der Verstand ist dazu da, alles mit Abstand zu betrachten, aus der Ferne. Keine Emotionen sollen ihm zu nahe kommen. Eigentlich ist er wie ein unantastbares Wesen in seiner Schlüssigkeit, nicht zu vergleichen zu des Windes Sinnlichkeit, seiner melodischen, durch alle Teile der Natur ziehenden Berührung.
Eine solche Disparität zwischen den Weltsichten kann, wie du es beschreibst, auch schmerzlich sein.
Ich weiß zwar nicht, wie sich ein Vater fühlt, der einen hochbegabten Sohn hat, der wiederum nicht viel mit seinem Vater zu tun haben will. Aber ich spüre es.
Das ist dir sicherlich gelungen: mich nachdenklich zu machen und etwas von einer Distanz spüren zu lassen, die mir nicht fremd ist.

Ciao Jan

 

Hi Jan,

ich danke dir für diese schöne Interpretationsmöglichkeit und entschuldige mich kurz, weil ich erst jetzt Zeit finde darauf zu antworten!

Ich wurde zu dieser kleinen Geschichte inspiriert, als ich gerade ein Referat über Platon, Sokrates und Aristoteles halten musste.
Platon unterschied die materielle Welt (die, in der wir leben) von der Geisterwelt (Ideenwelt). In dieser existierte jegliches Wissen objektiv, wir mussten es nur zuerst finden.
Der Protagonist der Geschichte dringt also in die Geisterwelt ein (sein persönliches Paradies) und findet darin sein allwissendes, erleuchtetes Alter-Ego. In diesem "Anderen" ist jegliches Wissen über die Welt vereint. Mit ihm eins zu werden (also ihn mitzunehmen) würde für den Protagonisten die höchste Stufe des Wissens darstellen. Am Ende bröckelt sein Gedankengebilde langsam zusammen und er kehrt zurück in unsere Realität (in die materielle Welt).

So war es eigentlich von mir gedacht, aber ich finde deine mögliche Erklärung auch sehr schlüssig und gut! Die Kernaussage zeigt ja auch auffällige Parallelen.

besten Gruß
*Christian*

 

Sehr schön! Du schwelgst ähnlich wie F. Nietzsche selbst.

Er fragte nach dem Geräusch eines umfallenden Baumes in einem menschenleeren Wald.

Gruß

Hexenmeister

 

Hallo ANiMA!

Alles Gute zum Geburtstag! :anstoss: :)

Irgendwie kann ich mit dem Sinn Deiner Geschichte nicht sehr viel anfangen, was aber vermutlich daran liegt, daß ich nicht an ein »allwissendes, erleuchtetes Alter-Ego« glaube. Ich sehe alles eher als eine kontinuierliche Entwicklung, bei der es keinen Punkt, keine »höchste Stufe« gibt, ab der man allwissend, erleuchtet oder vielleicht ein fertiger Mensch ist.
So kommt es mir vor, als fühlte sich Dein Protagonist in einer Warteposition, die es eigentlich nicht gibt…

Die bildreiche Verpackung gefällt mir hingegen sehr gut, das beginnt gleich im ersten Satz, in dem Du eine sehr ruhige, friedliche Stimmung erzeugst.
Ganz klar ist mir bei der Stelle mit der Musik nicht, ob Du die natürliche Musik, also die Geräusche der Natur meinst, oder ob Du meinst, daß die Blätter zu künstlicher Musik tanzen. – Dadurch, daß die Musik alles in Bewegung bringt, glaube ich fast, Du meinst künstliche Musik. Wenn Du aber die natürliche Musik meinst, würde ich das deutlicher machen, z.B. ein rauschendes Meer aus sich biegenden Gräsern, usw.

Zwei hohe Säulen umrahmen das Tor zum Atrium.

