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Wie eine ansteckende Kinderkrankheit
„Sag’ nicht, du hast was Besseres vor!“, sagt Marie, worauf ich mich in meiner Wohnung nach Besserem umsehe. Und natürlich habe ich Dinge vor. Schon lange. Ich will meinen Esstisch auf dem Hof weiß lackieren, damit die Küche heller wirkt – trotz Nordseite und Glasbausteinfenster. Das hat Marie schließlich selbst immer wieder angemahnt. Und ich habe mir auch schon alles vorgestellt: wie ich den Tisch durch’s Treppenhaus schleppe, ohne wie beim Einzug tiefe Furchen in den gelben Strukturputz zu ziehen; wie ich den Farbtopf auf die grüne Mülltonne stelle, weil der Deckel der grauen zerbeult ist und wie ich zum Schluss mit der Schuhspitze Dreck über die weißen Tropfen auf den Steinplatten schubse und mir die Schweißperlen der Produktivität von der Stirn wische.
Ich will außerdem mit einem Trichter Wodka in eine Wassermelone füllen. Das war natürlich nicht Maries Idee.
Ich könnte also mit Fug behaupten: „Doch ja, leider, habe total wichtige und diverse Dinge vor.“
Doch wenn ich über’s Wochenende nur fünf Melonen füllen und nicht dazu kommen sollte, den Tisch zu streichen oder wenigstens die Glühbirne im Flur zu wechseln, dann wird Marie nach ihrer Rückkehr giftige Blicke auf Tisch und Melonenschalen werfen und im finsteren Flur absichtlich über leere Flaschen stolpern.
Ich antworte also: „Na ja, dieses Wochenende ist eigentlich schlecht, aber wenn du dir Montag schon frei genommen hast, krieg’ ich das schon irgendwie hin.“
Daraufhin sagt sie: „Danke! Sag’ Bescheid, wenn ich dir vorher noch was erledigen helfen kann“, sagt es so unironisch, dass es mich ganz warm überspült und ich mich auf ein Wochenende in Frankreich mit ihrem Exfreund und seiner schwangeren Frau freue.
Es ist bereits dunkel, als wir die Schottereinfahrt zu dem geduckten Häuschen hinabfahren, das Holger und Susanne für die Ferien gemietet haben. Die Kegel der Scheinwerfer huschen über das angrenzende Gestrüpp, ohne dass viel von der Umgebung auszumachen ist. Als ich das Auto neben Holgers Kombi parke, wird die Tür geöffnet und warmes Licht fällt auf den Rasen des Vorgartens. Holger kommt heraus und umarmt Marie, die sich lange an ihm festhält. Das liegt wohl an der langen Fahrt. Dann kommt er zu mir herüber, gibt mir die Hand und umarmt mich.
„Na, gut gefunden?“, fragt er und ich sehe nur das Blitzen seiner Zähne und Augen.
Er hilft uns, das Gepäck ins Haus zu tragen. Es riecht fremd. Er zeigt uns Bad, Küche und Wohnzimmer im Erdgeschoss. Es ist ferienhaushübsch mit viel zum Gucken, Tigerfell und staubige Trockenblumenarrangements.
Holger führt uns die Treppe hinauf und flüstert: „Susanne schläft schon“, dann öffnet er eine Tür und tätschelt den Türsturz wie den Hals eines sehr schartigen Pferdes. „Vorsicht: Kopf!“
Ich bücke mich tief unter dem Balken hindurch und stelle fest, dass ich mich auch im dahinterliegenden Zimmer nicht vollständig aufrichten kann. Holger knipst das Licht an und eilt zum Fenster, um es zu schließen. „Ich hoffe, es sind keine Mücken reingekommen.“
Alles ist mit Vogelstoff bezogen, Vogelsilhouetten auf himmelblauem Grund: der Einbauschrank, das Betthaupt, die Wände. An der linken Bettseite fliegen die Vögel sogar kopfüber.
„Oh, Vögelchen!“, sagt Marie.
