Wie jedes Mal
Der Dom ist leer.
Eine friedliche Ruhe liegt über dem hellen, mit kunstvollen Säulen, Skulpturen und Bildnissen reichlich verzierten Hauptschiff, das anmutet, als wäre es seit Jahrzehnten weder betreten worden noch ansatzweise dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.
Unbemerkt, fast schwebend, bewegen sie sich durch den Gang; zwei Gestalten von makelloser Schönheit, weichen Zügen und vollendeten Körpern, nahezu surreal und dennoch aus Fleisch und Blut. Im Einklang mit sich und ihrer Umgebung schreiten sie leise voran, mal sich leicht an den Händen berührend, mal intensive Blicke austauschend, doch immer zielstrebig auf den Altar zu, der sie einladend erwartet, als wolle auch er sich an ihrer Schönheit erfreuen.
Kein Laut kommt über ihre Lippen, kein Geräusch stört den Augenblick. Nur die Sonne wagt es, ihre weichen Strahlen durch die gläsernen Kirchenfenster zu senden, um ihre schlanken Körper zu umschmeicheln und ihre Schultern und entblößten Arme in helles Licht zu tauchen. Sicher spüren sie die Wärme auf ihrer gebräunten Haut und unter dem fließenden Stoff ihrer mit Goldborte und Stickereien verzierten Gewänder, doch ist sie nichts verglichen mit der Glut in ihren Herzen, die sich durch das Leuchten ihrer dunklen Augen lediglich erahnen lässt.
Fast regungslos sind ihre Gesichter, ruhig, bedacht ihre Schritte, doch tief in ihnen brennt das Feuer der Leidenschaft, und nur hier werden sie ihm nachgeben können. Nur hier, im leeren Dom, werden sie ihrem Verlangen erliegen und das Ritual vollenden können, das sie seit Jahren verbindet und das sie hier und heute trennen wird.
Für immer.
Sie beide wissen um das dunkle Vermächtnis, das sie in sich tragen, und doch schreiten sie unaufhörlich voran, nähern sich dem Altar, ohne sich auch nur eine Sekunde voneinander zu lösen. Nichts wird sie aufhalten, denn nun ist der Augenblick gekommen, auf den sie so lange gewartet haben ...
Sie stehen vor dem Altar, einander zugewandt, berühren sich an den Händen, und wie von Geisterhand weht ein Windzug durch den Dom, spielt mit ihrem langen dunklen Haar, verfängt sich in einzelnen Strähnen, um gleich darauf seinen Weg durch das riesige Kirchenschiff fortzusetzen, als wage auch er nicht, die beiden Gestalten aufzuhalten.
Wortlos sehen sie sich an, streichen mit federleichten Berührungen über die Hände des Anderen, die Arme hinauf, jede Sehne und jeden Muskel mit den Fingerspitzen nachzeichnend, jedes feine Härchen liebkosend und mit jedem Zentimeter die steigende Erregung des anderen spürend.
Immer schneller schlagen ihre Herzen, eine wohlige Gänsehaut prickelt über ihre Haut; stumme Zeugin des unbändigen Verlangens, das sie aufeinander zutreibt wie Magneten, die nur in der Berührung eine annähernde Erlösung finden. Doch bringt sie nur den Drang nach mehr; nach weiteren, innigeren, intimeren Momenten, nach zärtlichen Küssen und leidenschaftlichen Seufzern, nach Nähe und Wärme und dem einen glückseligen Augenblick, den nur das Eine ihnen geben kann: ihre Vereinigung.
Mit fließenden Bewegungen sinken sie hinunter auf die Knie, ungewahr der Kälte des marmornen Kirchenbodens, die Blicke noch immer aufeinander gerichtet, als würde sie nichts auf dieser Welt davon abhalten können, im Antlitz des Anderen zu versinken. In der Schönheit und Unendlichkeit dieses Momentes, im Rausch der Sinne, im Streben nach Vollendung, in - ewiger Liebe.
Denn nichts anderes verbindet sie. Nur die Liebe. Nur das eine wahre Gefühl, das Berge versetzen und alles verändern kann. Die Macht hinter allem, die größte Stärke und Schwäche zugleich. Doch genügt es für diesen einen Abend, diese eine Nacht. Denn nichts zählt jetzt mehr - alles ist vergessen und unwichtig, angesichts dieses Augenblickes.
