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- 31.08.2008
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Wiedersehen
Martha nahm die Teller und Becher vom Tisch und stellte sie in die Spüle. Das Brot legte sie in den Brotkasten, Butter, Käse und Wurst in die Speisekammer. Dann ging sie in die Diele und holte einen Topf Kartoffeln aus der großen Holzkiste, setzte sich wieder und begann zu schälen. Ihre Gedanken kreisten um die Kinder, die gerade das Haus verlassen hatten und zur Schule gingen. Ihre Eltern, die im vergangenen Jahr gestorben waren. Die Sonnenstrahlen, die in die Küche schienen, wanderten langsam und beleuchteten nach und nach die Geschirrtücher, die Tür zur Diele, den Kalender neben der Tür. Sie dachte an den Pastor, der ihr und den anderen Frauen jeden Sonntag von der Kanzel Trost zuzusprechen versuchte und sie dabei nie wirklich erreichte. Es schien ihr, als könnte niemand sie aus ihrer inneren Einsamkeit befreien. Niemand. Sie setzte den großen Topf auf den Arbeitstisch neben dem Herd und sah nach dem Feuer, nahm den Feuerhaken, schob die Asche hin und her, daß sie durch das Rost in die Aschenschublade rieselte, und legte ein paar Briketts nach. Die Luftklappe schloss sie vollständig. Das Feuer sollte sich halten, bis sie wieder vom Feld zurück kam. Als sie sich umdrehte, waren die Sonnenstrahlen weiter gewandert und beleuchteten jetzt eine Photographie, die in einem kleinen Holzrahmen neben der Tür hing. Ihr Mann war dort zu sehen, mit der Uniform, die er bekommen hatte, nachdem er eingezogen worden war. Sein Blick hatte etwas verzweifeltes, unsicheres; nicht der feste und stolze Blick, der so oft aus Uniformen herausschaut. Sie erschauderte für eine Sekunde. Lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Wie lange war er fort? Vor acht Jahren war er in den Krieg gezogen, danach noch zweimal auf Fronturlaub dagewesen. Gesund hatte er gewirkt, aber auch fremd; oft geistig abwesend. Sie hatten sich nur wenig erzählen können. Er schien glücklich zu sein, einfach inmitten der Familie zu sitzen und zu schweigen. Vor drei Jahren hatte sie eine Vermißtenmeldung erreicht – er habe sich nach einem Gefecht nicht mehr bei der Truppe eingefunden. Ob er verwundet, tot oder in Gefangenschaft geraten war? Wie hatte sie diese Ungewissheit gequält. Jetzt, nach einer stumpfen Zeit, die immerhin von diesen Gedanken frei war, durchfuhr es sie wieder.
Sie zog ihre Stiefel an und ging aus dem Haus, um mit den anderen Frauen aufs Feld zu gehen. Auf der Straße traf sie ihre Nachbarinnen, sie begrüßten sich knapp. Eine hatte ihren Mann wieder zurückbekommen, gleich nach Kriegsende. Er war in der Partei gewesen und immer sehr lautstark für den Krieg eingetreten; jetzt war er ziemlich still geworden. Die Gemeindeverwaltung hatte ihn, zum Glück für seine Familie, wieder angestellt. Die anderen Frauen hatten keine Männer mehr; sie waren alle gefallen. Manchmal hatte Martha diese Frauen beneidet, wegen der Gewißheit.-
Die Vögel zwitscherten, und als sie das Dorf verlassen hatten, tauchten sie in die blühenden Rapsfelder ein. Sie sprachen von der Arbeit, die ihnen bevorstand: das Reparieren der Weidezäune. Das hatten früher die Männer gemacht; inzwischen waren es die Frauen gewohnt, solche Arbeiten allein zu machen. Als die Straße einen Bogen machte und sie wieder ein langes gerades Stück vor sich hatten, sah Martha in der Ferne eine Gestalt, die dunkel in hängende Fetzen gekleidet war und humpelte. Ein fremdes Gefühl beschlich sie, Trauer, Entsetzen und Überraschung wechselten sich in Sekunden ab. Auch als die Gestalt näher kam, blieb das beunruhigende Gefühl, daß dieser Mensch nicht in ihren Ort gehörte, daß er ein Fremder war.