Und hinter den Vögelchen ist es wattiert, wie ich beim Betasten der Wand feststelle. Sie fühlt sich klamm an, aber klamm ist immer nah an der Wahnvorstellung, denke ich mir und drücke nicht weiter auf der Wandbespannung herum, um nicht unnötig Sporen aufzuwirbeln.
Holger lacht. „Bittesehr, eure Gummizelle. Hier könnt ihr euch quasi hemmungslos austoben. Noch Fragen? Ich geh’ sonst auch schon ins Bett.“
„Alles klar“, antworte ich.
„Schlaf gut“, sagt Marie und dann schließt Holger die mit Vögelchen bespannte Tür hinter sich.
Ich setze mich aufs Bett. Es fühlt sich an, als würde die Matratze über mir zusammenschlagen.
„So, jetzt austoben?“, fragt Marie und lupft die Vögelchentagesdecke vorsichtig, als fürchte sie, ein Schwarm Tauben könne plötzlich darunter hervorstieben und sich in ihrem Haar verfangen. Ich rolle die Steppdecke zu einer strammen Wurst und deponiere sie auf der Kommode.
„Ich bin schon ziemlich ausgetobt.“ Ich blicke zu Marie hinab, die sich quer über’s Bett rollt und die Sandalen von den Füßen schleudert. Sie hat die letzten zwei Stunden im Auto geschlafen.
„Außerdem ist diese Gummizelle nicht schallisoliert“, füge ich hinzu, als ich höre, wie Holger im Nebenzimmer das Licht ausschaltet.
„Was glaubst du, was die denken, was wir an einem freien Wochenende in Frankreich tun?“, fragt Marie und dreht sich bäuchlings, um vom Bett aus in ihrem Koffer zu kramen.
„Außerdem: Susanne schläft und Holger weiß sowieso, wie ich mich anhöre.“
Sie spricht dies in den Koffer, doch dann hebt sie den Kopf, um mir in die Augen zu blicken.
„Ich muss was trinken gehen“, sage ich und verlasse die Vögelchenhöhle, um meinen heißen Kopf in den Kühlschrank zu stecken.
Als ich zurückkomme, ist Marie im Bad und ich gebe mir Mühe, eingeschlafen zu sein, bevor sie zurückkehrt.
Am nächsten Morgen erwachen wir trotz vormittäglicher Hitze eng aneinandergedrängt in der Mitte des breiten Bettes. Die Matratze hängt durch. Marie hat einen Kissenabdruck auf der Wange. „Zum Glück kein Vögelchen“, denke ich und küsse die roten Furchen.
„Du kratzt“, sagt sie und reibt sich vorwurfsvoll die geschundene Haut.
„Ich dachte, das macht’s irgendwie französischer“, antworte ich, weil mir schon auf der Fahrt klar geworden ist, dass ich meinen Rasierer auf dem unlackierten Küchentisch vergessen habe.
In diesem Moment trommelt es einen Dreivierteltakt gegen die Tür und Holger ruft: „Frühstück?“
Als ich noch feucht von der Dusche aus der Dunkelheit des Hauses trete, dauert es eine Weile, bis ich überhaupt etwas ausmachen kann, doch dann sehe ich Susanne am blendend weiß gedeckten Frühstückstisch sitzen, ihre schwarzen Haare hochgesteckt, ihre Lippen wie immer tiefrot bemalt, ein nacktes Bein auf einem der Holzstühle.
„Na endlich“, sagt sie und lächelt, „ich war schon fast verhungert.“
Sie hebt ihr Bein vom Stuhl, steht rasch auf und kommt auf mich zu. Ich bemühe mich, nicht auf ihren Bauch zu starren, der bei unserem letzten Treffen noch kaum zu sehen war. Sie umarmt mich fest und ich fühle ihre Schwangerschaft am ganzen Körper, versuche mich an den entsprechenden Stellen konkav zu wölben.
Holger tritt hinter mir ins Freie und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Marie ist noch im Bad? Dann können wir zwei ja schon mal Baguettes jagen gehen.“
Mit französischem Rap aus den Boxen geht es im klimatisierten Wagen in den nächsten Ort, in die „Boulangerie“, wie ich mehrmals heimlich vor mich hinmurmele.
