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Wie eine ansteckende Kinderkrankheit

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13.02.2008
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Wie eine ansteckende Kinderkrankheit

„Sag’ nicht, du hast was Besseres vor!“, sagt Marie, worauf ich mich in meiner Wohnung nach Besserem umsehe. Und natürlich habe ich Dinge vor. Schon lange. Ich will meinen Esstisch auf dem Hof weiß lackieren, damit die Küche heller wirkt – trotz Nordseite und Glasbausteinfenster. Das hat Marie schließlich selbst immer wieder angemahnt. Und ich habe mir auch schon alles vorgestellt: wie ich den Tisch durch’s Treppenhaus schleppe, ohne wie beim Einzug tiefe Furchen in den gelben Strukturputz zu ziehen; wie ich den Farbtopf auf die grüne Mülltonne stelle, weil der Deckel der grauen zerbeult ist und wie ich zum Schluss mit der Schuhspitze Dreck über die weißen Tropfen auf den Steinplatten schubse und mir die Schweißperlen der Produktivität von der Stirn wische.
Ich will außerdem mit einem Trichter Wodka in eine Wassermelone füllen. Das war natürlich nicht Maries Idee.
Ich könnte also mit Fug behaupten: „Doch ja, leider, habe total wichtige und diverse Dinge vor.“
Doch wenn ich über’s Wochenende nur fünf Melonen füllen und nicht dazu kommen sollte, den Tisch zu streichen oder wenigstens die Glühbirne im Flur zu wechseln, dann wird Marie nach ihrer Rückkehr giftige Blicke auf Tisch und Melonenschalen werfen und im finsteren Flur absichtlich über leere Flaschen stolpern.
Ich antworte also: „Na ja, dieses Wochenende ist eigentlich schlecht, aber wenn du dir Montag schon frei genommen hast, krieg’ ich das schon irgendwie hin.“
Daraufhin sagt sie: „Danke! Sag’ Bescheid, wenn ich dir vorher noch was erledigen helfen kann“, sagt es so unironisch, dass es mich ganz warm überspült und ich mich auf ein Wochenende in Frankreich mit ihrem Exfreund und seiner schwangeren Frau freue.

Es ist bereits dunkel, als wir die Schottereinfahrt zu dem geduckten Häuschen hinabfahren, das Holger und Susanne für die Ferien gemietet haben. Die Kegel der Scheinwerfer huschen über das angrenzende Gestrüpp, ohne dass viel von der Umgebung auszumachen ist. Als ich das Auto neben Holgers Kombi parke, wird die Tür geöffnet und warmes Licht fällt auf den Rasen des Vorgartens. Holger kommt heraus und umarmt Marie, die sich lange an ihm festhält. Das liegt wohl an der langen Fahrt. Dann kommt er zu mir herüber, gibt mir die Hand und umarmt mich.
„Na, gut gefunden?“, fragt er und ich sehe nur das Blitzen seiner Zähne und Augen.

Er hilft uns, das Gepäck ins Haus zu tragen. Es riecht fremd. Er zeigt uns Bad, Küche und Wohnzimmer im Erdgeschoss. Es ist ferienhaushübsch mit viel zum Gucken, Tigerfell und staubige Trockenblumenarrangements.
Holger führt uns die Treppe hinauf und flüstert: „Susanne schläft schon“, dann öffnet er eine Tür und tätschelt den Türsturz wie den Hals eines sehr schartigen Pferdes. „Vorsicht: Kopf!“
Ich bücke mich tief unter dem Balken hindurch und stelle fest, dass ich mich auch im dahinterliegenden Zimmer nicht vollständig aufrichten kann. Holger knipst das Licht an und eilt zum Fenster, um es zu schließen. „Ich hoffe, es sind keine Mücken reingekommen.“
Alles ist mit Vogelstoff bezogen, Vogelsilhouetten auf himmelblauem Grund: der Einbauschrank, das Betthaupt, die Wände. An der linken Bettseite fliegen die Vögel sogar kopfüber.
„Oh, Vögelchen!“, sagt Marie.
Und hinter den Vögelchen ist es wattiert, wie ich beim Betasten der Wand feststelle. Sie fühlt sich klamm an, aber klamm ist immer nah an der Wahnvorstellung, denke ich mir und drücke nicht weiter auf der Wandbespannung herum, um nicht unnötig Sporen aufzuwirbeln.
Holger lacht. „Bittesehr, eure Gummizelle. Hier könnt ihr euch quasi hemmungslos austoben. Noch Fragen? Ich geh’ sonst auch schon ins Bett.“
„Alles klar“, antworte ich.
„Schlaf gut“, sagt Marie und dann schließt Holger die mit Vögelchen bespannte Tür hinter sich.
Ich setze mich aufs Bett. Es fühlt sich an, als würde die Matratze über mir zusammenschlagen.
„So, jetzt austoben?“, fragt Marie und lupft die Vögelchentagesdecke vorsichtig, als fürchte sie, ein Schwarm Tauben könne plötzlich darunter hervorstieben und sich in ihrem Haar verfangen. Ich rolle die Steppdecke zu einer strammen Wurst und deponiere sie auf der Kommode.
„Ich bin schon ziemlich ausgetobt.“ Ich blicke zu Marie hinab, die sich quer über’s Bett rollt und die Sandalen von den Füßen schleudert. Sie hat die letzten zwei Stunden im Auto geschlafen.
„Außerdem ist diese Gummizelle nicht schallisoliert“, füge ich hinzu, als ich höre, wie Holger im Nebenzimmer das Licht ausschaltet.
„Was glaubst du, was die denken, was wir an einem freien Wochenende in Frankreich tun?“, fragt Marie und dreht sich bäuchlings, um vom Bett aus in ihrem Koffer zu kramen.
„Außerdem: Susanne schläft und Holger weiß sowieso, wie ich mich anhöre.“
Sie spricht dies in den Koffer, doch dann hebt sie den Kopf, um mir in die Augen zu blicken.
„Ich muss was trinken gehen“, sage ich und verlasse die Vögelchenhöhle, um meinen heißen Kopf in den Kühlschrank zu stecken.
Als ich zurückkomme, ist Marie im Bad und ich gebe mir Mühe, eingeschlafen zu sein, bevor sie zurückkehrt.

Am nächsten Morgen erwachen wir trotz vormittäglicher Hitze eng aneinandergedrängt in der Mitte des breiten Bettes. Die Matratze hängt durch. Marie hat einen Kissenabdruck auf der Wange. „Zum Glück kein Vögelchen“, denke ich und küsse die roten Furchen.
„Du kratzt“, sagt sie und reibt sich vorwurfsvoll die geschundene Haut.
„Ich dachte, das macht’s irgendwie französischer“, antworte ich, weil mir schon auf der Fahrt klar geworden ist, dass ich meinen Rasierer auf dem unlackierten Küchentisch vergessen habe.
In diesem Moment trommelt es einen Dreivierteltakt gegen die Tür und Holger ruft: „Frühstück?“

Als ich noch feucht von der Dusche aus der Dunkelheit des Hauses trete, dauert es eine Weile, bis ich überhaupt etwas ausmachen kann, doch dann sehe ich Susanne am blendend weiß gedeckten Frühstückstisch sitzen, ihre schwarzen Haare hochgesteckt, ihre Lippen wie immer tiefrot bemalt, ein nacktes Bein auf einem der Holzstühle.
„Na endlich“, sagt sie und lächelt, „ich war schon fast verhungert.“
Sie hebt ihr Bein vom Stuhl, steht rasch auf und kommt auf mich zu. Ich bemühe mich, nicht auf ihren Bauch zu starren, der bei unserem letzten Treffen noch kaum zu sehen war. Sie umarmt mich fest und ich fühle ihre Schwangerschaft am ganzen Körper, versuche mich an den entsprechenden Stellen konkav zu wölben.
Holger tritt hinter mir ins Freie und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Marie ist noch im Bad? Dann können wir zwei ja schon mal Baguettes jagen gehen.“

Mit französischem Rap aus den Boxen geht es im klimatisierten Wagen in den nächsten Ort, in die „Boulangerie“, wie ich mehrmals heimlich vor mich hinmurmele.
„Bonjour“, sagt Holger in das Türklingeln hinein und dann noch einiges mehr, was ich aber nicht mehr verstehe, bis auf einiges „oui, oui“ und „bon“. Und natürlich „baguette.“ Der Bäcker lacht mit gelben Zähnen und dreht kuriose Kreise mit beiden Händen auf seinem Bauch. Ich versuche, für seine Teenager-Tochter, die gelangweilt Haarsträhnen zwirbelt, verwegen und schweigsam auszusehen. Wenn ich nun schon mal den Bart habe und neben dem parlierenden Holger stehe, der mir gerade bis zur Nasenspitze reicht. Ich wäre nicht der Erste, von dem sie sich an die mehlstaubige Wand der Vorratskammer nageln lässt, aber der erste, für den sie davor ihr Kaugummi ausspucken würde. Oui, oui, Monsieur.