Es ist nicht nötig das Tor zu öffnen, der Wind erledigt das für mich.
Daß der Wind das Tor öffnet, zerstört in meinen Augen die Atmosphäre, denn es scheint sich um ein großes, vermutlich auch schweres Tor zu handeln, wenn es von zwei hohen Säulen umrahmt ist, und da müßte doch der Wind schon ganz heftig blasen, vielmehr stürmen, daß er dieses Tor aufdrückt. So ein Wind paßt aber irgendwie nicht so ganz ins Bild, finde ich.

Was mir nicht gefällt, ist die Anrede des Lesers, also diese beiden Sätze:
»Ich bin kein Poet, und deshalb auch nicht annähernd in der Lage, euch Außenstehenden diese Bildgewalt nahe zu bringen. Ihr könntet sie auch nicht verstehen, geschweige denn nachempfinden.«
Besonders den zweiten finde ich ziemlich ööhmnaja, sagst Du doch hier dem Leser mehr oder weniger daß er dumm ist…
Wie wäre es, wenn Du einfach nur sowas schreibst wie: Wäre ich ein Poet, ich müsste mich hier niederlassen, um diese Bildgewalt in Gedichte zu formen.

Und dann sind da noch ein paar Kleinigkeiten:

»ihren Bordeauxroten Schleier über das Land und reflektiert sich im riesigen Bergsee, dessen Wasseroberfläche tausender funkelnder Sterne gleichkommt.«
bordeauxroten … tausenden funkelnden Sternen

»Aber egal, wo mich mein Weg auch hinträgt, ich kehre immer wieder an diesen Ort zurück. Nur die Musik«
– der Weg trägt einen eigentlich nicht – soviel ich weiß, heißt es entweder „wo mein Weg mich auch hinführt“ oder „wo der Wind mich auch hinträgt“ – Du scheinst beides zu vermischen ;)

»Es ist nicht nötig das Tor zu öffnen«
– nötig, das

»die so tief zu sein scheinen das in ihnen jedwede Antwort«
– scheinen, dass in ihnen

»deren dunkle Farbe mühelos mit dem tiefen Schwarz seiner Haare konkurrieren kann.«
– »dunkle Farbe«? – vielleicht „dunkles Rot“, „dunkles Violett“, „dunkles Blau“?

»der ich doch keine Chance hatte seinem Einfluss zu entgehen.«
– hatte, seinem

»Er konnte alles sein was ich nicht war«
– sein, was

»aber sein Wissen und sein Intellekt überflügelten mich bei weitem. Er war die Antwort auf alle Fragen. Aber freiwillig …«
– Wiederholung von „aber“

»Er ist es bloß, der mir die Antwort auf meine Antworten gibt.«
– die Antworten auf meine Fragen

»Obwohl ich zu ihm gehöre, kann ich dennoch nicht bei ihm sein. Noch nicht. Denn wenn …«
– „dennoch“ kannst Du streichen, da es schon durch das „Obwohl“ gesagt ist, außerdem wiederholt sich sonst „denn-„

»bin ich genauso erleuchtet wie er. Dann herrsche ich über diese Welt und verstehe einfach alles.«
– würde sagen: werde ich genauso erleuchtet sein wie er. Dann werde ich über diese Welt herrschen und einfach alles verstehen.

»Ich knie nieder und lausche seiner Stimme.«
– kniee

»Beide lächeln wir uns an, dann drehe ich mich um …«
– es würde reichen: „Wir lächeln uns an“
– zwischen „uns“ und „an“ ist eine Leertaste zu viel


Wie gesagt: Die bildreiche Beschreibung hat mir sehr gut gefallen, die Aussage selbst eher weniger, wobei das ja eben einfach an (m)einer anderen Sichtweise liegt. ;)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hi Susi!
Danke für die Glückwünsche und deine vielen Verbesserungsvorschläge! :)

Mhhh, ich wollte auch den Prozess der Weiterentwicklung beschreiben. Das gesamte Wissen um diese Welt steckt tief in uns drin. Desswegen glaube ich auch, dass Worte wie "Erleuchtung" schon gerechtfertigt sind. Ich weiss natürlich, dass der Mensch in der Form nie vollkommen sein wird. Laut Bibel gab es aber durch Adam und Eva anfangs zwei gänzlich perfekte Menschen, die erst durch die Sünde diese Unvollkommenheit einbüßen mussten.