„Bonjour“, sagt Holger in das Türklingeln hinein und dann noch einiges mehr, was ich aber nicht mehr verstehe, bis auf einiges „oui, oui“ und „bon“. Und natürlich „baguette.“ Der Bäcker lacht mit gelben Zähnen und dreht kuriose Kreise mit beiden Händen auf seinem Bauch. Ich versuche, für seine Teenager-Tochter, die gelangweilt Haarsträhnen zwirbelt, verwegen und schweigsam auszusehen. Wenn ich nun schon mal den Bart habe und neben dem parlierenden Holger stehe, der mir gerade bis zur Nasenspitze reicht. Ich wäre nicht der Erste, von dem sie sich an die mehlstaubige Wand der Vorratskammer nageln lässt, aber der erste, für den sie davor ihr Kaugummi ausspucken würde. Oui, oui, Monsieur.
Wir frühstücken unter Pappeln, wie Marie behauptet, nachdem sie eine längere botanische Diskussion für gewonnen erklärt hat. Marie, Holger und ich essen Rohmilchkäse und Susanne Foie Gras. Ich warte darauf, dass das Fett ihr Lippenrot auflöst, doch es geschieht nicht. Es strahlt genauso blendend wie am Morgen.
Holger fragt, ob wir uns heute ein Schloss ansehen wollen. Marie und ich blicken einander an, um uns gegenseitig unserer Faulheit zu versichern und schnell auszufechten, wer sie zugeben muss.
„Vielleicht morgen“, antwortet ich, weil man von mir nichts anderes erwartet, und so lungern wir schließlich den ganzen Tag auf Sonnenstühlen herum und jeder erscheint glücklich. Aktivitäten wie Federball und Frisbee werden in der Hitze schnell wieder einvernehmlich eingestellt. Die Dichte der Luft bremst jede Bewegung.
Marie und Holger reden über ihre Arbeit in der Kunsthalle, die Leihverträge und die Katalogtexte. Holger und ich reden über in Polen maßgeschneiderte Sprossenfenster für das Fachwerkhaus, das Susanne und er restaurieren. Ich soll eine Spezialtür bauen, die trotz schiefen Bodens unten dicht abschließt. Ich skizziere ihm eine Spezialkonstruktion mit Rollen und Zügen auf eine Serviette, die Marie später rahmen will, weil die Linienführung so filigran ist.
Susanne könnte natürlich mitreden, nicht über das Tagesgeschäft der Kunsthalle, aber über den städtischen Kulturbetrieb und Türen, doch sie tut es nicht. Sie tut eigentlich gar nichts. Manchmal liest sie eine Seite in ihrem Krimi, empfängt hin und wieder ein Glas Wasser oder einen Kuss von Holger, aber meistens liegt sie einfach nur da und betrachtet das Schattenspiel der Pappelblätter auf ihrem Busen und ihrem Bauch. Also betrachte auch ich meistens nur das Schattenspiel der Pappelblätter auf ihrem Busen und ihrem Bauch. Und das Rot auf ihren Lippen, das mir immer wieder als das Rot ihrer Lippen erscheinen will.
Als die Dämmerung hereinbricht, fühlen Marie und ich uns verpflichtet, zumindest das zum gemieteten Grundstück gehörende Gelände etwas zu erkunden und einen Spaziergang um den See zu machen. Wir folgen dem Pfad durch das trockene Gestrüpp und erreichen nach fünf Minuten einen grünen Tümpel, um den herum es hypnotisch surrt und brummt. Das Wasser hat sich in die Mitte zurückgezogen und an den Rändern schwarzen Schlamm mit schlierigen Brutpfützen hinterlassen. Überhaupt ist das gesamte Tal in diesem Jahr wegen der Hitzewelle nicht so lieblich wie sonst, hat mir Holger erklärt und ich erzähle es jetzt Marie.