Wir frühstücken unter Pappeln, wie Marie behauptet, nachdem sie eine längere botanische Diskussion für gewonnen erklärt hat. Marie, Holger und ich essen Rohmilchkäse und Susanne Foie Gras. Ich warte darauf, dass das Fett ihr Lippenrot auflöst, doch es geschieht nicht. Es strahlt genauso blendend wie am Morgen.
Holger fragt, ob wir uns heute ein Schloss ansehen wollen. Marie und ich blicken einander an, um uns gegenseitig unserer Faulheit zu versichern und schnell auszufechten, wer sie zugeben muss.
„Vielleicht morgen“, antwortet ich, weil man von mir nichts anderes erwartet, und so lungern wir schließlich den ganzen Tag auf Sonnenstühlen herum und jeder erscheint glücklich. Aktivitäten wie Federball und Frisbee werden in der Hitze schnell wieder einvernehmlich eingestellt. Die Dichte der Luft bremst jede Bewegung.
Marie und Holger reden über ihre Arbeit in der Kunsthalle, die Leihverträge und die Katalogtexte. Holger und ich reden über in Polen maßgeschneiderte Sprossenfenster für das Fachwerkhaus, das Susanne und er restaurieren. Ich soll eine Spezialtür bauen, die trotz schiefen Bodens unten dicht abschließt. Ich skizziere ihm eine Spezialkonstruktion mit Rollen und Zügen auf eine Serviette, die Marie später rahmen will, weil die Linienführung so filigran ist.

Susanne könnte natürlich mitreden, nicht über das Tagesgeschäft der Kunsthalle, aber über den städtischen Kulturbetrieb und Türen, doch sie tut es nicht. Sie tut eigentlich gar nichts. Manchmal liest sie eine Seite in ihrem Krimi, empfängt hin und wieder ein Glas Wasser oder einen Kuss von Holger, aber meistens liegt sie einfach nur da und betrachtet das Schattenspiel der Pappelblätter auf ihrem Busen und ihrem Bauch. Also betrachte auch ich meistens nur das Schattenspiel der Pappelblätter auf ihrem Busen und ihrem Bauch. Und das Rot auf ihren Lippen, das mir immer wieder als das Rot ihrer Lippen erscheinen will.

Als die Dämmerung hereinbricht, fühlen Marie und ich uns verpflichtet, zumindest das zum gemieteten Grundstück gehörende Gelände etwas zu erkunden und einen Spaziergang um den See zu machen. Wir folgen dem Pfad durch das trockene Gestrüpp und erreichen nach fünf Minuten einen grünen Tümpel, um den herum es hypnotisch surrt und brummt. Das Wasser hat sich in die Mitte zurückgezogen und an den Rändern schwarzen Schlamm mit schlierigen Brutpfützen hinterlassen. Überhaupt ist das gesamte Tal in diesem Jahr wegen der Hitzewelle nicht so lieblich wie sonst, hat mir Holger erklärt und ich erzähle es jetzt Marie.
„Wir waren schon mal hier in der Nähe,“ sagt sie und stochert mit einem Schilfhalm in der trüben Suppe, dann nehme ich ihre Hand und wir spazieren um den See, bis uns genug Mücken gebissen haben und wir die Flucht ergreifen. Doch der Ausflug hat sich gelohnt, denn als wir zurückkommen, wird uns bewusst, dass der Duft der Kletterrosen am Haus schwer in der Luft hängt.

Holger kocht Gemüseeintopf mit Huhn und weist jedem ein Gemüse zu, mit dem man sich zum Schälen und Schnibbeln an den runden Esstisch setzen darf. Dort schneidet Marie das Thema zum ersten Mal an. „Und dir geht es gut hier, auch mit der Hitze und so?“
Susanne lächelt, nicht für uns, sondern für sich. „Es geht mir ganz ausgezeichnet. So könnte ich gerne noch länger bleiben.“
Sie lässt eine Hand auf ihren Bauch sinken und ich senke meinen Blick auf die Karotten. Auch mein Hören richte ich geflissentlich auf das Schaben und Hacken des Putzmessers, bis Holger mich gnädig in den Garten schickt, um Rosmarin und anderes Kraut zu pflücken.
„Alles, was dir essbar erscheint“, sagt er und klopft mir hilfreich auf die Schulter.

Während des Essens wird wieder über andere Dinge gesprochen – über den Kulturetat der Stadt. Ich erzähle, wie ich dem Oberbürgermeister bei der Eröffnungsfeier ein Becks Gold servieren durfte und mich dabei fragte, ob er vor versammelter Presse nicht lokales Bier trinken müsse. Außerdem beobachte ich, wie Susanne Spuren an ihrem Glas hinterlässt. Sie scheint sich Mühe zu geben, ihre Kussmünder gleichmäßig am Rand zu verteilen. Und obwohl sie auf diese Weise viel Fläche färbt, bleibt das Rot ihres Munds das gleiche, als blute es aus einem Reservoir im weichen Gewebe ihrer Lippen durch unsichtbare Poren nach außen.
Marie sagt, man sehe Susanne an, dass es ihr gut geht, gute Durchblutung, Prallheit, Haare und alles, und dass sie auch so einen Busen möchte. Daraufhin melde mich freiwillig zum Spülen.

Ich hebe Susannes Glas aus dem Becken, wo die anderen Gläser klingend gegeneinandertreiben, hebe es am Stiel hoch, betrachte den rotverzierten und schaumbekränzten Rand und atme aus. Mit der dunkelgrünen Seite des Schwamms fahre ich an Innen- und Außenseite des Glases entlang. Der erste Umlauf verschmiert die roten Münder, die einzeln sichtbaren Lippenfurchen, zu einer hellroten Schliere mit Schrubbseitenstruktur. Der zweite Umlauf und ein erneutes Eintauchen ins Wasser lassen das Glas blank zurück. Als ich mit der gelben Seite nachreibe, quietscht es beruhigend.

Ich spüle versunken die restlichen Gläser, die Teller und den Topf, dann bringe ich den Müll raus. Zumindest versuche ich es, denn auf dem Weg zur Haustür geht mir die Mülltüte kaputt. Einen schrecklichen Augenblick lang spüre ich den Plastikbeutel reißen und weiß, ich kann nicht mehr verhindern, dass mir der ganze Mist gleich auf die Füße fällt. Und dann spüre ich auch schon den feuchten Kaffeesatz zwischen den Zehen. Die anderen lachen, aber mir ist flau.

Holger hilft mir, die Folgen des Unfalls zu beseitigen und ich gehe rauchen, um mich zu beruhigen.
Ich sitze auf der Bank und pule Späne aus dem verwitterten Holz zwischen meinen Beinen. Dann tritt Susanne neben mir aus dem Haus. Ich sehe ihre Silhouette nur aus dem Augenwinkel, spüre ihr Gravitationsfeld in Höhe meines Kopfes. Sie atmet tief ein, schwere Luft und nahezu flüssigen Rosendunst, und spreizt Zeige- und Ringfinger der linken Hand zu einem V. Ich lasse Asche auf die Bodenplatten fallen und übergebe ihr meine Zigarette. Susanne lehnt sich gegen die Hauswand und inhaliert drei mal in kurzen Abständen. Ich zerreibe währenddessen die Asche unter meinen Sohlen und denke an die roten Läuse, die ich auf dem grobporigen Stein der Hauswand beobachtet habe.
Als sie mir die Zigarette zurückreicht, sehe ich nicht auf, sondern betrachte nur den fettglänzenden Ring um den Filter. Die Tür fällt neben mir ins Schloss und ich kann das elastische Federn der weiß lackierten Bretter fühlen. Ich drehe die Kippe auf der Bank aus und beerdige sie im Rosenbeet.

