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Wie die Zeit vergeht …
“Jetzt sind es schon fünf Monate. Wie die Zeit vergeht! Ich fühle, wie du wächst, wie du meinen Körper veränderst. Manchmal sehe ich dich vor mir: deine Händchen, die Arme, wie du strampelst, dein zartes Gesicht ... Du hast die ehrlichen, schwarzen Augen deines Vaters. Die Pendlerin sagt, du bist ein Junge, und ich glaube, sie hat recht. Ich spüre deine Kraft in mir. Gestern habe ich von dir geträumt. Du warst schon groß, etwa zehn. Wir hatten ein Haus, und ich saβ auf der Veranda und habe dir beim Fußball spielen zugeschaut und mich gewundert, wie schnell du gewachsen bist. Die Zeit vergeht … Du wirst ein schöner, starker Mann werden, wie dein Vater. Er hat sich ja so gefreut, als er von dir erfahren hat, da hat er mich umarmt und ganz fest an sich gedrückt. Es ist wahr, wir haben dir nicht viel zu bieten, nur das Kämmerchen bei meinen Eltern. Doch dein Vater arbeitet hart. Seit es dich gibt, ist er kaum noch zu Hause. Jetzt ist er schon acht Tage weg, aber das Boot wird bald kommen. Morgen oder übermorgen ist er sicher zu Hause. Die Holzfirma hat viel zu tun, und sie bezahlen nicht schlecht. Bald werden wir wirklich ein Häuschen bauen können, nur für uns drei. Schau, was ich für dich gestrickt habe. Ein Mützchen, damit dein kleiner Kopf nicht unter der Sonne leidet. Die Bettdecken sind auch schon fertig, und Tante Gilda hat dir Windeln genäht. Du wirst sehen, alles wird gut werden. Er kommt bald nach Hause, und alles wird gut …”
Der hiesigen Gewohnheit entsprechend war ich eine halbe Stunde später als verabredet mit einer Kiste Bier erschienen. Marisa hatte den Tisch gedeckt. Da standen Reis, Bohnen und Farinha, das trockene Mandiokmehl. Es schmeckt wie Brösel und bleibt zwischen den Zähnen stecken, doch für die Bewohner des Amazonas gibt es keine Mahlzeit ohne Farinha. Fernando brachte das Fleisch vom Grill. Wie üblich hatte er Unmengen davon zubereitet. Marisa rief die Kinder. Antônio war acht, Susan fünf.
“Wascht euch die Hände!”
Susan lief sofort ins Haus, Antônio gehorchte nur trotzig.
“Komm, Tante Elsa! Das Essen ist fertig.”
Ich hatte die Tante zwar beim Hereinkommen begrüßt und wurde ihr vorgestellt, dann vergaß ich aber fast, dass sie da war. Sie saß so still in ihrem Schaukelstuhl in der Ecke. Jetzt blickte sie auf, legte ihr Strickzeug zur Seite und strich mit der Hand ein paar Mal über ihren Bauch. Dann erhob sie sich gebrechlich und kam zu Tisch.
Es schmeckte ausgezeichnet. Fernando hatte Caipirinha serviert und wir plauderten. Marisa und Fernando wollten mehr über die österreichische Küche erfahren. Ich erzählte ihnen von Mehlspeisen und Knödeln.
Die Tante beteiligte sich nicht am Gespräch, blickte tief in ihr Teller hinein, und verschlang löffelweise Farinha. Ich wunderte mich wieder einmal, wie die Leute von hier das Zeug so trocken runterschlucken konnten.
Erst als die Frau verstand, dass ich von auswärts kam, fragte sie mich:
“Sind Sie mit dem Boot gekommen?”
Auf meine Antwort hin, ich sei mit dem Flugzeug aus Manaus gekommen, wurde ihr Blick wieder leer und fixierte sich auf das Häufchen Reis vor ihr. Sie streichelte unentwegt ihren Bauch und lächelte dabei.
Ich erzählte Antônio und Susan vom Schnee, ein Thema, das Kindern in den Tropen stets die Augen weitet. Es fiel mir nicht leicht, ihnen Rodeln oder Schifahren zu schildern. Antônio war begeistert von der Idee, eine Schneeballschlacht zu veranstalten. Für Susan zeichnete ich einen Schneemann.
Da wurde Tante Elsa wieder gegenwärtig und hakte ein:
“Haben Sie Kinder?”
Ich verneinte.
Sie musterte mich von oben bis unten mit einem bedauernden Blick und fragte mit einer Direktheit, die hierzulande nicht üblich ist, nach meinem Alter. Ich antwortete ebenso direkt und wollte schon die übliche, kulturell akzeptable Erklärung zum Besten geben, wurde aber von Antônio unterbrochen:
“Sag, wie alt du bist, Tante Elsa!”
Marisa schaute ihren Sohn verärgert an.
“Lass das doch, Antônio!”
Doch Tante Elsa schien die Frage nicht zu stören, sie antwortete ohne zu zögern:
“Achtzehn.”
Antônio lachte unter dem vorwurfsvollen Blick seiner Eltern.
Als wir mit dem Essen fertig waren, brannte die Sonne schon unbarmherzig auf die Veranda herunter, also machten wir es uns auf der Rückseite des Hauses gemütlich, wo es noch schattig war. Die Kinder liefen auf die Straße zum Spielen, und die Tante blieb bei ihrem Strickzeug. Fernando mixte noch ein paar frische Caipirinhas und erzählte mir dabei Tante Elsas Geschichte:
“Sie ist die ältere Schwester meiner Mutter. Hat bereits in ihrer Jugend den Verstand verloren. Seit meine Mutter starb, wohnt sie bei uns. Es muss schon an die vierzig Jahre her sein, dass sie so geworden ist. Sie war frisch verheiratet, als es passierte - und sie war schwanger. Ihr Mann arbeitete als Holzfäller in der Nähe von Tapauá und wurde dabei von einem Baum erschlagen. Als sie die Nachricht erfuhr, verlor sie das Kind. Da blieb ihr Leben stehen. Kein Arzt oder Psychologe hat es je fertiggebracht, sie in die Gegenwart zurückzuholen. Manchmal denke ich, ihr geht es besser, da wo sie ist. Meistens schaut sie direkt glücklich aus. Nur wenn meine Freunde vorbeikommen, Männer aus der Stadt, wird sie aufgeregt und fragt andauernd, wann das Boot aus Tapauá endlich kommt.”
Beim Heimgehen verabschiedete ich mich von Tante Elsa und legte meinen Arm um ihre Schulter. Sie lächelte mich an. Mein Blick fiel auf die himmelblaue Babymütze, die sie schon fast fertiggestrickt hatte.