„Wir waren schon mal hier in der Nähe,“ sagt sie und stochert mit einem Schilfhalm in der trüben Suppe, dann nehme ich ihre Hand und wir spazieren um den See, bis uns genug Mücken gebissen haben und wir die Flucht ergreifen. Doch der Ausflug hat sich gelohnt, denn als wir zurückkommen, wird uns bewusst, dass der Duft der Kletterrosen am Haus schwer in der Luft hängt.
Holger kocht Gemüseeintopf mit Huhn und weist jedem ein Gemüse zu, mit dem man sich zum Schälen und Schnibbeln an den runden Esstisch setzen darf. Dort schneidet Marie das Thema zum ersten Mal an. „Und dir geht es gut hier, auch mit der Hitze und so?“
Susanne lächelt, nicht für uns, sondern für sich. „Es geht mir ganz ausgezeichnet. So könnte ich gerne noch länger bleiben.“
Sie lässt eine Hand auf ihren Bauch sinken und ich senke meinen Blick auf die Karotten. Auch mein Hören richte ich geflissentlich auf das Schaben und Hacken des Putzmessers, bis Holger mich gnädig in den Garten schickt, um Rosmarin und anderes Kraut zu pflücken.
„Alles, was dir essbar erscheint“, sagt er und klopft mir hilfreich auf die Schulter.
Während des Essens wird wieder über andere Dinge gesprochen – über den Kulturetat der Stadt. Ich erzähle, wie ich dem Oberbürgermeister bei der Eröffnungsfeier ein Becks Gold servieren durfte und mich dabei fragte, ob er vor versammelter Presse nicht lokales Bier trinken müsse. Außerdem beobachte ich, wie Susanne Spuren an ihrem Glas hinterlässt. Sie scheint sich Mühe zu geben, ihre Kussmünder gleichmäßig am Rand zu verteilen. Und obwohl sie auf diese Weise viel Fläche färbt, bleibt das Rot ihres Munds das gleiche, als blute es aus einem Reservoir im weichen Gewebe ihrer Lippen durch unsichtbare Poren nach außen.
Marie sagt, man sehe Susanne an, dass es ihr gut geht, gute Durchblutung, Prallheit, Haare und alles, und dass sie auch so einen Busen möchte. Daraufhin melde mich freiwillig zum Spülen.
Ich hebe Susannes Glas aus dem Becken, wo die anderen Gläser klingend gegeneinandertreiben, hebe es am Stiel hoch, betrachte den rotverzierten und schaumbekränzten Rand und atme aus. Mit der dunkelgrünen Seite des Schwamms fahre ich an Innen- und Außenseite des Glases entlang. Der erste Umlauf verschmiert die roten Münder, die einzeln sichtbaren Lippenfurchen, zu einer hellroten Schliere mit Schrubbseitenstruktur. Der zweite Umlauf und ein erneutes Eintauchen ins Wasser lassen das Glas blank zurück. Als ich mit der gelben Seite nachreibe, quietscht es beruhigend.
Ich spüle versunken die restlichen Gläser, die Teller und den Topf, dann bringe ich den Müll raus. Zumindest versuche ich es, denn auf dem Weg zur Haustür geht mir die Mülltüte kaputt. Einen schrecklichen Augenblick lang spüre ich den Plastikbeutel reißen und weiß, ich kann nicht mehr verhindern, dass mir der ganze Mist gleich auf die Füße fällt. Und dann spüre ich auch schon den feuchten Kaffeesatz zwischen den Zehen. Die anderen lachen, aber mir ist flau.
Holger hilft mir, die Folgen des Unfalls zu beseitigen und ich gehe rauchen, um mich zu beruhigen.
Ich sitze auf der Bank und pule Späne aus dem verwitterten Holz zwischen meinen Beinen. Dann tritt Susanne neben mir aus dem Haus. Ich sehe ihre Silhouette nur aus dem Augenwinkel, spüre ihr Gravitationsfeld in Höhe meines Kopfes. Sie atmet tief ein, schwere Luft und nahezu flüssigen Rosendunst, und spreizt Zeige- und Ringfinger der linken Hand zu einem V. Ich lasse Asche auf die Bodenplatten fallen und übergebe ihr meine Zigarette. Susanne lehnt sich gegen die Hauswand und inhaliert drei mal in kurzen Abständen. Ich zerreibe währenddessen die Asche unter meinen Sohlen und denke an die roten Läuse, die ich auf dem grobporigen Stein der Hauswand beobachtet habe.