Als Marie aus dem Haus tritt und sich vor mich stellt, schiebe ich ihr T-Shirt hoch und berge mein Gesicht an der kühlen Haut ihres Bauches. Summend fährt sie mit den Fingern durch mein Haar, vom Nacken bis zum Wirbel und fragt dann: „Kommst du mit ins Bett?“

Im Bett küsse ich sie, bis ihr Mund rot ist. Ihr Körper ist noch immer kühl und vielleicht sogar etwas feucht. Ich weiß es nicht, vielleicht sind es auch meine eigenen Hände. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und haucht warme Luft an mein Ohr, doch dann höre ich etwas aus dem Nebenzimmer.
Ich lege Marie zwei Finger auf den Mund und halte selbst den Atem an.
Sobald sie hört, was ich höre, kichert sie, doch als sie den Ausdruck auf meinem Gesicht sieht, verschwindet schlagartig alles Schalkhafte aus ihren Augen.
Ich lasse mich lautlos neben ihr aufs Bett sinken. Sie zieht das Laken unters Kinn und verschränkt die Arme über der Brust. So liegen wir nebeneinander, ohne uns zu berühren, starren an die Vögelchendecke und lauschen, wie Susanne und Holger miteinander schlafen.
Es ist effizienter Sex. Es wird nicht gesprochen und sie sind nicht laut – sie müssen weder uns noch sich selbst etwas beweisen – trotzdem kann ich jeden Atemzug, jedes Härchen, das sich unter einer Berühung aufrichtet, hören und stelle mir vor, wie Susanne rote Flecken auf Holgers Gesicht, auf den Geheimratsecken, den Ohren und seinem Körper verteilt, wie eine ansteckende Kinderkrankheit.
Als es nichts mehr zu hören gibt, knipst Marie das Licht aus und dreht mir den Rücken zu.

Das Laken ist zusammengedreht um meinen Körper gewunden. Ich habe schlecht geschlafen, wohl von Vögeln und Mülltüten geträumt, und Marie hat mich nicht geweckt.
Als ich in den Garten hinaustrete, ist der Frühstückstisch bereits abgeräumt. Holger sitzt auf der Bank, aber die Rosen duften tagsüber nicht. Er trägt ein beiges Fischerhütchen und liest französische Zeitung.
„Gut geschlafen?“, fragt er. Ich nicke.
„Wo sind denn die Frauen?“
Er bedeutet es mir mit einer Bewegung des Kopfes.
Ich finde sie im Schatten der Bäume hinterm Haus. Sie liegt mit angezogenen Beinen auf dem Sonnenstuhl und Marie sitzt im gelben Mädchenkleid im hohen Gras neben ihr. Sie hat ihren kleinen, blonden Kopf auf Susannes Bauch gelegt, auch ihre Hände, mit gespreizten Fingern, als wolle sie ihn ganz umfassen.
Marie strahlt, als sie mich erblickt und winkt mich aufgeregt heran. „Komm doch mal! Fühl doch mal!“
Susanne fängt eine gelockte Haarsträhne, die eine Brise ihr ins Gesicht weht, wo sie auf der Lippe haften bleibt, und streicht sie sich hinters Ohr. Sie lächelt mich ruhig an.
Ich sehe mich mein struppiges Gesicht auf diese schimmernde Kugel legen und als ich mir vorstelle, dass es dort eine Bewegung zu fühlen gibt, rauscht das Blut so laut in meinen Ohren, dass es mir scheint, als würden die Pappeln von einem heftigen Windstoß geschüttelt.
„Ich glaube, wir müssen jetzt los, wenn wir das Schloss heute noch sehen wollen.“

Wir fahren an Maisfeldern mit Mohnblumen entlang und halten kurz, um ein paar Kolben zu brechen, aber es ist nur Futtermais.
Trotz geöffneter Fenster ist es jetzt sehr heiß im Auto. Marie hat ihre nackten Füße gegen das Handschuhfach gestemmt, so dass ihr Kleid die Oberschenkel bis zum Unterleib entblößt. Sie rollt ihren Kopf träge auf der Nackenstütze, wenn sie ihren Blick von der Landschaft zu mir wendet.
Ich ziehe mein T-shirt aus, während sie das Lenkrad festhält. Dann gieße ich mir französisches Wasser aus edler Quelle über den Kopf und denke mit Unbehagen darüber nach, wie der Schaumstoff des Fahrersitzes meinen Schweiß in sich aufsaugt. Endlich tauchen wir in den Schatten des dichten Jagdwaldes ein und ich halte nach Hirschen Ausschau.

Im Schloss versuche ich lange, die doppelte Wendeltreppe zu denken und Marie macht tausend Fotos von tausend verschiedenen Winkeln der wunderlichen Stadt auf dem Schlossdach.
Der Garten ist geometrisch und das Gras gelb und so lagern wir ein paar Kilometer weiter neben einer Betonbrücke am Flussufer. Marie sitzt, die Hände hinter sich in den Kies gestützt und sucht im glitzernden Wasser nach Fischschatten. Ich liege auf dem Rücken und habe meinen Kopf in ihren Schoß gebettet.
„Holger hat den Hausmenschen gefragt, was das für Bäume sind. Es sind wirklich Pappeln.“
„Glückwunsch“, antworte ich und schließe die Augen.
„Hast du nicht gesagt, du wolltest dich anmelden, für einen Französischkurs? Das ist jetzt bestimmt auch schon ein Jahr her.“ Sie bewegt ihr Becken, weil es ihr unbequem ist.
„Schon möglich“, sage ich und richte meinen Oberkörper wieder auf.
Sie blickt mich an, als warte sie, dass ich noch mehr dazu sage, doch dann setzt sie sich zurecht und drückt meine Schultern sanft herunter, bis mein Kopf wieder in ihrem Schoß zu liegen kommt.
„Erzähl mir, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben.“ Sie streicht mir die Haare aus der Stirn.
Ich bin kooperativ und erzähle ihr, wie wir uns am Abend der Vernissage zum ersten Mal geküsst haben und dass ich mir damals nicht sicher war, ob es in mir toste, weil wir unter der tonnenschweren, mit Echtfell bezogenen Pferdekadaverplastik standen, die von der Decke baumelnd „kreatürliche Präsenz“ erzeugte, oder ob es die kreatürliche Präsenz von Maries kleinem Körper war, der sich an meinen drängte. Und ich erzählte ihr, wie ich Wochen zuvor geflucht hatte, als wir die Kadaverskulptur in unser Spezialgerüst einhängen mussten. "Muss Kunst so schwer sein?", hat mein Chef geschimpft.
„Mein kleiner Kunstbanause“, sagt Marie, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich.
Ich streiche ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht geweht ist, hinters Ohr und drehe mich auf die Seite, damit ich, das Ohr im Tal zwischen ihren Hüftknochen, Verdauungsgeräuschen lauschen kann.

Nach dem mehrgängigen Abendessen, das Holger in unserer Abwesenheit vorbereitet hat, trinken wir noch mehr Wein aus dem Kanister und gucken einen französischen Film, in dem zarte Knaben und noch zartere Mädchen nackt in großen weißen Betten liegen und miteinander reden.
„Macht es dir wirklich nichts aus? Wenn du dich langweilst, können wir auch Skat spielen“, bietet Holger an.
Doch es macht mir wirklich nichts aus. Ich kann nicht Skat spielen und ich langweile mich auch nicht, denn ich lese Susannes Schwangerschaftsbuch. Ich sehe mir Bilder von halbierten Frauen mit ganzen Föten an und vermeide die letzten Kapitel mit den Bildern über Geburt und hässlichen, roten Babys. Ich lese über die Veränderungen des Körpers. Das mit den Brüsten sehe ich selbst, doch ich erfahre auch, dass sich die Brustwarzen dunkler färben und dass ein Schleimpfropf den Gebärmutterhals verschließt. Ich lese mehrmals Schleim, Schleim und pfropfpfropfpfropf und erhoffe mir therapeutische Wirkung davon. Dann steht Susanne auf und macht sich einen Tee aus geheimen Kräutern.
„Lass mich mal probieren“, sagt Marie und als ich darüber nachdenke, dass sich das Rot von Susannes Tasse an Maries Lippen heften könnte, muss ich wieder an den Müllsack denken. Es fühlt sich an, als würde ich selbst unten aufreißen und alles Lebenswichtige fiele aus mir heraus, ohne dass ich etwas dagegen ausrichten kann. Doch Marie trinkt von der anderen Seite der Tasse und ich lasse das Buch erleichtert sinken.

