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Wie beim Russisch Roulette
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Wie beim Russisch Roulette
Als Teresa die Küche wischte, knarzte plötzlich draußen im Flur das Parkett. Sie zog die Tür einen Spalt weit auf und spähte um die Ecke: Ein fremder Mann stand vor der Wandgarderobe. Er trug einen monströsen Kopfhörer über einem Jeanshut und ächzte. Ein Arm steckte, auf den Rücken gedreht, noch in seinem Trenchcoat. Mit dem anderen Arm ruderte er ihn der Luft. Unter der Achsel zeichnete sich ein dunkler Fleck ab. Es gelang ihm, den Mantel loszuwerden; zur Seite wankend hängte er ihn an einen Haken und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken.
Er nahm den Kopfhörer von den Ohren und ließ den rhythmischen Bass darin durch den Gang stampfen. Befreit richtete der Jeanshut seine ramponierte Krempe auf und landete auf dem Haken. Der Mann wandte sich um, und stockte, als er zu Teresa hersah.
"Nicht erschrecke", sagte Teresa, schob sich durch den Türspalt und ging zu ihm. Seine schon leicht grau gewordenen Brauen waren über den Augenschlitzen eng zusammengerückt. Es sah aus, als müsste er eine schwere Rechenaufgabe lösen.
"Ich bin Teresa", sagte sie und streckte ihre Hand aus.
"Karl Schober", stellte er sich vor, ohne ihre Hand zu beachten. Er schwieg und sah mit gesenktem Kopf die Wand an.
"Küche ist fertig geputzt, wenn Sie wollen gehen hinein", sagte Teresa. Keine Antwort. Sie standen sich gegenüber. Teresa sog den leicht alkoholischen Duft des Reinigungsmittels aus der Küche ein und sah Schobers mächtigen Schädel an. Sie wartete noch einen Moment, aber er sagte nichts mehr. Schließlich machte sie kehrt, holte Eimer, Lumpen und Schrubber und schleppte das Zeug an ihm vorbei in das Zimmer links hinten, am Ende des Ganges.
Der Raum lag im Dunklen und es roch nach frischer Farbe. Der Lichtschalter funktionierte immer noch nicht, deshalb tapste sie auf einen herumliegenden Fußschalter. Sie erschrak, als plötzlich ein gleißendes Licht den Raum überflutete. Die plötzliche Grelle blendete sie. Sie konnte kaum etwas erkennen in diesem schmerzhaften Weiß, das aus der Mitte des Raumes kam. Nur allmählich tauchten daraus links und rechts die kahlen Wände auf, die beiden Einbauschränke, die grauen Innenseiten der Rollladen, ein Klappstuhl mit Lappen, Farbtuben, Pinseln. Die Fassung an der Decke hing einsam und hohl herunter. Sonst war das Zimmer leer wie immer.
Als sie den nassen Lappen über den Bürstenkopf des Schrubbers legte, fiel ihr Blick wieder in die Mitte des Raumes, wo sie jetzt ein weißes Rechteck sah. Es war ein längliches Gemälde, das hochkant auf einer Holzstaffelei ruhte. Es bestand aus nichts als zwei weißen Quadraten, die übereinander gesetzt waren. Das grelle Licht kam von einem großen Theaterstrahler, der einen Meter vor Teresa stand und direkt auf das Bild gerichtet war.
Teresa blinzelte zur Staffelei hin, da hörte sie das Parkett knarzen, und Schober stand neben ihr. Sie sah ihn an, seinen breiten Kopf, die langen, leicht gräulichen Haare, den Vollbart. Aber er sah kalt an ihr vorbei, zu dem Bild hin.
"Sie gemalt diese Bild?", fragte sie ihn.
"Ja", sagte er, "bitte passen Sie drauf auf, es ist noch nicht trocken."
"Okay. Meine Freundin ist auch eine Künstler."
"Ja. Aha."
"Meine Freundin male Landschafte, schöne, grüne Täler, aber wie schöne!"
"So. Grüne Täler."
Schober gab einen knarrenden Ton von sich, der Teresa an das Parkett erinnerte.
Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Das Parkett unter ihr knarzte. Es knarzte praktisch immer. Wenn man darüber ging, knarzte es bei jedem Schritt, aber auch wenn man nur ruhig dastand, knarzte es, von den unmerklichen Gewichtsverlagerungen, man konnte es nicht vermeiden. Manchmal dachte Teresa, das Parkett knarzte auch, wenn man nur plötzlich an etwas anderes dachte, wenn man die Denkrichtung änderte. Sie sah zu Boden. Das haselnussbraune, an einigen Stellen gräulich abgestoßene Holz war eigentlich gut, viel besser als das neue Fichtenparkett in der Küche, wo die Gegend unter dem Tisch schon jetzt einer Kraterlandschaft glich. Das Parkett in den übrigen Räumen war hart und gut, immun gegen Stöckelschuhe, aber es war sechzig Jahre alt, wie das Haus selbst. Jetzt war ihm jede Belastung zu viel. Daher das Ächzen – das verstand Teresa. Sie hob den Kopf und nahm die Unterhaltung wieder auf.
"Ist Bild fertig schon?", fragte sie.
Schober drehte sich ein wenig zu ihr hin.
"Fertig. Ja. Ich weiß nicht. Glauben Sie denn, dass es fertig ist? Was sehen Sie denn?"