Als sie mir die Zigarette zurückreicht, sehe ich nicht auf, sondern betrachte nur den fettglänzenden Ring um den Filter. Die Tür fällt neben mir ins Schloss und ich kann das elastische Federn der weiß lackierten Bretter fühlen. Ich drehe die Kippe auf der Bank aus und beerdige sie im Rosenbeet.
Als Marie aus dem Haus tritt und sich vor mich stellt, schiebe ich ihr T-Shirt hoch und berge mein Gesicht an der kühlen Haut ihres Bauches. Summend fährt sie mit den Fingern durch mein Haar, vom Nacken bis zum Wirbel und fragt dann: „Kommst du mit ins Bett?“
Im Bett küsse ich sie, bis ihr Mund rot ist. Ihr Körper ist noch immer kühl und vielleicht sogar etwas feucht. Ich weiß es nicht, vielleicht sind es auch meine eigenen Hände. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und haucht warme Luft an mein Ohr, doch dann höre ich etwas aus dem Nebenzimmer.
Ich lege Marie zwei Finger auf den Mund und halte selbst den Atem an.
Sobald sie hört, was ich höre, kichert sie, doch als sie den Ausdruck auf meinem Gesicht sieht, verschwindet schlagartig alles Schalkhafte aus ihren Augen.
Ich lasse mich lautlos neben ihr aufs Bett sinken. Sie zieht das Laken unters Kinn und verschränkt die Arme über der Brust. So liegen wir nebeneinander, ohne uns zu berühren, starren an die Vögelchendecke und lauschen, wie Susanne und Holger miteinander schlafen.
Es ist effizienter Sex. Es wird nicht gesprochen und sie sind nicht laut – sie müssen weder uns noch sich selbst etwas beweisen – trotzdem kann ich jeden Atemzug, jedes Härchen, das sich unter einer Berühung aufrichtet, hören und stelle mir vor, wie Susanne rote Flecken auf Holgers Gesicht, auf den Geheimratsecken, den Ohren und seinem Körper verteilt, wie eine ansteckende Kinderkrankheit.
Als es nichts mehr zu hören gibt, knipst Marie das Licht aus und dreht mir den Rücken zu.
Das Laken ist zusammengedreht um meinen Körper gewunden. Ich habe schlecht geschlafen, wohl von Vögeln und Mülltüten geträumt, und Marie hat mich nicht geweckt.
Als ich in den Garten hinaustrete, ist der Frühstückstisch bereits abgeräumt. Holger sitzt auf der Bank, aber die Rosen duften tagsüber nicht. Er trägt ein beiges Fischerhütchen und liest französische Zeitung.
„Gut geschlafen?“, fragt er. Ich nicke.
„Wo sind denn die Frauen?“
Er bedeutet es mir mit einer Bewegung des Kopfes.
Ich finde sie im Schatten der Bäume hinterm Haus. Sie liegt mit angezogenen Beinen auf dem Sonnenstuhl und Marie sitzt im gelben Mädchenkleid im hohen Gras neben ihr. Sie hat ihren kleinen, blonden Kopf auf Susannes Bauch gelegt, auch ihre Hände, mit gespreizten Fingern, als wolle sie ihn ganz umfassen.
Marie strahlt, als sie mich erblickt und winkt mich aufgeregt heran. „Komm doch mal! Fühl doch mal!“
Susanne fängt eine gelockte Haarsträhne, die eine Brise ihr ins Gesicht weht, wo sie auf der Lippe haften bleibt, und streicht sie sich hinters Ohr. Sie lächelt mich ruhig an.
Ich sehe mich mein struppiges Gesicht auf diese schimmernde Kugel legen und als ich mir vorstelle, dass es dort eine Bewegung zu fühlen gibt, rauscht das Blut so laut in meinen Ohren, dass es mir scheint, als würden die Pappeln von einem heftigen Windstoß geschüttelt.