Susanne sitzt wieder neben Holger, der jetzt die linke Hand auf ihren Bauch gelegt hat. Der Schein des Fernsehers fängt sich bläulich in ihrem Haar und flackert in ihren Augen. Holger legt seinen rechten Arm um ihre Schulter, zieht sanft die zarten Locken, die sich am Nacken aus ihrer Frisur gelöst haben, zwischen den Fingern glatt. Dann lässt er die Hand auf ihren vollen Oberarm sinken, wo er mit den Fingern die Impfnarbe streichelt. Diese Narbe sieht mit dem horizontalen Strich in der Mitte und den radialen Fältchen selbst aus wie ein kleiner Kussmund. Sie schillert silbrig und manchmal ist sie dunkel wie ein Loch. Ich frage mich, ob man sie spüren kann, wenn man mit den Lippen oder mit der Zunge darüberfährt.
Susanne schiebt den enganliegenden Stoff ihres Oberteils bis unter den Busen hoch und Holger massiert Öl auf ihren Bauch, der nun ebenfalls von blauen Lichtreflexen bekrönt wird. Mein Blick folgt der dunklen Linie vom Nabel bis zu der Stelle, wo sie im weichen Bund der Hose verschwindet, dann blicke ich mich zu Marie um, die neben mir im Sessel sitzt und sehe, dass sie dasselbe betrachtet. Als sie sich zu mir wendet, senke ich den Blick schnell in das Schwangerschaftsbuch.

Als wir wieder in der Vögelchenhöhle liegen, schmiege ich mich von hinten eng an Marie, so wie ich es auf einem Bild im Schwangerschaftsbuch gesehen habe, und umfasse ihre kleinen Brüste. Ich küsse ihren Nacken und ihren makellosen Arm und wir schlafen ein, noch bevor die Geräusche aus dem Nebenzimmer verstummen.

Am Morgen werfe ich unser Gepäck in den Kofferraum und Marie ordnet die CD-Sammlung im Handschuhfach, als Susanne und Holger aus dem Haus zu uns herüber kommen. Holger reicht mir einen Leinenbeutel. „Ich hab’ euch Proviant eingepackt.“
Ich sage „danke“ und umarme ihn, dann lasse ich mich von Susanne umarmen, spüre ihre warmen Brüste und ihren Bauch und rieche den süßen Duft des Massageöls. Ich hatte gehofft, so früh am Morgen wäre das Lippenrot noch nicht da, dann könnte ich mir sicher sein, dass es doch nur aufgemalt ist.
„Danke für alles und ... alles Gute“, sage ich.
Holger und Susanne umarmen Marie und dann sitzen wir auch schon im Auto.
„Alles bereit?“, fragt Marie und auf ihrer Wange prangt ein roter Striemen, der aussieht wie eine Prellung. Ich wische den Lippenstift erst mit dem Daumen und dann mit dem Handballen ab.
„Hm“, sage ich und starte den Motor.

 

Hi,

ich hab mal in der Dürreperiode des Forums nach was Ausschau gehalten und hab die hier gefunden, ist natürlich immer schwierig, zu alten Geschichten was zu sagen, es bringt ja nichts, hier in Kleinkram zu versinken, weil du heute auch nicht mehr da bist, wo du warst, als du die Geschichte geschrieben hast.

Was mir gefallen hat, hier, ist wie die Geschichte wegkippt. Am Anfang hab ich die Stirn gerunzelt, als Marie sagt:

„Außerdem: Susanne schläft und Holger weiß sowieso, wie ich mich anhöre.“
Da hab ich gedacht: Was ist das für eine Frau? Warum will sie die Männer dort in eine so direkte Rivalität schicken. Und sie sagt das ja ohne sich danach zu entschuldigen oder ohne dass ihr es selbst auffällt. Es ist fast so, als laufe für sie hier ein Film ab: Da ist eine schwangere Frau. Gegen die seh ich gut aus. Holger findet mich bestimmt auch toll, ich tanke da mal meine Sexualität auf.
Oder irgendwas scheint da in ihr vorzugehen.

Aber das Problem ist, dass ihr Mann nicht der Mann ist, für den sie ihn hält. Das sieht man, wie er denkt und wie er beschrieben ist. Das ist das Pragmatische. Er pflückt Mais und es ist nur Futtermais. Er malt sich nicht einen Vorgang oder ein Konzept aus, sondern visualisiert schon jeden einzelnen, banalen Schritt. Wie er dann ganz penibel das Glas reinigt. Also in der Art, wie du schreibst, dass du so dezent die Metaphorik durch einzelne Schritte konstruieren möchtest, konstruierst du ja auch diese Figur, die nur in einzelnen Schritten denkt. Und zu der Figur passt Marie als „Frau“, als Kunst-Produkt, als selbst entworfene Existenz überhaupt nicht.

Marie hat ja auch keinen Text, so richtig, aber sie ist mit so viel Kunst verknüpft. Pferdekadaver, da Vernissage, und aman kriegt den Eindruck, sie hätte etwas zu den Pferdekadavern zu sagen gehabt, und sie sieht das irgendwie alles als Konzept und tiefer. Und sie denkt nicht in einzelnen Schritten.
Und man sieht, wie das dann auch so eine Spannung zwischen den beiden aufbaut.
Er sieht voraus, wie sie seinen Plan durchkreuzen wird, und gibt schon im Vorfeld nach – bei den Wodka-Melonen. Und dann gibt es diese Ausweichstrategien, dass man nicht miteinander schlafen muss. Und er gibt ihr immer nur den Raum preis, der ihm eh nichts bedeutet (Dann erzähl ich halt noch mal die Geschichte, als ich so tat, als würde ich mich für Kunst interessieren, weil ich dachte, da kriege ich spannende Frauen.)

Also im Prinzip wird dem Erzähler im Laufe der Geschichte klar, dass er sich in ein Bett gelegt hat, in dem er nicht mehr aufwachen will.
Das Fiese an der Geschichte ist ja, dass Marie nur so verschwommen bleibt. Das scheint mir so eine semi-reflektierte Semi-Künstlerin Semi-Vollblutfrau zu sein. Die hat sicher irgendetwas studiert und will sicher viel mehr sein, als sie ist. Sie hat ja wirklich nur wenige Szenen, und meist schätzt sie da ihre Sexualität falsch ein und ist dann enttäuscht. Wenn sie da spielerisch erst dem anderen Paar lauschen, dann merkt: Mein Mann macht das ja gar nicht ironisch oder holt sich da einen „kleinen Kick“, damit es ein bisschen aufregender wird. Nein, der hört da richtig zu. Irgendwas geht da in ihm vor.
Und wenn sie die Frau wäre, von der sie denkt, dass sie es ist, würde sie ihn da zur Rede stellen, aber das ist sie offensichtlich nicht. Dann wird das am nächsten Tag in so „Bonding“-Maßnahmen weggequatscht.
Das ist halt unfair, so über Marie auch zu reden, weil ich kaum was über sie weiß, ich weiß es ihr wichtig, dass sie sich unter einem Pferdekadaver das erste Mal geküsst haben. Und dass sie progressiv genug ist, zu ihrem Exfreund in den Urlaub zu fahren. Bei so Frauen bin ich immer skeptisch, weil ich denke, die macht sich selbst was vor. Sagt die einen Satz in der Geschichte überhaupt, der auf irgendeine Tiefe schließen lassen würde. Das ist seltsam.
Du hast als Autorin die Tendenz Geschichten sehr leise zu drehen. Sehr understated. Die Figur der Marie ist hier fast tonlos, die darf ja gar nichts sagen. Die sagt nicht: „Würdest du mich mehr lieben, wenn ich ein Kind hätte?“ Die sagt einmal, in einem winzigen Satz: „So einen Busen hätte ich auch gern“ – das ist Maries ganze Rebellion in diesem Text. Die hat 2 relevante Sätze: „Holger weiß eh, wie ich klinge“ und „So einen Busen hätte ich auch gern.“ Die arme Frau! Free Marie!

Die Geschichte ist ja, wenn man so will, in diesen Handlungen, in der Beiordnung fast so als würde man immer dieselbe Schicht auf etwas auftragen. Es wird so zugedeckt durch Worte. Das, was in ihm vorgeht, wird kaschiert und übermalt durch diese in einzelne Handgriffe unterteilte Beschäftigungstherapie. Als es mal einen Tag so heiß ist, dass er gar nichts machen kann, wird er ja fast verrückt von der anderen Frau. Makita hat das im 1. Kommentar schon gesagt, die befruchtete Frau, die in ihrer eigenen Körperlichkeit versinkt. Viel macht die nicht. Eine wunderbare Szene hat sie, wenn sie zusammen rauchen. Das ist ja fast eine Fremdgeh-Szene hier, auf einer anderen Ebene. Sie beide haben ein Geheimnis, und sie tun etwas Verbotenes. Nur für drei Züge, und nur ganz kurz, aber sie sind sich nahe, und man kriegt auch die ganze Geschichte, so einen Vibe, dass die beiden vielleicht mal was miteinander hatten oder noch haben könnten.
Holger: Ja. Der hat so keine eigene Handlung. Der ist ja nur als neutrale Ablenkung dar, nachdem die erste falsche Fährte sich auflöst. In einem Roman hätte sicher Holger etwas mit Marie noch, aber hier wäre das nur störend.

