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Wieder einmal bei dir

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03.07.2006
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Wieder einmal bei dir

Ich habe wieder einmal an deiner Tür geklopft und wieder einmal warst du nicht zu Hause. Ich stand unschlüssig ein paar Minuten auf deinem gelben Fußabtreter mit dem schwarzen Hundekopf darauf, war knapp dran, eine Zigarette anzuzünden und ging dann doch wieder, ohne die kalten Spuren einer verglimmten Zigarette auf dem Holz deiner Eingangstür zu hinterlassen.

Du weißt noch gar nicht, dass ich wieder angefangen habe. Aber ich konnte nicht anders. Schieb es auf eine orale Fixierung, aber nachdem mein Mund deine Lippen verloren hatte, brach eine Einsamkeit über ihn herein, die ich irgendwie bekämpfen musste. Und auch, wenn du nach Erdbeeren geschmeckt hast und sich insofern Erdbeerkaugummis als Ersatz angeboten hätten, habe ich doch wieder zu den Zigaretten gegriffen. Selbstverstümmelung spielt sicher auch eine Rolle.

Vielleicht steige ich demnächst auf Pfeifen um. Das nachdenkliche Paffen einer Pfeife in einem verdunkelten Raum am Nachmittag hat mehr Tragik. Und du wirst mich erkennen, wenn ich wieder einmal vor deiner Türe gestanden bin. Ich werde Tabak mit Vanillearoma rauchen. Riech an den Ritzen deiner Tür, riech an deinem Fußabtreter. Dort werde ich sein.

Weißt du, dass ich auch jeden Tag die Todesanzeigen in der Zeitung überfliege? So weit hast du mich gebracht. Vielleicht bist du nur auf Urlaub, vielleicht bist du in eine andere Wohnung gezogen, aber vielleicht lese ich auch einmal deinen Namen in der Zeitung. Ich bin schon zu oft vor deiner verschlossenen Tür gestanden um diese Möglichkeit zu verwerfen. Ich hoffe, dass es dir gut geht, aber ich wäre nicht überrascht, wenn ich eines Tages vor deinem Grab stehen müsste.

Ich würde natürlich kommen. Vielleicht nicht unbedingt zum Begräbnis. Ich denke, dass dein Vater immer noch wütend auf mich ist, zu Recht. Du hast es ihm nie gesagt, aber er ahnt etwas, da bin ich mir sicher. Ich würde seine Trauer stören. Ich würde wahrscheinlich auch deine Trauer stören. Die Trauer darüber, nicht mehr am Leben zu sein. Denn wenn du mich spüren würdest, dort bei der Beerdigung, am Sarg, dann hättest du wohl einen Grund, nicht in Trauer, sondern mit einer gewissen Erleichterung aus dieser Welt zu scheiden. Und das würde mich umbringen.

Nein, ich würde später einmal kommen. Am Abend, wenn es schon dunkel wird und die Friedhofsgeher langsam ihre letzten Runden um die Gräber kreisen. Dann würde ich kommen und mit dir reden. Unter vier Augen. Nur wir zwei. Ich würde meine Pfeife rauchen. Du kannst mich ja nicht sehen, aber vielleicht kannst du mich da unten riechen. Vanille, du weißt. Ich würde dir dann sagen, dass es mir leid tut. Dass ich nicht ungeschehen machen kann, was geschehen ist. Dass ich nun ein anderer Mensch bin, der sich seiner Verantwortung bewusst ist, der sie kennt und wahrnimmt. Ich habe dazugelernt. Unser Kind kann ich natürlich nicht zurückbringen, aber ich kann es nun zumindest betrauern. Ich liege oft mit wachen Augen und müdem Geist im Bett, schlaflos, traumlos, und frage mich, ob es wohl die guten Eigenschaften von dir bekommen hätte und was ich ihm hätte mitgeben können.

Ich hätte dich nicht drängen dürfen. Ich war unsensibel, das gebe ich nun zu. Und nachdem du stur geblieben bist, bin ich wütend geworden. Und grausam. Nie hätte ich gedacht, dass ich zu derartigen Gräueltaten fähig bin. Aber ich bin es. Den Beweis spülte ich damals in der Toilette hinab, aber die Konsequenz daraus sehe ich jeden Tag vor mir in Form einer verschlossenen Tür.

Ich habe lange nachgedacht. Ich wäre nun bereit, ein Kind zu adoptieren und es als das meine anzunehmen. Wirklich. Gib mir nur eine Chance, dann bekommst du das Kind, das ich dir in meiner Angst vor dieser neuen, scheinbar viel zu großen Verantwortung verwehrt habe. Es muss nicht von dir geboren werden, um deines zu sein. Wir können Kinder haben. Du kannst Kinder haben.