„Ich glaube, wir müssen jetzt los, wenn wir das Schloss heute noch sehen wollen.“
Wir fahren an Maisfeldern mit Mohnblumen entlang und halten kurz, um ein paar Kolben zu brechen, aber es ist nur Futtermais.
Trotz geöffneter Fenster ist es jetzt sehr heiß im Auto. Marie hat ihre nackten Füße gegen das Handschuhfach gestemmt, so dass ihr Kleid die Oberschenkel bis zum Unterleib entblößt. Sie rollt ihren Kopf träge auf der Nackenstütze, wenn sie ihren Blick von der Landschaft zu mir wendet.
Ich ziehe mein T-shirt aus, während sie das Lenkrad festhält. Dann gieße ich mir französisches Wasser aus edler Quelle über den Kopf und denke mit Unbehagen darüber nach, wie der Schaumstoff des Fahrersitzes meinen Schweiß in sich aufsaugt. Endlich tauchen wir in den Schatten des dichten Jagdwaldes ein und ich halte nach Hirschen Ausschau.
Im Schloss versuche ich lange, die doppelte Wendeltreppe zu denken und Marie macht tausend Fotos von tausend verschiedenen Winkeln der wunderlichen Stadt auf dem Schlossdach.
Der Garten ist geometrisch und das Gras gelb und so lagern wir ein paar Kilometer weiter neben einer Betonbrücke am Flussufer. Marie sitzt, die Hände hinter sich in den Kies gestützt und sucht im glitzernden Wasser nach Fischschatten. Ich liege auf dem Rücken und habe meinen Kopf in ihren Schoß gebettet.
„Holger hat den Hausmenschen gefragt, was das für Bäume sind. Es sind wirklich Pappeln.“
„Glückwunsch“, antworte ich und schließe die Augen.
„Hast du nicht gesagt, du wolltest dich anmelden, für einen Französischkurs? Das ist jetzt bestimmt auch schon ein Jahr her.“ Sie bewegt ihr Becken, weil es ihr unbequem ist.
„Schon möglich“, sage ich und richte meinen Oberkörper wieder auf.
Sie blickt mich an, als warte sie, dass ich noch mehr dazu sage, doch dann setzt sie sich zurecht und drückt meine Schultern sanft herunter, bis mein Kopf wieder in ihrem Schoß zu liegen kommt.
„Erzähl mir, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben.“ Sie streicht mir die Haare aus der Stirn.
Ich bin kooperativ und erzähle ihr, wie wir uns am Abend der Vernissage zum ersten Mal geküsst haben und dass ich mir damals nicht sicher war, ob es in mir toste, weil wir unter der tonnenschweren, mit Echtfell bezogenen Pferdekadaverplastik standen, die von der Decke baumelnd „kreatürliche Präsenz“ erzeugte, oder ob es die kreatürliche Präsenz von Maries kleinem Körper war, der sich an meinen drängte. Und ich erzählte ihr, wie ich Wochen zuvor geflucht hatte, als wir die Kadaverskulptur in unser Spezialgerüst einhängen mussten. "Muss Kunst so schwer sein?", hat mein Chef geschimpft.
„Mein kleiner Kunstbanause“, sagt Marie, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich.
Ich streiche ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht geweht ist, hinters Ohr und drehe mich auf die Seite, damit ich, das Ohr im Tal zwischen ihren Hüftknochen, Verdauungsgeräuschen lauschen kann.
Nach dem mehrgängigen Abendessen, das Holger in unserer Abwesenheit vorbereitet hat, trinken wir noch mehr Wein aus dem Kanister und gucken einen französischen Film, in dem zarte Knaben und noch zartere Mädchen nackt in großen weißen Betten liegen und miteinander reden.
„Macht es dir wirklich nichts aus? Wenn du dich langweilst, können wir auch Skat spielen“, bietet Holger an.