Fast geräuschlos bewegt sich der Stoff ihrer Gewänder über ihre Haut, umschmeichelt ein letztes Mal ihre Schultern, ihre Brust, ihre Hüften und ihre schlanken Beine, um dann auch den letzten Kontakt zu ihren makellosen Körpern zu verlieren und kunstvoll in Falten drappiert den steinernen Boden zu bedecken; ein seidiger Teppich, wie eigens für diesen Zweck geschaffen.
Sie betrachten sich. Voller andächtiger, tiefer Bewunderung schwebt ihr Blick über das jeweilige Gegenüber, zeichnen jede Erhebung und Vertiefung in Gedanken nach, saugen jede Einzelheit begierig in sich auf, um nach kurzem Verweilen weiter zu wandern und dann schließlich erneut im Fenster zur Seele des Anderen zu versinken.
Sie kennen den Körper des anderen. Haben sie ihn doch schon so oft begehrt, angebetet, voller Leidenschaft mit ihren Blicken verschlungen, in dem Wissen, ihn eines Tages wirklich berühren zu können. Ihn zu ertasten, zu erkunden und zu liebkosen, selbst die Stellen, die ihren sehnsüchtigen Fingern bisher vorenthalten waren und die sie nur in ihren Träumen hatten spüren können.
Und dieser Tag ist heute.
Ohne die Augen voneinander zu lösen, nähern sie sich einander, berühren sich weiter, erforschen jeden Millimeter mit sanften Fingerspitzen, spüren ihn und nehmen seinen Duft tief in sich auf, verlieren sich in seiner aphrodisierenden Wirkung, nur um immer noch mehr zu wollen.
Sie erbeben, nicht nur innerlich, auch nach außen sichtbar für jeden - würde dort jemand anderer sein als der Zitronenfalter, der seinen Weg durch eines der zerbrochenen Kirchenfenster gefunden hat und für einen Wimpernschlag dicht über ihnen scheinbar innehält, um seinen Weg dann mit leisen Flügelschlägen fortzusetzen, ungewahr der beiden Liebenden.
Doch sie haben nur Augen für sich. Längst trennen nur noch Millimeter ihre Gesichter, während sie sich kaum merklich aufeinander zubewegen, die Hände eng umschlungen, die Finger unmöglich ihrem Besitzer zuordenbar.
Es ist, als knisterte die Luft zwischen ihnen, als sprängen unsichtbare Funken hin und her, bereit, ihre bebenden Lippen zu entflammen, noch ehe sie sich berührten.
Ein letztes Zögern. Ein letzter, kurzer Moment des leisen Zweifels, dann treffen sich ihre Lippen, nur für eine Sekunde, um sich wieder voneinander zu lösen und sofort erneut sanft miteinander zu verschmelzen. Vergessen sind alle Warnungen vor dieser Vereinigung, nimmt doch das unbändige Verlangen nach dem Anderen unaufhaltsam zu, drängt sie weiter, immer weiter. Mit jeder noch so leichten Bewegung, jedem kaum hörbaren Seufzen, jedem Zittern wächst es, treibt sie jenseits der letzten Gelegenheit zur Umkehr.
Wieder und wieder berühren sie sich, fühlen, spüren, riechen und schmecken den Anderen, verinnerlichen ihn mit allen Sinnen, necken und fordern ihn zum spielerischen Duell um die Vorherrschaft auf dem so begehrten Territorium.
Kaum hörbar sind ihre Geräusche, nur ein leises Echo ertönt hin und wieder von den steinernen Mauern, als ihre Küsse drängender werden, intensiver und leidenschaftlicher, ihre Hände weiter wandern über samtige Haut und Stellen, die den Anderen erzittern und unterdrückt aufstöhnen lassen, ob der Gewalt der Empfindungen, die ihn dabei ergreifen.
Niemand sieht die wohlige Gänsehaut, die sich aufstellenden Härchen überall an ihrem Körper, als sie sich wieder ansehen, sich mit leisem Lächeln auf den Stoff ihrer Gewänder sinken lassen und dem Drängen ihrer Körper endlich nachgeben.