Ich werde morgen wieder zu dir fahren. Nachdem ich die Todesanzeigen durchgeblättert habe.

So wie jeden Tag.

 

Roderich schrieb über die Geschichte:

Salut,

ich bin hier neu und das hier ist mein Einstand hier. Durch einen Bekannten bin ich auf das Forum aufmerksam geworden. Bin schon auf diversen Gedichteforen tätig, aber nachdem ich doch eher aus der Prosaecke komme, scheint mir dieses Forum genau richtig für mich zu sein, um mein Schreiben weiterzuentwickeln.

Grüße

Thomas


Solche Anmerkungen bitte als Extra-Posting unter die Geschichte. Der erste Beitrag in den Geschichtenrubriken ist ausschließlich der Geschichte vorbehalten. Und herzlich willkommen hier. :)

 

Guter Einstand

Hallo Roderich.

Herzlich willkommen, hier. Du kommst mit der Absicht, dich weiterzuentwickeln, und so wirst du hier sicher ein gerngesehenes Mitglied sein.

Ja, ein gedankenschwerer Text, welcher seine Tragik aus Schuld, Reue und Bedauern bezieht. Aus dem Text wird mir die Vorgeschichte nicht sehr deutlich. Verstehe ich richtig, dass der Protagonist seiner Partnerin den Embryo aus dem Bauch gerissen und das Klo runtergespült hat? Das erschüttert; besser wäre es wohl gewesen, sein Potenzial gleich in der Hose zu lassen, um gar nicht erst in die Bredouille zu geraten. Aber wer ist heut schon so klug und moralisch fest. Nur wenige, wenn überhaupt welche Partnerschaften laufen nach dem Ideal der Familientherapeuten ab, von wegen "erst wenn beide so weit sind". Viel öfter gehen Menschen aus so einem Upsala hervor, und ich ertappe mich sogar bei dem Gedanken, dass das Kind in der Geschichte im Vergleich zu anderen Leidensgenossen noch verhältnismäßig glimpflig davongekommen ist.

Naja, jedenfalls eine ganz gut gelungene Antiheldgeschichte. Geh ich doch richtig in der Annahme, dass du keine Sympathie für den Protagonisten wecken wolltest, oder?


A bissl Textkram:

Ich stand unschlüssig ein paar Minuten auf deinem gelben Fußabtreter mit dem schwarzen Hundekopf drauf
  • Mit Zusammenziehungen in Geschichten zurückhalten >> darauf. Sowas kommt besser nur in wörtlichen Reden.

Schieb es auf eine orale Fixierung, aber nachdem mein Mund deine Lippen verloren hatte, brach eine Einsamkeit über ihn herein, die irgendwie bekämpft werden musste.
  • Genauso beim Passiv, der wirkt so distanziert. Die aktive Form ist generell "näher dran" >> die ich irgendwie bekämpfen musste.

Und auch, wenn du nach Erdbeeren geschmeckt hast und sich insofern Erdbeerkaugummis als logischer Ersatz angeboten hätten,
  • Hm, was ist ein "logischer" Ersatz? Logisch bezieht sich ja genau betrachtet nicht auf Ersatz, sondern auf "angeboten". Ich würde schreiben >> ... geschmeckt hast, Erdbeerkaugummi insofern näher gelegen hätte, ...

und frage mich, ob es wohl die guten Eigenschaften von dir bekommen hätte und was ich ihm mitgeben hätte können.
  • Beim "bin gestanden" habe ich schon gedacht, dass du wohl österreichisch oder süddeutsch sprichst, und demzufolge "mitgeben hätte können" gelten dürfte. Da dich hier aber nun mal ein Preußischstämmiger kritisiert, nimm ihm das bitte nicht übel ... >> hätte mitgeben können.

Nie hätte ich früher gedacht, dass ich zu derartigen Gräueltaten fähig bin.
  • "früher" könntest du getrost streichen, auch ohne wird mir klar, dass er sich seines Hangs zur Brutalität bewusst geworden ist. >> Nie hätte ich gedacht, dass ...

das Kind, das ich dir in meiner Angst vor dieser neuen, scheinbar viel zu großen Verantwortung zunächst verwehrt habe.
  • "zunächst" ist hier falsch in meinen Augen, denn es impliziert eine nachträgliche abgeschlossene Änderung in der Vergangenheit; hier gilt jedoch schon die erzählte Gegenwart, in der der Prot seine Haltung geändert hat >> ... Verantwortung verwehrte.