Doch es macht mir wirklich nichts aus. Ich kann nicht Skat spielen und ich langweile mich auch nicht, denn ich lese Susannes Schwangerschaftsbuch. Ich sehe mir Bilder von halbierten Frauen mit ganzen Föten an und vermeide die letzten Kapitel mit den Bildern über Geburt und hässlichen, roten Babys. Ich lese über die Veränderungen des Körpers. Das mit den Brüsten sehe ich selbst, doch ich erfahre auch, dass sich die Brustwarzen dunkler färben und dass ein Schleimpfropf den Gebärmutterhals verschließt. Ich lese mehrmals Schleim, Schleim und pfropfpfropfpfropf und erhoffe mir therapeutische Wirkung davon. Dann steht Susanne auf und macht sich einen Tee aus geheimen Kräutern.
„Lass mich mal probieren“, sagt Marie und als ich darüber nachdenke, dass sich das Rot von Susannes Tasse an Maries Lippen heften könnte, muss ich wieder an den Müllsack denken. Es fühlt sich an, als würde ich selbst unten aufreißen und alles Lebenswichtige fiele aus mir heraus, ohne dass ich etwas dagegen ausrichten kann. Doch Marie trinkt von der anderen Seite der Tasse und ich lasse das Buch erleichtert sinken.
Susanne sitzt wieder neben Holger, der jetzt die linke Hand auf ihren Bauch gelegt hat. Der Schein des Fernsehers fängt sich bläulich in ihrem Haar und flackert in ihren Augen. Holger legt seinen rechten Arm um ihre Schulter, zieht sanft die zarten Locken, die sich am Nacken aus ihrer Frisur gelöst haben, zwischen den Fingern glatt. Dann lässt er die Hand auf ihren vollen Oberarm sinken, wo er mit den Fingern die Impfnarbe streichelt. Diese Narbe sieht mit dem horizontalen Strich in der Mitte und den radialen Fältchen selbst aus wie ein kleiner Kussmund. Sie schillert silbrig und manchmal ist sie dunkel wie ein Loch. Ich frage mich, ob man sie spüren kann, wenn man mit den Lippen oder mit der Zunge darüberfährt.
Susanne schiebt den enganliegenden Stoff ihres Oberteils bis unter den Busen hoch und Holger massiert Öl auf ihren Bauch, der nun ebenfalls von blauen Lichtreflexen bekrönt wird. Mein Blick folgt der dunklen Linie vom Nabel bis zu der Stelle, wo sie im weichen Bund der Hose verschwindet, dann blicke ich mich zu Marie um, die neben mir im Sessel sitzt und sehe, dass sie dasselbe betrachtet. Als sie sich zu mir wendet, senke ich den Blick schnell in das Schwangerschaftsbuch.
Als wir wieder in der Vögelchenhöhle liegen, schmiege ich mich von hinten eng an Marie, so wie ich es auf einem Bild im Schwangerschaftsbuch gesehen habe, und umfasse ihre kleinen Brüste. Ich küsse ihren Nacken und ihren makellosen Arm und wir schlafen ein, noch bevor die Geräusche aus dem Nebenzimmer verstummen.
Am Morgen werfe ich unser Gepäck in den Kofferraum und Marie ordnet die CD-Sammlung im Handschuhfach, als Susanne und Holger aus dem Haus zu uns herüber kommen. Holger reicht mir einen Leinenbeutel. „Ich hab’ euch Proviant eingepackt.“
Ich sage „danke“ und umarme ihn, dann lasse ich mich von Susanne umarmen, spüre ihre warmen Brüste und ihren Bauch und rieche den süßen Duft des Massageöls. Ich hatte gehofft, so früh am Morgen wäre das Lippenrot noch nicht da, dann könnte ich mir sicher sein, dass es doch nur aufgemalt ist.
„Danke für alles und ... alles Gute“, sage ich.
Holger und Susanne umarmen Marie und dann sitzen wir auch schon im Auto.
„Alles bereit?“, fragt Marie und auf ihrer Wange prangt ein roter Striemen, der aussieht wie eine Prellung. Ich wische den Lippenstift erst mit dem Daumen und dann mit dem Handballen ab.
„Hm“, sage ich und starte den Motor.