Ich hätte gern mehr über Marie gewusst, um zu wissen, ob ich da auf der richtigen Fährte war, im Laufe der Handlung, und weil ich das eigentlich einen sehr spannenden Konflikt oder ein Themenfeld finde. Wenn das konstruierte Eigenbild nicht mehr reicht, um den Partner an sich zu binden, und wenn man merkt, dass man auch nicht mehr 22 ist und von vorne anfangen kann. Das wäre für mich fast die spannendere Figur. Hat Marie für sich Kinder aus ihrem Lebensentwurf ausgeschlossen z.B. Das sind so Fragen, die mich mehr interessiert hätten, statt zu beobachten, wie der unrasierte Protagonist für eine Bäckerstochter verwegen aussehen will. Aber das sind auch schöne Szenen und Bilder.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,

vielen Dank für Deinen ausführlichen und interessanten Kommentar. Zufällig hatte ich auch schon was zu Deinem Fix und Foxy-Text vorbereitet, nicht dass das jetzt als Revanche daherkommt. Allerdings habe ich jetzt bis Ende der Woche Besuch und bis Ende des Monats ne Deadline und will die Antwort und den Kommentar jetzt nicht so schnell dahinhuddeln, das wäre auch falsch. Kommt aber sobald ich es reinquetschen kann.

lg,

fiz

 

I love deadlines. I love the whooshing sound they make as they go by (Douglas Adams)

Hallo Quinn,

Was ist das für eine Frau? Warum will sie die Männer dort in eine so direkte Rivalität schicken. Und sie sagt das ja ohne sich danach zu entschuldigen oder ohne dass ihr es selbst auffällt. Es ist fast so, als laufe für sie hier ein Film ab: Da ist eine schwangere Frau. Gegen die seh ich gut aus. Holger findet mich bestimmt auch toll, ich tanke da mal meine Sexualität auf.
Oder irgendwas scheint da in ihr vorzugehen.
Nee, die sagt das schon absichtlich. Deshalb kann sie ihn dabei auch nicht angucken. Dass sie da neben Susanne vielleicht besonders schick aussehen möchte, ist ein interessanter Gedanke. Andererseits weiss sie doch, was für ein Weib die ist, bewundert ihre Prallheit ja selbst. Sie benutzt die Situation ja eher, um ihren eigenen Freund aus der Reserve zu locken, sich selbst etwas über den Status ihrer Beziehung zu beweisen. Sie stichelt ja immer wieder und nie kriegt sie eine Reaktion. Das ist eben so ein ganz komische Spannung zwischen Zivilisation und Instinkten, die Juju ja auch schon beschrieben hat. Einerseits setzt der Versuchsaufbau ja voraus, dass ihr Freund sich nicht wie ein eifersüchtiger Höhlenmensch gebärdet, andererseits wünscht sie sich doch seine Eifersucht - für sie muss seine äußerliche Gelassenheit ja so wirken, als sei er sich ihrer zu sicher. Das kann ihr auch nicht gefallen. Wenn sie sieht wie ihr Ex da grad mit der Überfrau eine Familie gründet, will sie sich sicher auch beweisen, dass sie dafür eben wilde Leidenschaft mit einem weniger intellektuellen, heißerem Typen hat. Geht eben ziemlich nach hinten los alles. Da finde ich auch Dein Thema der Identitätskonstruktion interessant. Jetzt nicht nur im Bezug auf Maries Selbstbild, sondern auch auf das Bild, das sie sich von ihm konstruiert - diesem Tischlerjungen und Kulturbanausen, den sie sich da auf der Vernissage aufreisst, nachdem sie sich vom Kurator getrennt hat. Aber Du sagst schon
das Problem ist, dass ihr Mann nicht der Mann ist, für den sie ihn hält.
. Die Rolle steht ihm halt nicht so gut, weil er eben doch auch recht zart ist, und so provokant passiv. Andererseits könnte sie mit einem richtigen Proll auch nicht wirklich eine Beziehung führen. Schwierig, schwierig.
Dieses Kleinteilige im Denken, was Du da ausgemacht hast, stimmt auch, aber ich weiss nicht, ob man das als Prinzip so gegen das Künstlerische ausspielen kann. Also grundsätzlich schon, aber nicht unbedingt so, wie Kunst in Marie repräsentiert ist. Und klar, das mit dem kreatürlichen Pferdekadaver ist Maries Sprache, ihre Romantik. Also Du hast natürlich recht, dass Marie ihr Selbstbild, auch das Bild ihrer Beziehung da ziemlich fein konstruiert und sich dabei aber eben auch ziemlich verschätzt. Ob ihre Intellektualität allerdings so hohl ist, wie Du andeutest, und ob er das da langsam mitkriegt. Ich weiß nicht. Das ist ein spannendes Thema für eine Geschichte und wie gesagt, es geht mir hier auch viel um die Konstruktion von Identitäten, aber so wie Du das pointiert hast, stand es bei mir nicht im Vordergrund:
Wenn das konstruierte Eigenbild nicht mehr reicht, um den Partner an sich zu binden
. Das ist halt auch ne Frage der Perspektive und bei mir ist es nun mal der Mann und der hat noch so viel zu tun, mit all dem andern Zeug. Ist ja auch tatsächlich durch die Schwangere von Marie abgelenkt und weiß gar nicht so recht wohin mit sich.

Die hat 2 relevante Sätze: „Holger weiß eh, wie ich klinge“ und „So einen Busen hätte ich auch gern.“ Die arme Frau! Free Marie!
Nu ja, aber zumindest sind das ziemlich starke Sätze. Und der Protagonist weiß halt ebensowenig wie der Leser, was er nun damit anfangen soll. Und in die explizite Frage „Würdest du mich mehr lieben, wenn ich ein Kind hätte?“, kann man das nunmal nicht einfach übersetzen. Da gibt es zu viel, und hin und her, und Widerspruck. Sowas Klares ist das nicht. Alex hat schon ziemlich viele Widersprüche in sich, bei Marie würde sich das wohl noch einmal potenzieren. Deshalb schrecke ich auch grundsätzlich vor weiblichen Perspektivträgern zurück. Das wird mir zu komplex, das kann ich mir in den Hintergrund fühlen, aber nicht so in alle seine gegensätzlichen Bestandteile auseinanderklamausern, dass ich es gut beschreiben könnte.

Aber Du bist jetzt schon der zweite, der sich an Marie festbeißt. Ich finde das auch sehr spannend, diese Seite mal mehr zu beleuchten. Und auch diesen Ballon aufgestauter sexueller Energie da mal platzen zu lassen, das reizt mich alles schon. Ich freue mich einfach, dass diese Konstellation, die ich mir da arrangiert habe, anscheinend eine sehr fruchtbare ist. Dass sich da viele Leser ziemlich spannende Gedanken zu machen können und dass das Erzählpotential da noch nicht ausgeschöpft scheint. Andererseits habe ich auch Angst was kaputt zu machen, wenn ich da zu viel beleuchte oder alles explodieren lasse.

Vielen Dank nochmal für Deinen Kommentar. Hat mich sehr gefreut.

lg,

fiz

 

Hi feirefiz,

Deshalb schrecke ich auch grundsätzlich vor weiblichen Perspektivträgern zurück. Das wird mir zu komplex, das kann ich mir in den Hintergrund fühlen, aber nicht so in alle seine gegensätzlichen Bestandteile auseinanderklamausern, dass ich es gut beschreiben könnte.
das hat mich gerade echt umgehauen, aus irgendeinem Grund war ich bisher überzeugt davon, du wärst ne Frau ...

Das nehm ich mal als Aufhänger um hier nochmal Lob dazulassen, der Text ist super, was da alles bei den Charakteren unter der Oberfläche abgeht, wie du das draufhast, es wird so viel angedeutet und kaum was ausgesprochen, und es klappt wunderbar,

Dass sich da viele Leser ziemlich spannende Gedanken zu machen können
!
Deswegen, Erzählpotential nicht ausgeschöpft? Hm, wer weiß, ich denke, die Angst, da was kaputtzumachen ist sehr berechtigt -
also, ich seh ein, dass manche Leser sich wünschen, einer der zig Konflikte, die da unter der Wolldecke versteckt sind, würde im Text zum Ausbruch kommen. Ich finde den Text ziemlich genial, so wie er ist. ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Klar ist Fiz eine Frau, die meint halt Frauen seien so kompliziert, dass ihr Frauenschädel platzen würde, wenn sie aus der Sicht einer Frau schreiben müsste. Deswegen nimmt sie Männer, die sind einfacher.
Oder versteh ich hier was falsch? :)

 

Also das ist jetzt doch ...

