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Wieder einmal bei dir
Ich habe wieder einmal an deiner Tür geklopft und wieder einmal warst du nicht zu Hause. Ich stand unschlüssig ein paar Minuten auf deinem gelben Fußabtreter mit dem schwarzen Hundekopf darauf, war knapp dran, eine Zigarette anzuzünden und ging dann doch wieder, ohne die kalten Spuren einer verglimmten Zigarette auf dem Holz deiner Eingangstür zu hinterlassen.
Du weißt noch gar nicht, dass ich wieder angefangen habe. Aber ich konnte nicht anders. Schieb es auf eine orale Fixierung, aber nachdem mein Mund deine Lippen verloren hatte, brach eine Einsamkeit über ihn herein, die ich irgendwie bekämpfen musste. Und auch, wenn du nach Erdbeeren geschmeckt hast und sich insofern Erdbeerkaugummis als Ersatz angeboten hätten, habe ich doch wieder zu den Zigaretten gegriffen. Selbstverstümmelung spielt sicher auch eine Rolle.
Vielleicht steige ich demnächst auf Pfeifen um. Das nachdenkliche Paffen einer Pfeife in einem verdunkelten Raum am Nachmittag hat mehr Tragik. Und du wirst mich erkennen, wenn ich wieder einmal vor deiner Türe gestanden bin. Ich werde Tabak mit Vanillearoma rauchen. Riech an den Ritzen deiner Tür, riech an deinem Fußabtreter. Dort werde ich sein.
Weißt du, dass ich auch jeden Tag die Todesanzeigen in der Zeitung überfliege? So weit hast du mich gebracht. Vielleicht bist du nur auf Urlaub, vielleicht bist du in eine andere Wohnung gezogen, aber vielleicht lese ich auch einmal deinen Namen in der Zeitung. Ich bin schon zu oft vor deiner verschlossenen Tür gestanden um diese Möglichkeit zu verwerfen. Ich hoffe, dass es dir gut geht, aber ich wäre nicht überrascht, wenn ich eines Tages vor deinem Grab stehen müsste.
Ich würde natürlich kommen. Vielleicht nicht unbedingt zum Begräbnis. Ich denke, dass dein Vater immer noch wütend auf mich ist, zu Recht. Du hast es ihm nie gesagt, aber er ahnt etwas, da bin ich mir sicher. Ich würde seine Trauer stören. Ich würde wahrscheinlich auch deine Trauer stören. Die Trauer darüber, nicht mehr am Leben zu sein. Denn wenn du mich spüren würdest, dort bei der Beerdigung, am Sarg, dann hättest du wohl einen Grund, nicht in Trauer, sondern mit einer gewissen Erleichterung aus dieser Welt zu scheiden. Und das würde mich umbringen.
Nein, ich würde später einmal kommen. Am Abend, wenn es schon dunkel wird und die Friedhofsgeher langsam ihre letzten Runden um die Gräber kreisen. Dann würde ich kommen und mit dir reden. Unter vier Augen. Nur wir zwei. Ich würde meine Pfeife rauchen. Du kannst mich ja nicht sehen, aber vielleicht kannst du mich da unten riechen. Vanille, du weißt. Ich würde dir dann sagen, dass es mir leid tut. Dass ich nicht ungeschehen machen kann, was geschehen ist. Dass ich nun ein anderer Mensch bin, der sich seiner Verantwortung bewusst ist, der sie kennt und wahrnimmt. Ich habe dazugelernt. Unser Kind kann ich natürlich nicht zurückbringen, aber ich kann es nun zumindest betrauern. Ich liege oft mit wachen Augen und müdem Geist im Bett, schlaflos, traumlos, und frage mich, ob es wohl die guten Eigenschaften von dir bekommen hätte und was ich ihm hätte mitgeben können.
Ich hätte dich nicht drängen dürfen. Ich war unsensibel, das gebe ich nun zu. Und nachdem du stur geblieben bist, bin ich wütend geworden. Und grausam. Nie hätte ich gedacht, dass ich zu derartigen Gräueltaten fähig bin. Aber ich bin es. Den Beweis spülte ich damals in der Toilette hinab, aber die Konsequenz daraus sehe ich jeden Tag vor mir in Form einer verschlossenen Tür.
Ich habe lange nachgedacht. Ich wäre nun bereit, ein Kind zu adoptieren und es als das meine anzunehmen. Wirklich. Gib mir nur eine Chance, dann bekommst du das Kind, das ich dir in meiner Angst vor dieser neuen, scheinbar viel zu großen Verantwortung verwehrt habe. Es muss nicht von dir geboren werden, um deines zu sein. Wir können Kinder haben. Du kannst Kinder haben.
Ich werde morgen wieder zu dir fahren. Nachdem ich die Todesanzeigen durchgeblättert habe.
So wie jeden Tag.