Doch generell finde ich deinen Schreibstil sehr angenehm zu lesen, er passt auf die Situation und bringt sie gut rüber.


Gern gelesen,
FLoH.

 

Hallo Roderich,

ich habe deine Geschichte gern gelesen, so ernst und tragisch, wie sie war. Mir gefällt, wie du Themen durchziehst: die verschlossene Tür, das Rauchen, Todesanzeigen ...

Dein Österreichisch schimmert durch, das hat FLoH ja schon gesagt. An manchen Stellen finde ich es schön, nur dort scheint es mir ein wenig umständlich:

und frage mich, ob es wohl die guten Eigenschaften von dir bekommen hätte und was ich ihm mitgeben hätte können.

Du hast ihm nie etwas gesagt, aber er ahnt etwas
Wortwiederholung

Also, willkommen hier und weiter so!

Gruß, Elisha

 

Hallo alle zusammen,

@ katzano: Vielen Dank für den Hinweis bezüglich der Anmerkungen und deine freundliche Begrüßung.

@ FLoH: Dir ein Riesendankeschön für die ausführliche Kritik. Tja, meine Herkunft lässt sich wohl nicht verbergen. Bin tatsächlich Österreicher und damit ist Deutsch eine Fremdsprache für mich. :D Deine Verbesserungsvorschläge werde ich natürlich übernehmen.

Zu der Vorgeschichte zu dem Ganzen: Die habe ich absichtlich etwas im Dunkeln gelassen, wobei der Text natürlich in eine bestimmte Richtung weist. Jedenfalls ist es klar, dass die Partnerin das Kind aufgrund direkter Einwirkung des Protagonisten verloren hat, der eines Tages schlicht und ergreifend durchgeknallt ist. Die Idee zu dieser kleinen Geschichte trage ich schon lange in mir. Ursprünglich war es als sadistischer Text mit sehr expliziten Stellen und einem Kleiderhaken gedacht, um das Potential der menschlichen Grausamkeit aufzudecken und den Leser mit einem Schockerlebnis zum Nachdenken zu zwingen. Ich habe aber bald davon abgesehen, da mir das Danach wichtiger geworden ist. Wie geht der Protagonist mit seiner eigenen Tat um? Und würde der Text nicht mehr Wirkung erzielen, wenn der Täter kein sadistisches, menschensverachtendes Arschloch wäre, sondern jemand wie du und ich, bei dem einfach einmal die Sicherungen durchbrennen und der danach nicht weiß, wie er mit der Situation umgehen soll? Überhaupt ist dieses Schuld und Sühne-Thema für mich weitaus interessanter. Mich fasziniert mehr, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht als das, was sie letztlich tun. Manchmal sind diese Gedanken durchaus verworren, kaum nachzuvollziehen - gerade dann wird es für mich spannend. Aus diesem Gesichtspunkt heraus ist auch dieser Text entstanden.

Und ja, deine Annahme, dass ich keine Sympathien für diesen Antihelden wecken wollte, ist richtig. Ich mag meine Charaktere oft nicht, aber ich finde Antihelden - kaputte, verzweifelte, verwirrte, ängstliche Menschen - vielfach interessanter als die strahlenden Helden, die immer schön und reich und gut gebaut sind. Im Grunde sind 95 % der Menschen Antihelden, wie ich finde. Wir alle verhalten uns in schwierigen Situationen - zumindest irgendwann - so, dass wir uns am nächsten Morgen dafür an der nächsten Wand den Schädel einschlagen wollen. Angst, Schuldgefühle, Wut, Verzweiflung, Verwirrung, Hoffnungslosigkeit - all das gehört zum Standardrepertoire des Menschen. Und daraus schöpfe ich. Vielleicht, um den Menschen an sich besser zu verstehen. Vielleicht auch nur, weil es ehrlicher ist.

Es freut mich jedenfalls, wenn dir mein Einstand hier gefallen konnte. Ich habe schon gesehen, dass das Niveau hier sehr hoch ist und bin mehr als erfreut, wenn ich hier so ansatzweise mithalten kann.

@ Elisha: Auch dir ein herzliches Dankeschön für deine Kritik. Was das Durchziehen der Themen betrifft, so greife ich gerne auf einprägsame Wiederholungen und einen durchgängigen Grundgedanken zurück, gerade, wenn ich wieder einmal versuche, in die Psyche meiner lieben Artgenossen einzudringen, da eben die Psyche selbst gerne auf altbewährte Muster zurückgreift, um Situationen und Begebenheiten einzuordnen.

Vielen Dank für das "weiter so". Ich werde es versuchen.

Viele Grüße euch allen

Thomas

 

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