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Wildwechsel
"Gleich sind wir oben, gleich..."
Sarah betete diese Worte wie ein Mantra in Gedanken vor sich her. Bloß nicht durchdrehen! Nicht jetzt! Nicht heute!
"Hörst du mir überhaupt zu? Sarah?" Martins Stimme klang ärgerlich. Was hatte er gesagt? Nein, Sarah hatte nicht zugehört. Sie war damit beschäftigt ihre Beherrschung nicht zu verlieren. Sie war normalerweise nicht klaustrophobisch, aber heute erschien ihr die Aufzugskabine wie eine Todesfalle. Sie wollte weg, raus aus diesem Gefängnis, das jede Sekunde kleiner zu werden schien. Am liebsten hätte sie ihre aufsteigende Panik hinausgeschrieen, aber sie beherrschte sich. Sie musste. Dieser Abend war vielleicht ihre letzte Chance die Beziehung mit Martin noch zu retten.
"Gleich sind wir oben, gleich..."
Sie hatten sich gestritten, und zwar heftig. Diesmal hatte sie keine Ausrede für ihr Verhalten. Martin würde recht behalten, wenn sie sich heute gehen ließ. Heute gab es keinen Sturm, kein Gewitter, auf die sie ihre Panikattacke schieben konnte. Sie hatte diesen Aufzug schon viele Male benutzt, ohne durchzudrehen. Oben erwartete sie nichts Unangenehmes. Im Gegenteil, Martins Abteilung feierte in den Büroräumen eine Party. Ein großer Auftrag. Vielleicht war sogar eine Beförderung für ihn drin.
"Gleich sind wir oben, gleich..."
"Ich weiß nicht, was heute mit dir los ist..." Da, schon wieder rissen seine Worte sie in die Realität zurück und für einen Augenblick spürte sie, wie ihr die Kontrolle entglitt. Die Angst bahnte sich in ihrem Inneren einen Weg nach oben und Sarah erzitterte. Beherrschung!
"Gleich sind wir oben, gleich..."
Martin redete immer noch auf sie ein, aber sie konnte ihm nicht zuhören, nicht solange sie in Fahrstuhl waren. Ein schlechter Anfang für ihre Versöhnung, aber sie würde alles mit ihm besprechen, später. Sie würde ihm Recht geben und er würde sie umarmen. Wenn sie nur erst oben wären.
Martin hatte aufgehört zu sprechen. Seine Blicke waren eine Mischung aus Ärger und Resignation. Sarah nahm seine Hand und drückte sie. Sie wollte ihn um Geduld bitten, aber sie konnte nicht, sie hatte nicht das Recht dazu.
"Ding." Das Signal des Aufzugs durchdrang die Stille, die eingekehrt war. "Endlich!" Die Türen der Kabine glitten zur Seite. Aber die ersehnte Erlösung gaben sie nicht frei. Stattdessen schwappte eine Welle aus heißer Luft, lauter Musik, Zigarettenrauch und Gemurmel herein, die ihre Selbstbeherrschung vollends zunichte machte, als sie sie unvorbereitet traf.
Sarah drängte sich in die Ecke des Aufzugs, den sie gerade noch als Gefängnis empfunden hatte. Martin packte sie am Handgelenk. Er machte ein wütendes Gesicht als er sie nach draußen zerrte. "Was ist bloß heute mit dir los?", fragte er ein weiteres Mal und schüttelte den Kopf.
Sarah riss sich los. Sie musste weg. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie drängte sich durch die herumstehenden Menschen zum Treppenhaus und lief die Stufen hinunter. Von oben hörte sie noch Martin rufen, aber er kam nicht hinterher und sie blieb nicht stehen. Unten angekommen keuchte sie. Ihr Atem kondensierte in der klaren, eiskalten Luft zu flüchtigen Wolken weißen Dampfes.
Ihre Pumps klackerten über das Kopfsteinpflaster. Während sie zum Auto lief, kramte sie bereits in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie zitterte und kratzte über den Lack, bevor sie endlich ins Schlüsselloch fand. Der Wagen war noch warm, die Scheiben nicht vereist, sie hatte ihn auch erst wenige Minuten zuvor hier abgestellt.
Sarah sah sich nicht um, sie wusste, Martin war ihr nicht gefolgt.
Sie fuhr los, ohne zu wissen wohin. Es war nicht der Fahrstuhl gewesen der ihr Angst machte, auch nicht die Party, denn die Angst trieb sie noch immer.
Die Straßen waren menschenleer. Ungewöhnlich, aber ein Glück für Sarah, die weder den Begrenzungspfahl bemerkte, den sie beim Verlassen des Parkplatzes mit ihrem Heck streifte, noch die roten Ampeln beachtete, die sie auf ihrem Weg aus der Stadt überfuhr.
Weg! Einfach nur weg.
Als nach einer Weile ihre Panik abzuflauen begann und das Bewusstsein langsam seinen angestammten Platz in Sarahs Denken zurückeroberte, fand sie sich auf einer Nebenstraße außerhalb der Stadt wieder. Rechts befanden sich Felder und links rasten Bäume an ihr vorbei. Sie war noch immer viel zu schnell unterwegs.