Wilhelm verzog das Gesicht, als der Waggon über die Weichen fuhr. Er war nun schon drei Tage unterwegs, sein Mund brannte vor Durst, Hunger spürte er schon lange nicht mehr. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal gegessen hatte. Solche Gedanken hatte er sich abgewöhnt; sie machten das Leben nicht leichter. Wieder fuhr der Zug über eine Weiche, der Waggon ruckelte, und wieder durchfuhr ihn der stechende Schmerz; der ganze Körper zuckte. Nach einem Schuß in den Rücken war die Kugel nicht auffindbar gewesen. Entzündungen und innere Schmerzen, verbunden mit Fieber, hatte er wochenlang gehabt. Niemand hatte sich noch darum gekümmert. Er hatte sein Essen genommen und sich aufs Lager gelegt – monatelang. Dann war es irgendwann besser geworden. Gleich nach dem Schuß, als er mitten im Sturm zu Boden gesunken war, war er so froh gewesen, als er feststellte, daß er nach dem Treffer wieder aufstehen und laufen konnte. Mit erhobenen Händen war er zwischen den feindlichen Soldaten herumgelaufen; niemand hatte von ihm Notiz genommen. Es war, als wäre er tot: er lief zwischen den Soldaten herum und keiner beachtete ihn. Schließlich hat ihm einer etwas zugerufen, was er nicht verstand, und ihm mit dem Gewehr bedeutet, daß er vorausgehen solle. Wie lange war das her?
Der Zug hielt. Detmold. Seine Heimat. Wilhelm raffte sich mühsam hoch, schaffte es, seinen Beutel über die Schulter zu nehmen und verließ das Abteil. Beim Verlassen des Zuges wäre er beinah auf den Bahnsteig gefallen; ein anderer Passagier fing ihn auf. Mit einer Leichtigkeit, als gelte es, ein Kleinkind aus dem Zug zu heben, hatte er ihn genommen und aufgerichtet.
Der sich nun anschließende Fußweg betrug zwanzig Kilometer. Früher war er diese Strecke oft mit dem Rad gefahren. Jetzt hatte er kein Fahrrad, und er hätte sich auch nicht mehr getraut, auf ein Rad zu steigen. Die Schmerzen im Oberkörper ließen nach, dafür meldete sich sein linker Unterschenkel. Dort hatte er einen Durchschuß gehabt, der schlecht verheilt war. Sein Humpeln wurde mit der Zeit stärker; er hatte nicht die Kraft, so zu gehen, als hätte er keine Schmerzen. Schwach meldeten sich seine Erinnerungen. Wo ging er eigentlich hin? Gab es Martha, seine Kinder, sein Dorf, gab es das alles noch? Manchmal hatte er eine warme Erinnerung gehabt, hatte Kraft gespürt, wenn er die Photographien seiner Familie angesehen hatte, die er immer bei sich trug. Im Gefangenenlager hatten sie ihm die Bilder weggenommen – allmählich waren sie auch in seinem Kopf verblaßt. So sehr er sich auch mühte, war er nicht mehr imstande, die Gesichtszüge von Martha und den Kindern vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen. Nur die Sehnsucht war ihm geblieben, daß die wohlige Wärme, an die er sich ganz tief drinnen erinnerte, auch wieder lebendig wird.
Als er in die Rapsfelder eintauchte, zog er beim Gehen den linken Fuß mühsam nach. Sein Blick war nach unten gerichtet. Erst als er aus der Ferne Stimmen hörte, richtete er den Blick auf und blickte der Sonne entgegen die Straße entlang. Eine Gruppe Frauen kam ihm da entgegen. Sie schienen fremd. Er sah der Reihe nach ihre Gesichter an; er kannte keines. Dann hörte er Marthas Stimme: „Nein, das ist er nicht“, antwortete sie einer anderen Frau. Er blieb stehen und sah zu der Frau, die Marthas Stimme hatte.
„Martha“, sagte er leise.
„Wilhelm“, antwortete sie.
Für einen Sekundenbruchteil verharrten sie so; für Wilhelm schien es eine Ewigkeit.
„Geh schon vor, du kannst schon mal die Kartoffeln aufsetzen“, sagte Martha, „ich komm' dann bald.“
Die Frauen setzten sich wieder in Bewegung. Wilhelm ging Schritt für Schritt auf das Dorf zu.
Sein Haus hatte er schnell gefunden. Er ging durch die Küchentür an der Seite ins Haus und blickte sich in der Küche um. Dort neben der Tür zur Diele hing das Bild, auf dem er mit der Uniform zu sehen war. Es erregte nichts mehr in ihm; er war zu müde, um noch Wut zu spüren. Er öffnete die Herdklappe und sah nach dem Feuer; das hatte gerade alle Briketts erfaßt und glühte still. Danach stellte er die Lüftungsklappe so ein, daß das Feuer heiß genug zum Kochen wurde und stellte den Topf mit den Kartoffeln auf den Herd. Wasser war schon aufgefüllt, und Salz auch; er wußte noch, daß Martha immer gleich das Salz zugab. Er zog sich die Stiefel aus und setzte sich. „Zu Haus“, sagte er sich.