Deshalb schrecke ich auch grundsätzlich vor weiblichen Perspektivträgern zurück. Das wird mir zu komplex, das kann ich mir in den Hintergrund fühlen, aber nicht so in alle seine gegensätzlichen Bestandteile auseinanderklamausern, dass ich es gut beschreiben könnte.
das hat mich gerade echt umgehauen, aus irgendeinem Grund war ich bisher überzeugt davon, du wärst ne Frau ...

Das macht mich jetzt echt fertig.
Da dachte ich, ich erkenne hier im Forum an der Schreibe, wer Männlein und wer Weiblein ist. Ich hätte gewettet, du bist eine Sie.

Also, was und wer auch immer da hinter den Zeilen schreibt und denkt. Es ist auf jeden Fall eine weise und sensible Seele. Ich habe heute das erste Mal diese Geschichte gelesen und sie ist der Halmmer.
Aus irgendeinem Grund hatte ich immer einen Bogen um sie gemacht. Ich glaube, das lag am Titel. Aber sie ist ja wirklich wunderschön.
Zwischen den vier Personen spielt sich ja total viel ab. Schon allein dieser fürchterliche Lippenstift, ich glaub, der verfolgt mich noch im Schlaf: Der Lippenstift des Todes!

Und auch diesen Ballon aufgestauter sexueller Energie da mal platzen zu lassen, das reizt mich alles schon. Ich freue mich einfach, dass diese Konstellation, die ich mir da arrangiert habe, anscheinend eine sehr fruchtbare ist.

Ich kam mir ein bisschen vor wie in einem französischen Film, wo man als Zuschauer immer fassungslos davorsitzt und beglotzt, wie die Filmhelden da ihre Beziehungskisten vorführen. Da sollte man nicht eingreifen, sondern einfach nur gucken und machen lassen.
Hast einen echt guten Griff getan, mit dieser Geschichte, sprachlich, inhaltlich, in jeder Beziehung.
Ich kann eigentlich auch nur wie Möchtegern raten, den Text so zu lassen, wie er ist. Er ist doch schon genial.

Liebe Güße von der Novak

 

JuJu,

diese Interpretation hatte ich auch kurz in Erwägung gezogen. Das ist dann das Lustigste, was ich seit Langem gelesen habe.
Und es ist ja so wahr! Männer sind alle eindimensional und platt und gänzlich ohne Widersprüche, JEDER und JEDE kann einen Mann schreiben, aber Frauen sind so komplex und mystisch, nicht mal Frauen können Frauen schreiben ... das ist ja so großartig, immer, wenn jetzt diese Diskussion aufkommt mit männl/weibl Protagonisten und männl/weibl Autoren, werde ich mich auf diesen thread hier berufen. :D :D :D

 

immer, wenn jetzt diese Diskussion aufkommt mit männl/weibl Protagonisten und männl/weibl Autoren
Diese Diskussion wird nie wieder aufkommen, das haben gestern alle Männer im Forum in einer geheimen Sitzung beschlossen. Statt dessen werden wir einen Code verwenden, wenn wir meinen, eine weibliche Autorin vermurkst mal wieder einen männlichen Protagonisten: Die Quersumme der Zeichen unserer jeweiligen Kommentare wird eine Primzahl sein und alle Buchstaben des Alphabets werden mindestens einmal vorkommen.


(Feirefiz war übrigens auch da, hatte einen Vollbart angeklebt und mit tiefer Stimme "Steinigt sie, steinigt sie" gerufen. Wir sind aber nicht drauf reingefallen.)

 

Klar ist Fiz eine Frau, die meint halt Frauen seien so kompliziert, dass ihr Frauenschädel platzen würde, wenn sie aus der Sicht einer Frau schreiben müsste. Deswegen nimmt sie Männer, die sind einfacher.

Da dachte ich noch, jetzt kann mir keiner mehr, jetzt kann ich dauernd Männer nehmen und keiner darf mehr meckern.
Aber dann kommt das:

Statt dessen werden wir einen Code verwenden, wenn wir meinen, eine weibliche Autorin vermurkst mal wieder einen männlichen Protagonisten: Die Quersumme der Zeichen unserer jeweiligen Kommentare wird eine Primzahl sein und alle Buchstaben des Alphabets werden mindestens einmal vorkommen.


(Feirefiz war übrigens auch da, hatte einen Vollbart angeklebt und mit tiefer Stimme "Steinigt sie, steinigt sie" gerufen. Wir sind aber nicht drauf reingefallen.)


:rotfl:

Auch noch Mathe ... da kann ich ja schlafen gehn ... im Flanellhemd

 

Ks, ks, noch waehrend ich diese Zeilen zu meiner Angst vor Erzaehlerinnen schrieb, dachte ich mir, ich sollte es wohl besser lassen :schiel:
Ich bin es also tatsaechlich selbst schuld.

Aber gut, wenn ich mir dadurch weitere Aufmerksamkeit und Lob fuer die Geschichte einheimsen kann, soll es mir recht sein :D Danke, Novak und Moechtegern.

Ich wuerd jetzt auch noch versuchen, meine Probleme mit der Frauenperspektive etwas genauer auszufuehren (fuer wie unterkomplex ich die maennliche Psyche halte, sieht man schliesslich schon an meinen eindimensionalen Helden), aber Quinn hat diese Diskussion ja zurecht verboten.

Stattdessen nehme ich das hier zum Vorwand eine Beobachtung zu meiner eigenen Geschichte zum Besten zu geben. Und zwar: man merkt der Geschichte ihr Alter schon sehr an. Wenn ich sie heute schreiben wuerde, wuerde Marie die Fotos vom Schlossdach natuerlich sofort auf facebook instagrammen, genauso wie Fotos vom franzoesischen Essen und romantischster Zweisamkeit mit dem Liebsten am Flussufer. Und dann muesste sie oefter mal beim Essen aufs iPhone schielen, ob das denn auch alles gebuehrend Gefallen findet.

Ich hoffe, ich konnte damit all Eure Fragen beantworten.

lg,
der, die oder das fiz

 

Hallo Feirefiz!