Nichts kann sie jetzt noch aufhalten, das zu tun, wonach alles in ihnen verlangt; jede Faser, jede Sehne, jeder Nerv ist nur darauf ausgerichtet, ihre Vereinigung zu vollenden, sich Körper und Geist des Anderen so weit es geht zu nähern, Eins zu werden im Verbund inniger Gefühle und Liebe. Es ist, als wäre die ganze Welt Zeuge ihrer betörenden Macht, und doch ist niemand dort außer den jahrhundertealten Steinen und hier und da einem kleinen Kriechtier, das seiner Wege geht.
Leise Schatten huschen über die seidige Haut des Einen, betonen seine Rippen, die geschmeidigen Muskeln, die durch jeden flachen Atemzug ein neues Muster auf seine Haut zeichnen, als er sich nach hinten legt, bereit, sich dem Anderen vollkommen hinzugeben. Er schließt die Augen und spürt nur noch den Hauch des heißen Atems an seinem Hals, sanfte Fingerspitzen auf seinem Oberkörper, seiner Seite, seiner Hüfte, spürt die Erregung in sich aufsteigen, verstärkt durch jede weitere Berührung.
Nichts anderes bestimmt sein Denken als das Verlangen nach mehr. Ist es doch Nahrung für seinen hungernden Körper, seine dürstende Seele, seine unstillbare Begierde, ungeachtet dessen, was der Morgen bringen wird.
Er spürt den kühlen, steinernen Boden an seinem Rücken, doch nicht kühl genug, um seinem erhitzten Fleisch Erleichterung zu verschaffen. Ist doch nichts in der Lage, das Feuer in ihm zu löschen, außer der Vollendung des Rituals, der Augenblick vollkommenen Glücks.
Leise seufzend reckt er sich dem Anderen entgegen, um noch mehr Berührungen zu erfahren, sein Verlangen nach den überwältigenden Eindrücken zu stillen, die ihn bei jedem Kontakt mit seiner Haut überrollen und auf die er nie wieder verzichten will. Sie bestimmen sein Handeln, sein Fühlen, sein Denken, und es ist, als würde er jedes Mal auf's Neue sterben, um im nächsten Augenblick wiedergeboren zu werden.
Und wieder.
Und wieder.
Nein, denkt er, es darf niemals aufhören.
Und das tut es auch nicht. Denn schon ist der Andere wieder über ihm, küsst seine weichen Lippen, streicht mit seiner warmen Zunge über sie, liebkost sie, um zärtlich tiefer einzutauchen, als er sie bereitwillig für sie öffnet. Und schon spürt er es wieder ... das lebendige Sterben, das umso intensiver wird, als er den Körper seines Geliebten an sich spürt, die heiße Haut an der seinen und wenig später dessen Erregung, als er ... -
Schweißgebadet schrecke ich hoch. Alles, was ich höre, ist der Presslufthammer in meinem Kopf, der ihn im nächsten Moment zum Zerbersten bringen wird.
Ich sehe mich hektisch um. Ah. Gut, ich bin im Bett in meinem Schlafzimmer. Niemand hier außer mir und meiner Frau. Sie liegt neben mir und wirft mir einen besorgten Blick zu.
"Alles okay", sage ich schnell und ringe mir ein Lächeln ab. Sie kann ja nichts dafür und verstehen würde sie es auch nicht. Wie auch?
Ich warte, bis sie sich umgedreht hat und sinke dann wieder auf mein Kopfkissen zurück. Es ist vorbei. Ich bin wach. Und in wenigen Minuten wird sich mein Herz wieder beruhigt haben und mein Schädel wieder klar denken können. So wie jedes Mal.
Ich nicke in den dunklen Raum hinein. Es ist alles in Ordnung. Morgen ist ein neuer Tag, und ich werde arbeiten gehen und danach zum Sport, oder vielleicht mal wieder in's Kino? Ja, Kino wäre schön.
Seufzend schließe ich die Augen und lausche meinem allmählich ruhiger werdenden Herzschlag. Vielleicht rufe ich ihn morgen an. Und was sage ich ihm?
Nichts. Wie jedes Mal.