Ist ja aber auch nicht so wild das du anderer Meinung bist :)
Freut mich aber, wieder von dir gehört zu haben! Hoffe das ist in Zukunft noch öfters der Fall :)

besten Gruß
*Christian*

 

Hey Tagträumer,

ich muss ganz ehrlich zugeben, dass die Geschichte auch für mich selber ein wenig zu verwirrend ist. Wollte mal etwas Neues ausprobieren, etwas Komplexes.

Aber ich bin nach wie vor für Spannungsaufbau, Charakterprofile und Atmosphäre. Dazu eine gehörige Portion Tiefgang (abgesehen mal von meinen diversen Horror-Storys, hehe). Das machen für mich die wahren Geschichten aus.
Das hier ist eher ein Experiment und keineswegs mit meinen anderen Werken zu vergleichen!

Dank dir für die ehrliche Kritik und dafür, dass du meine Formulierungen gelobt hast (Das freut nämlich!)

besten Gruß
*Chris*

 

Hey ANiMA,

da will ich doch mal an eine alte Geschichte von dir ran und stelle fest, du hast ja Susis Korrekturen noch gar nicht berücksichtigt. ;)
Okay, wenn also was doppelt ist, liegt es daran, dass ich nicht erst die ganze Kritik durchlesen will, aber ich war halt sicher, der bordeauxrote Bergsee, muss ihr aufgefallen sein. Ist er auch. ;)
Inhaltlich bin ich nicht sicher, ob ich dir folgen konnte oder überhaupt musste. Vielleicht hat der Text auch einen eigenen Weg entwickelt, auf den er mich genommen hat.
Ich lese von einer tiefen und schmerzhaften Spaltung, von einem Vater, den ich nicht biologisch sondern geistig verstehe als Vater des eigenen Seins. Und in diesem Vater dissoziieren die Teile, können sich zwar treffen, sind aber getrennt, finden sich zwar, schaffen aber keine Verbindung.
Die Welt der Erfahrung holt die Welt des Wissens nicht ein. Beide Welten können nicht von einander profitieren und erst in der Verschmelzung können sie zu dem werden, was sie sind.
Das liest sich traurig, denn selbst wenn die Sinnlichkeit dem Geist die Hand gibt, kann der Geist sie nicht spüren. Wie können sie sich also verbinden? Erst in er Entmaterialisierung des Seins? Im Tod?

Die glühende Abendsonne wirft ihren Bordeauxroten Schleier über das Land und reflektiert sich im riesigen Bergsee
- bordeauxroten (klein)
- der Bersee reflektiert die Sonne, die aber spiegelt sich im Bergsee.
Ich kenne dieses Paradiesische Fleckchen Erde noch gar nicht so lange.
paradiesische
die so tief zu sein scheinen das in ihnen jedwede Antwort zu finden wäre.
ich würde dir hier vorschlagen "die tief versprechen zu scheinen, dass" - Irgendwie liest es sich sonst komisch für mich (scheinen, dass oder daß) muss es aber auf alle Fälle sein

Lieben Gruß, sim

 

Mit weniger Adjektiven wäre der Text noch besser. Überflüssige Informationen sind, ...nun ja... überflüssig.

Eine Kleinigkeit: Es gibt keine riesigen Bergseen. Ich weiß nicht, ob man zum Beispiel den Chiemsee noch als Bergsee bezeichnen kann. Er liegt im Alpenvorland. Bergseen haben nicht viel Platz, weil überall Berge sind. :)

Falls Du Lust hast: Sieh Dir mal an, was Peter Altenberg über die Salzkammergutseen geschrieben hat.

Wenn ich den Text richtig verstanden habe, handelt er von der Sehnsucht nach Verschmelzung. Das Ich kann sich auflösen, wenn aus den beiden etwas Neues wird. Der Andere will das aber nicht, was die Sehnsucht nur stärker macht. Ist es das?

Freundliche Grüße,

Fritz

 

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