Ich will meinen Esstisch auf dem Hof weiß lackieren, damit die Küche heller wirkt
Die wohnen nicht zusammen, weil er "meinen" sagt? Was mir auch nicht ganz klar ist: Reden die zu Beginn am Telefon miteinander oder ist Marie anwesend? Ich hab eher das Gefühl, die telefonieren. Also die eigentliche Beziehung zwischen den beiden ist mir nicht ganz klar, was aber auch kein Fehler ist, man muss das auch nicht wissen.
Es ist bereits dunkel, als wir die Schottereinfahrt zu dem geduckten Häuschen herabfahren
"hin" ist von der Rednerposition weg, und "her" ist auf die Rednerposition zu, also hier "hinabfahren"
Es ist ferienhaushübsch mit viel zum Gucken, Tigerfell und staubige Trockenblumenarrangements
mit ... staubigen
Ich bücke mich tief unter dem Balken hindurch und stelle fest, dass ich mich auch im dahinterliegenden Zimmer nicht vollständig aufrichten kann.
Du machst das immer sehr gut, wie du das Gegenständliche symbolisch auflädst: Dieser Ich-Erzähler da ist doch eine ziemliche Lusche, der ist nicht ganz aufgerichtet in seinem Mannsein, steht unter der Fuchtel von seiner Frau/ Freundin, ist mit zahlreichen Ängsten besetzt, (Beispiel: Angst vor Sporen usw.), schafft es nicht, Holger bei Marie ganz zu verdrängen.
Alles ist mit Vogelstoff bezogen, Vogelsilhouetten auf himmelblauem Grund: der Einbauschrank, das Betthaupt, die Wände. An der linken Bettseite fliegen die Vögel sogar kopfüber.
„Oh, Vögelchen!“, sagt Marie.
Und hinter den Vögelchen ist es wattiert, wie ich beim Betasten der Wand feststelle. Sie fühlt sich klamm an, aber klamm ist immer nah an der Wahnvorstellung, denke ich mir und drücke nicht weiter auf der Wandbespannung herum, um nicht unnötig Sporen aufzuwirbeln.
Holger lacht. „Bittesehr, eure Gummizelle. Hier könnt ihr euch quasi hemmungslos austoben. Noch Fragen? Ich geh’ sonst auch schon ins Bett.
Das ist auch toll: Diese Vögel (haha!)-Höhle, in die die beiden gesperrt werden. Wirkt auf mich wie ein ehemaliges Kinderzimmer (warum sonst wären die Wände wattiert?). Die Höhle von Holger und Susanne ist sozusagen fruchtbar und noch in Betrieb, während zwischen Marie und der Ich-Erzähler ... das ist schon ein bisschen modrig und lau und unfruchtbar. Abgestanden.
Ich setzte mich aufs Bett
setze
Ich blicke zu Marie herab
hinab
Sandalen von den Füssen schleudert
Füßen
um meinen heissen Kopf in den Kühlschrank zu stecken.
heißen
Hitze eng aneinandergedrängt in der Mitte des breiten Bettes. Die Matratze hängt in der Mitte durch
redundant: das zweite "in der Mitte" streichen
doch dann sehe ich Susanne an blendend weißer Tischdecke am Frühstückstisch sitzen
vielleicht besser: am blendend weiß gedeckten Frühstückstisch sitzen
ihre schwarzen Haare hochgesteckt, ihre Lippen wie immer tiefrot bemalt, ein nacktes Bein auf einem der Holzstühle hochgelegt
zweimal "hoch", warum nicht einfach: ein nacktes Bein auf einem der Holzstühle?
Ich wäre nicht der erste, von dem sie sich an die mehlstaubige Wand der Vorratskammer nageln lässt, aber der erste
groß: Erste
Alles was dir essbar erscheint
Komma: Alles, was
bleibt das Rot ihres Munds das Gleiche,
klein: das gleiche [Rot]
Ich spüle versunken die restlichen Gläser, die Teller und den Topf, dann bringe ich den Müll raus. Zumindest versuche ich es, denn auf dem Weg zur Haustür geht mir die Mülltüte kaputt. Einen schrecklichen Augenblick lang spüre ich den Plastikbeutel reißen und weiß, ich kann nicht mehr verhindern, dass mir der ganze Mist gleich auf die Füße fällt. Und dann spüre ich auch schon den feuchten Kaffeesatz zwischen den Zehen. Die anderen lachen, aber mir ist flau.
ja, das ist das Schlimmste, was diesem Bobo-Mann passieren kann ... Lusche eben! Niemals würde der echte Katastrophen erleben oder heraufbeschwören, niemals gegen seine Freundin laut werden oder sich mit anderen Männern schlagen, Melonen mit Wodka füllen - DAS ist der Gipfel an Verwegenheit dieses Mannes.
Im Bett küssen ich sie, bis ihr Mund rot ist
küsse ... ja, er will eine Susanne, vielleicht weil Marie noch immer Holger will
und denke mit Unbehagen darüber nach, wie der Schaumstoff des Fahrersitzes meinen Schweiß in sich aufsaugt
Lusche! :D

Das ist schon ein kompliziertes Geflecht: Die Gefühle, die der Ich-Erzähler für Susanne hat, umfassen Erotik, Faszination, Angst, Abscheu. Fasziniert von ihr ist er vielleicht, weil sie mit dem Exfreund von Marie zusammen ist, welche offensichtlich ihrerseits noch immer an Holger hängt, als erotisch findet er vielleicht das In-sich-Ruhen von Susanne, während er selbst von so vielen Dingen gepeinigt wird. Dieses In-sich-selbst-Ruhen, die voll erblühte, sich selbst genügende Weiblichkeit Susannes, ihr offensichtlich erfülltes Sexualleben - wirkt ungemein erotisch auf ihn ... und Marie wirkt dagegen recht wenig anziehend. Aber die Faszination Susannes, ihre Schwangerschaft, macht ihm auch Angst oder besser gesagt, die Faszination und die Angst vor dem Weiblichen sind hier untrennbar verbunden.

„Lass mich mal probieren“, sagt Marie und als ich darüber nachdenke, dass sich das Rot von Susannes Tasse an Maries Lippen heften könnte, muss ich wieder an den Müllsack denken. Es fühlt sich an, als würde ich selbst unten aufreißen und alles Lebenswichtige fiele aus mir heraus, ohne dass ich etwas dagegen ausrichten kann. Doch Marie trinkt von der anderen Seite der Tasse und ich lasse das Buch erleichtert sinken.
Man weiß nicht genau: Hat er Angst davor, dass Marie so wird wie Susanne, Angst vor Fruchtbarkeit und Schwangerschaft und Kindern, oder dass Susanne ihn zu sehr anzieht, dass er sie heißer findet als Marie, was ihn natürlich verunsichert. Folgerichtig ist er zwar zärtlich zu Marie, aber Sex haben sie keinen. Das mit dem Unter-Aufreißen, also ich weiß nicht, es passt natürlich hervorragend zur Müllsack-Geschichte, aber es hieße doch auch, dass er selbst zur Frau würde und das passt nicht. Schlag mich, aber ich glaub nicht, dass ein Mann jemals so ein Körpergefühl hätte, dass er unten aufreißt. Was würde denn dann mit seinem Geschlecht passieren, das ist vielleicht ein blöde Frage, aber bei so einem Gefühl des Unten-Aufreißens würde ein Mann doch sicher auch an sein Ding denken, was da mit dem passiert. ;)
Diese Narbe sieht mit dem horizontalen Strich in der Mitte und den radialen Fältchen selbst aus wie ein kleiner Kussmund. Sie schillert silbrig und manchmal ist sie dunkel wie ein Loch. Ich frage mich, ob man sie spüren kann, wenn man mit den Lippen oder mit der Zunge darüberfährt.
Unschwer zu erkennen, woran er da in Wirklichkeit denkt. Die ganze Geschichte hat ja als Leitmotiv die roten Lippen Susannes und die Spuren, die sie hinterlassen. Der Ich-Erzähler fühlt sich ja regelrecht verfolgt von ihnen, die roten Lippen natürlich als Symbol für das Beängstigende und gleichermaßen Faszinierende des weiblichen Geschechtsorgans.
Also was deine Geschichten ja oft auszeichnet, ist die gewisse Leichtigkeit, es schwebt immer ein: "Es ist doch alles nicht so ernst zu nehmen" über dem Ganzen. Die Ängste und die erotische Unsicherheit des Ich-Erzählers kommen nie an die Oberfläche, vieles wird spürbar, kommt aber nicht auf die Handlungsebene. Die Figuren, die hier spielen, sind schon so schicke Menschen: Elitär, im Kunstbereich tätig, gut situiert, keine echten Probleme. Und manchmal drängen sich, während man die Geschichte liest, schon Bilder aus guten Werbefilmen auf, in denen junge coole Menschen Leben spielen.
Aber deine Stärke ist die Sinnlichkeit des Gegenständlichen, und so ist es immer wieder eine Freude, deine Geschichten zu lesen.

Gruß
Andrea

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Andrea,

freut mich, dass auch Du noch zu diesem Text gefunden hast. Ich hab immer schon gedacht, das sind doch haargenau Deine Themen, so Weiblichkeitsarchetypen und Praelle und so. Und dann noch vollgehaeuft mit Symbolen das Ganze :D

Interessant fand ich jetzt, dass Du Dich als LeserIN wieder mehr auf die Erzaehlerperspektive konzentriert hast, wie ich beim Schreiben eigentlich auch, waehrend die Herren gerne um das Mysterium Marie herumdenken. Liegt das daran, dass Marie aus weiblicher Sicht gar nicht so raetselhaft erscheint?

