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Wiedersehen macht Freude
Das Licht hat er ausgemacht, draußen ist es hell genug. Er legt die Hände auf die Greifreifen, stößt, fährt ans Fenster. Auf seinem Schoß liegt das Fernglas. Er nimmt den Stein aus der Hemdtasche, befühlt ihn. Der Himmel ist wolkenlos. An so einem Tag kann er fast alles sehen. Herr Grubner streckt den Kopf vor. Gleich wird der Taubenmann erscheinen, unten beim Steinkreis. Es dauert nicht lange. Von hier oben sieht er aus wie eine Spielzeugfigur, die Tauben sind graue, hüpfende Punkte. Herr Grubner setzt das Fernglas an, beobachtet, wie sich die Vögel um Brotkrumen streiten. Geduldig wartet der Taubenmann, bis alles aufgepickt ist. Gleich wird er drei Mal in die Hände klatschen. Die Tauben flattern auf. Er verfolgt ihren Flug. Die Fassade am Westflügel hoch und aufs Dach, wo sie in Reihe landen. Herr Grubner spürt seinen Herzschlag, streicht mit den Fingerspitzen über den glatten Stein.
Sie schiebt die Gardine zur Seite, steigt auf ihr Bett. In Unterwäsche und weißem T-Shirt, auf das die schwarzen Haare fallen, bis unters Schlüsselbein. Ob sie braune Augen hat oder grüne, schwer zu sagen. Über ihr brennt eine Glühbirne ohne Lampenschirm. Herr Grubner konzentriert sich auf ihre Lippen. Eine Viertelstunde lang. Kein Lächeln, nichts. „Komm schon“, flüstert er. Das Ekzem am Auge juckt, doch Herr Grubner ignoriert es. Ewig könnte er sie so ansehen, auf ihr Lächeln warten.
Gegen halb zehn bewegt sie sich wieder. Sie steht auf, streckt sich, trottet aus dem Zimmer. Im nächsten Moment erscheint sie in der Küche. Kurz hält sie inne, wartet. Sie weiß, dass er sie beobachtet. Sie öffnet den Kühlschrank, nimmt einen Tetrapack Milch heraus, schraubt den Plastikdeckel ab und führt die Öffnung zum Mund. Ohne abzusetzen trinkt sie. Den Milchbart lässt sie stehen, kehrt ins Zimmer zurück, setzt sich aufs Bett. Wieder spürt Herr Grubner seinen Puls und befühlt den Stein. Es geht los. Ihre Blicke treffen sich. Sie hebt die Hand. Ohne das Fernglas abzusetzen, erwidert er ihren Gruß.
Kurz nach neun, ein anderer Tag. Auf ihrem Bett liegt eine Verpackung desselben Medikaments, das sie seit Wochen zum Einschlafen nimmt. Die junge Frau kommt ins Zimmer. Ein Milchbogen hängt über ihren Lippen. Er winkt ihr zu, sie schaut ihn an. Kein Gruß. Sie legt sich aufs Bett, schließt die Augen. Er wartet. Zehn Minuten. Fünfzehn. Etwas stimmt nicht. Herr Grubner legt das Fernglas ab, fasst nach den Greifreifen, fährt zur Tür. Das Handy ist leer. Im Treppenhaus nimmt er die Treppe zum Westflügel. Er steckt den Stein in die Hemdtasche, dreht den Rollstuhl, greift mit der Hand ans Geländer. Mit der anderen drückt er sich die Stufen hoch. Es sticht im Bauch, in den Schultern, der Brust. Oben angekommen schiebt er sich in den nächsten Flur, zieht den Stein aus der Hemdtasche und schließt die Finger darüber. Es muss eines dieser Zimmer sein. Eine Tür öffnet sich.
Barfuß steht sie da. In Unterwäsche und weißem T-Shirt.
„Sie sind nicht im Bett“, stellt er fest.
Sie zuckt die Achseln, zeigt mit dem Daumen hinter sich.
Es riecht säuerlich. Vom Flur aus erhascht er einen Blick in die Küche, wo sich die Milchkartons unterm Fenster stapeln.
Er folgt ihr ins Zimmer. Mit einem Schwung rollt er über die Schwelle. Sie legt sich aufs Bett. Hier ist es warm. Neben ihr auf der Decke zwei volle Blister des Medikaments.
„Sie antworten sonst immer.“
Die junge Frau beugt sich kopfüber, hebt Stift und Zettel vom Boden auf.
Nicht so laut!, notiert sie.
„Wieso?“
Sie drückt die Hände gegen den Kopf, zieht die Stirn kraus.
„Warum sprechen Sie nicht?“ Ihre Augen sind braun. „Soll ich gehen?“
Sie schüttelt den Kopf, zeigt auf seine Hand.
„Ein Lapislazuli.“
Glücksbringer?
„Eine Zeitmaschine“, sagt Herr Grubner.
Wohin?
„Zu einer Freundin.“ Er zögert. Dann wirft er ihr den Stein aufs Bett.
Wieder sitzt er am Fenster, es regnet. Wie Heimweh ist das. Er will den Stein zurück. Jetzt schuldet sie ihm etwas. Die Gardinen sind zugezogen. Doch er glaubt zu spüren, dass es ihr gut geht.
An diesem Tag beobachtet Herr Grubner den Taubenmann. Drei Mal klatscht er in die Hände und die Vögel flattern los. Die Fassade hoch und hinauf zum Dach, auf dem jemand steht. Es dauert, bis er begreift, dass sie es ist. Die Tauben haben sich neben ihr aufgereiht, als wäre sie eine von ihnen.
Er will ihr etwas zurufen, doch das Fenster lässt sich nicht öffnen. Er schlägt das Fernglas dagegen. Sie hört es nicht. Fester. Die Scheibe bekommt einen Riss, splittert, bricht. Die Tauben schrecken auf, doch sie bleibt unverändert stehen.
„Weg da!“, brüllt er.
Sie sieht ihn an. Lächelt sie?
„Ein letztes Treffen!“
„Okay“, ruft sie die Hände zum Trichter geformt.
Herr Grubner hört nichts, außer dem Klang ihrer Stimme. Wie eine Zeitreise. Den Stein will er nicht mehr. Nur vom Dach soll sie runtergehen.