"Weiße Farbe, weiße Farbe nur."
Schober sah sie an und wartete. Sie sah genauer hin.
"Naja, obere Quadrat bisschen mit Rot, untere bisschen mit Blau."
"Und? Gefällt es Ihnen?"
"Ich verstehe nichts, gar nichts", sagte Teresa zog die Schultern hoch und schüttelte ihre Hände. "Was soll das sein?"
"Ich nenne es 'Winterlicht'."
"Winterlich?"
"Winterlicht. Licht - th - th. Licht, wie von dem Strahler hier."
"Ah, Licht. Winterlicht, ja." Teresa versank für einen Moment in dem Bild. Das Parkett knarzte, dann verstand sie: Das rötliche Weiß oben war eine Andeutung des Himmels, das Bläuliche darunter eine Schneefläche oder ein gefrorener See.
Schober nickte, ohne dass sie etwas gesagt hätte.
"Und jetzt, Sie male noch Mensch mit dicke Mütze und rote, rote - wie heißt das?"
"Die Menschen", sagte Schober, "die Menschen sieht man nicht. Es liegt eine Art Nebel darüber, den würde ich gern noch malen. Ich weiß aber nicht wie."
"Nebel?"
"Ja, als die Lawine unten war, hat sich ganz langsam ein Nebel darüber gelegt, ein Schneestaub. Das hat alles verdeckt, verstehen Sie."
"Ach so, eine Lawine?", sagte Teresa und spürte einen Stich in der Gegend der Lendenwirbel.
"Ja, eine Lawine."
"Entschuldigen Sie, Herr Schober, ich muss mich hinsetze. Immer wenn ich stehe ohne bewegen, meine Rücken tut weh."
Teresa ließ Schober allein, ging in die Küche und setzte sich ächzend an den Resopaltisch. Sie streckte sich, versuchte möglichst gerade zu sitzen, dann wurde es meistens besser. Keine zwei Minuten, und Schober kam nach. Er balancierte ein Glas mit graugrünem Wasser und zwei Pinseln vor sich her, wandte Teresa den schmalen Rücken zu, um das Glas ins Spülbecken zu leeren und es mit klarem Wasser wieder aufzufüllen. Ein riesiger Schädel, schoss es Teresa durch den Kopf, viel zu groß für den Rest.
"Der Nebel ist immer um mich", erklärte Schober, wärend das Wasser rauschte.
"Dann Nebel hat Bedeutung für Sie", befand Teresa und zog eine Flasche aus ihrem Beutel.
"Sie möchte Baileys, bitte?"
Schober wandte sich um. "Nein danke", sagte er.
"Ich störe?"
"Nein nein, bleiben Sie nur."
Dann holte Schober doch zwei Gläser aus dem Küchenschrank und stellte sie hin, damit Teresa einschenken konnte. Er setzte sich ihr gegenüber und sagte: "Rot – Rot ist Leidenschaft, Blau ist kalt, grün sind die Pflanzen, das Leben, aber Weiß bedeutet eigentlich gar nichts. Wenn ich im Nebel stehe ..."
Seine Augen lösten sich aus Teresas Blick und schweiften zur Wand ab.
"Ja, interessant, diese Nebel", meinte Teresa, als er nichts mehr sagte.
Eine Weile schwiegen sie. Teresa überlegte, wie sie Schober zum Sprechen bringen konnte. Sie wollte ihn nicht verletzen, nur herausbekommen, was hinter all dem steckte.
"Diese weiße Bild, diese Lawine. Herr Schober, nicht böse sein, aber bitte: Was bedeutet das?"
Schobers Oberkörper wankte zur Seite, als hätte Teresa ihm einen Stoß versetzt, dann schwang er wieder zurück, und Schober sagte leise: "Mein Heimatdorf in Tirol ist 1999 von einer Lawine getroffen worden."
Er sah auf seine Hände und rieb an seinem Mittelfinger herum. An dem runzligen Finger daneben steckte ein goldener Ring.
"Entschuldigen Sie, dass ich gefragt. Ihre Frau ist gestorben bei Lawine?"
"Nein, unsere Nachbarn", sagte Schober, die Hände falteten sich, massierte einander, die Fingernägel der einen drückten sich in den Rücken der anderen. "Zwei Frauen und ein Mädchen, in der Küche", rang er sich ab, "im Wohnzimmer brannte noch die Kerze."
Teresa schluckte und war einen Augenblick lang still.
"Aber 1999? Vor fünf Jahre? Warum immer noch denken?"
"Meistens ist es um mich wie in der Waschküche", sagte Schober. "Aber manchmal wird der Dunst dünner, und dann erkenne ich etwas. Zuerst ist es eine nur dunkle Stelle, ein dunkles Loch, so groß wie mein Kopf: Ich sehe direkt in dieses Loch hinein, direkt in dieses Schwarze. Dann erkenne ich ein silbrig schimmerndes Rohr, und das Loch ist das Innere dieses Rohres, und dann macht es Klick – und ich erschrecke furchtbar."
Teresa runzelte die Stirn.
"Ist das eine Alptraum?", fragte sie.
"Es ist wie beim Russisch Roulette", fuhr er fort. "Jede Sekunde macht es Klick, das Ticken der Uhr – oder das Geräusch des Abzugs. Vielleicht hören Sie das Klicken nicht, aber bei Ihnen ist es dasselbe, auch für Sie gibt es einen Revolver."