Die wohnen nicht zusammen, weil er "meinen" sagt? Was mir auch nicht ganz klar ist: Reden die zu Beginn am Telefon miteinander oder ist Marie anwesend? Ich hab eher das Gefühl, die telefonieren. Also die eigentliche Beziehung zwischen den beiden ist mir nicht ganz klar, was aber auch kein Fehler ist, man muss das auch nicht wissen.
Ja, das ist ein Telefongespraech. Das war mir so immer ganz klar. Jetzt habe ich nachgelesen und gesehen, dass das so gar nicht da steht. Aber wenn zumindest Telefongefuehl entsteht, ist ja gut. Und nein, sie wohnen tatsaechlich nicht zusammen. Ist natuerlich immer eine schwierige Frage, wie viel echte Hintergrundfakten man so einbringt. Quinn wollte ja auch mehr Drumherum wissen. Ich neige allerdings eher dazu, solche Eckdaten herauszulassen. Also ich denke mir die schon dazu, schreib sie aber nicht unbedingt in den Text, sondern guck nur, dass das geschriebene Gefuehl (hier Paargefuehl) zum ausgedachten Szenario passt. Liegt wohl auch ein bisschen am Ich-Erzaehler, der sich ja so Grundsaetzlichkeiten seines Lebens nicht taeglich vorsagen muss. Und er ist ja auch nicht so ein kommunikativer Erzaehler, der dem Leser da so plaudernd, interaktiv sein Leben erklaert. Mit so einem eher vor sich selbst hindenkenden Erzaehler bleibt einem nur, die Informationen zu den Fakten des jeweiligen Lebens so einzuschmuggeln, so Katzenpille im Fleischwurstbroeckchen. Liegt mir nicht so, obwohl man das mit guten Dialogen natuerlich schon auch elegant hinkriegen kann. Aber die liegen mir auch nicht so. Aber ich kann auch den Leser verstehen, wenn er unzufrieden ist, dass er die Lebenssituation nur so ganz indirekt mitkriegt. Aber gut, fuer Dich war's ja nicht schlimm, dass es so diffus bleibt.

Du machst das immer sehr gut, wie du das Gegenständliche symbolisch auflädst: Dieser Ich-Erzähler da ist doch eine ziemliche Lusche, der ist nicht ganz aufgerichtet in seinem Mannsein, steht unter der Fuchtel von seiner Frau/ Freundin, ist mit zahlreichen Ängsten besetzt, (Beispiel: Angst vor Sporen usw.), schafft es nicht, Holger bei Marie ganz zu verdrängen.
Ja, das mache ich gerne. Ich versuch dabei aber auch, dass diese Elemente andererseits ganz konkrete und plausible Alltagsgegenstaende und -umstaende bleiben und hoffentlich nicht so uebergross im Bedeutungsmasstab als Symbol! im Bild rumstehen. Das hat auch den Vorteil, dass Leser immer neue Symbole in Gegenstaenden entdecken, die ich mir selbst gar nicht mit nem Kreuzchen markiert hatte - und meistens passt es super (bsp. Sporen, M. Glass hat auch so wunderbare Symbole gefunden). Alles steht halt so latent unter Bedeutungsverdacht. Das gefaellt mir.
Dass man das Unaufgerichtete natuerlich auch auf das Luschentum des Helden beziehen kann ist klar, ich hab nur nie darueber nachgedacht. Ich war immer voll in seiner Perspektive und hab es eben nur als Zeichen der bedrohlich-bedrueckenden Situation gesehen. Da fehlte mir mit ihm noch ein Fitzelchen Selbstreflektion, um das zu erkennen.

Das ist auch toll: Diese Vögel (haha!)-Höhle, in die die beiden gesperrt werden. Wirkt auf mich wie ein ehemaliges Kinderzimmer (warum sonst wären die Wände wattiert?). Die Höhle von Holger und Susanne ist sozusagen fruchtbar und noch in Betrieb, während zwischen Marie und der Ich-Erzähler ... das ist schon ein bisschen modrig und lau und unfruchtbar. Abgestanden.
Ja, so ist es. Nur die wattigen Waende haben glaub ich nichts mit Kinderzimmer zu tun. Die waren in allen Schlafzimmern so. Sollte wohl einfach besonders gemuetlich sein.

ja, das ist das Schlimmste, was diesem Bobo-Mann passieren kann ... Lusche eben! Niemals würde der echte Katastrophen erleben oder heraufbeschwören, niemals gegen seine Freundin laut werden oder sich mit anderen Männern schlagen, Melonen mit Wodka füllen - DAS ist der Gipfel an Verwegenheit dieses Mannes.
Mein armer Held! Ich hab ihn ja lieb in seiner Verstocktheit und Konfliktscheue. Soll er denn Marie anschreien und dem lieben, lieben Holger eins auf die Nase hauen? Gerade weil Marie ihn so absichtlich piesakt, ist doch diese provakante Nicht-Reaktion ziemlich souveraen.

Das mit dem komplizierten Geflecht hast Du richtig beschrieben, deshalb kann ich das mit dem Lippenstift am Tassenrand auch nicht eindeutig klaeren, aber ich glaube das wolltest Du auch gar nicht.

Unter-Aufreißen, also ich weiß nicht, es passt natürlich hervorragend zur Müllsack-Geschichte, aber es hieße doch auch, dass er selbst zur Frau würde und das passt nicht. Schlag mich, aber ich glaub nicht, dass ein Mann jemals so ein Körpergefühl hätte, dass er unten aufreißt. Was würde denn dann mit seinem Geschlecht passieren, das ist vielleicht ein blöde Frage, aber bei so einem Gefühl des Unten-Aufreißens würde ein Mann doch sicher auch an sein Ding denken, was da mit dem passiert.
Also das finde ich nun doch etwas zu kategorial gedacht. Zumal sicherlich jeder Mann, der schon einmal etwas haerteren Stuhlgang hatte, sich das Gefuehl des unten-Aufreissens vorstellen kann. Als Frau identifiziere ich mich uebrigens auch nicht unbedingt mit dieser Aufreissgeschichte - ich hab nicht das Gefuehl, dass das son urweibliches Gefuehl ist (okay, bis auf Geburt vielleicht, was schon ziemlich urweiblich ist, aber einen grossen Teil der weiblichen Bevoelkerung nicht, bzw. noch nicht betrifft). Eigentlich ging es mir auch weniger um das Aufreissen als um das Herausfallen. So wie wenn einem in der Achterbahn die Gedaerme in den Hals rutschen, nur eben umgekehrt. Es ging da eben um Kontrollverlust. Ausgehend von der sehr kindischen Analogie nicht reissfester Muellbeutel mit geplatzten Kondomen (die hab ich zum Glueck ganz tief vergraben, soll auch geheim bleiben :D)
Aber gut, wenn der Akzent auf dem Herausfallen liegen soll, kann es natuerlich sein, dass das unten-Aufreissen als Bild zu stark ist, um Hintergrund zu spielen.

Unschwer zu erkennen, woran er da in Wirklichkeit denkt.
:shy:

Also was deine Geschichten ja oft auszeichnet, ist die gewisse Leichtigkeit, es schwebt immer ein: "Es ist doch alles nicht so ernst zu nehmen" über dem Ganzen. Die Ängste und die erotische Unsicherheit des Ich-Erzählers kommen nie an die Oberfläche, vieles wird spürbar, kommt aber nicht auf die Handlungsebene. Die Figuren, die hier spielen, sind schon so schicke Menschen: Elitär, im Kunstbereich tätig, gut situiert, keine echten Probleme. Und manchmal drängen sich, während man die Geschichte liest, schon Bilder aus guten Werbefilmen auf, in denen junge coole Menschen Leben spielen.
Ja, das mit der Leichtigkeit ist mir so explizit noch nicht aufgefallen, aber stimmt schon. Ich vermeide das grosse Drama, die Figuren selbst sehen sich ihr eigenes Leben oft schon mit einer gewissen Distanz an, wissen, dass ihre Probleme im Grunde banal sind. Und alles ist natuerlich immer unheimlich ironisch. Davon komme ich kaum weg. Deshalb glaubt man mir wohl auch echten Liebeskummer nicht. Also idealerweise will ich schon dahin, dass Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit irgendwie ausbalanciert sind. Denn ich nehme meine Themen schon ernst. Auch banale Probleme koennen schliesslich eine schreckliche Plage sein - gerade wenn man zugeben muss, dass sie banal sind.

Aber deine Stärke ist die Sinnlichkeit des Gegenständlichen, und so ist es immer wieder eine Freude, deine Geschichten zu lesen.
Jippieh! Obwohl mich das mit den guten Werbefilmen auch nicht wirklich anficht. Juju hat ja auch so gelangweilte Aristokraten vor sich gesehen. Find ich ganz schick eigentlich.

Vielen Dank fuer Deinen Kommentar und auch noch mal gesondert fuer die Fehlerlese, auch wenn es natuerlich peinlich ist, dass da nach so langer Zeit noch so viel rumsteht (wobei Vieles in hastigen Ueberarbeitungen verbockt wurde). Das "hin" und "her" Argument fand ich sehr plausibel.

Zitat:
Es ist ferienhaushübsch mit viel zum Gucken, Tigerfell und staubige Trockenblumenarrangements
mit ... staubigen
Das Komma ist hier wie ein Doppelpunkt zu lesen. ;)

lg,
fiz

 

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