Gerade als sie sich dieser Tatsache bewusst wurde, geschah es.
Rehe sprangen auf die Straße. Nicht nur eines oder zwei. Dutzende überquerten die Fahrbahn gleichzeitig. Fünfzig Meter voraus konnte sie noch erkennen, wie die Tiere mit langen Sätzen aus dem Wald auf der rechten Seite gesprungen kamen, um gleich darauf in dem Maisfeld gegenüber zu verschwinden. Sarah befand sich mit ihrem Wagen mitten unter ihnen.
In der Schrecksekunde, die es dauerte bis sie auf die Bremse trat, fühlte sie eine Erschütterung. Eines der Tiere musste gegen den Wagen gesprungen sein. Gleich darauf schlug der Körper eines weiteren auf der Windschutzscheibe ein. Das Glas zersprang und ein weißes Spinnennetz nahm ihr die Sicht.
Sarah fühlte, wie ihr das Lenkrad aus den Händen glitt, als der Wagen von der Straße abkam.
Sie wurde hin und hergeschleudert. Eine weiße Explosion vor ihren Augen war das letzte, was sie sah, bevor sie ihr eben wiedergefundenes Bewusstsein erneut verlor.
Als Sarah wieder zu sich kam, dauerte es eine Weile, bis sie Schmerz verspürte und noch länger, bis sie ihn bestimmten Regionen ihres Körpers zuordnen konnte. Ihr war kalt und irgendetwas tropfte ihre Stirn herunter.
Blut. Im Rückspiegel erkannte sie, dass es zwischen ihren Haaren hervorsickerte.
Sarah öffnete die Autotür ohne auszusteigen.
Wenigstens einer der Scheinwerfer funktionierte noch und erhellte die Szenerie mäßig.
Feiner Nieselregen fiel durch den Lichtkegel. Sie bemerkte das verletzte Reh sofort. Es lag auf der Seite und seine Beine zuckten. Zwei weitere lagen reglos.
"Hilfe!", fuhr es ihr durch den Kopf. "Ich muss Hilfe holen."
Sie zwang ihren schmerzenden Körper sich nach vorne zu beugen und ihre Handtasche aufzuheben.
Als sie ihr Handy daraus hervorkramte, machte ein stechender Schmerz ihr bewusst, dass sie sich den Daumen der rechten Hand gebrochen haben musste.
Sie trug Martins Ring daran. Ein schlichter Silberring mit eingraviertem Muster. Er hatte auf keinen anderen Finger gepasst, als er ihn ihr geschenkt hatte. Damals hatte sie das romantisch gefunden.
Plötzlich wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt und begann zu weinen. Warum? Warum musste sie gerade jetzt daran denken? Warum war es ihr nicht möglich gewesen sich zu beherrschen? Diese irrationale Panik hatte ihr Leben nun endgültig zerstört.
Irgendwann überwand sie sich die Notrufnummer zu wählen. Während sie auf die Verbindung wartete, blickte sie hinüber zu dem Reh, bis es ein weiteres mal zuckte. Sarah hasste sich selbst für das Leid dieses Tieres und wand sich ab, um es nicht länger mit ansehen zu müssen.
"Zur Zeit ist es uns leider nicht möglich, ihren Anruf durchzustellen, alle Leitungen sind besetzt, bitte versuchen sie es in wenigen Minuten erneut... Zur Zeit..."
Sarah probierte es wieder und wieder, versuchte Martin anzurufen und Sabine, ihre Freundin. Sogar ihre Eltern, die in einer anderen Stadt wohnten. Aber sie erreichte niemanden. Am Ende warf sie das Handy wütend in die Dunkelheit der zerstörten Wagenseite. Wie zum Teufel konnten um diese Zeit alle Leitungen belegt sein?
Sarah weinte und wünschte, das Reh würde endlich aufhören zu zucken. "Entschuldige bitte", schluchzte sie. Sie saß noch immer angeschnallt im Auto. Wäre sie ausgestiegen, hätte sie nach dem Reh gesehen und das wollte sie nicht. Sie hatte Angst davor, aus der Nähe zu betrachten, was sie angerichtet hatte. Sie wollte lieber hier sitzen bleiben und auf Hilfe warten.
Wenn sie doch endlich jemanden erreichen würde!
Ohne darüber nachzudenken, drehte sie am Radio. Erst, als sie die Stimme eines Sprechers hörte, wurde sie sich dieser Handlung bewusst und der Tatsache, dass es noch funktionierte. Es war eine Verkehrsmeldung. Der Sprecher warnte nächtliche Autofahrer auf Landstraßen und Autobahnen. Es hatte im ganzen Kreis Wildunfälle gegeben. Fünfunddreißig davon in der letzten Stunde. Was war bloß los? War das der Grund, warum sie niemanden erreichen konnte?
Sarah begriff, dass sie in nächster Zeit nicht mit Hilfe rechnen konnte. Damit hatte sie keinen Vorwand mehr, im Wagen zu bleiben. Sie musste sich aufraffen und aussteigen.
Sie öffnete ihren Gurt, drehte sich seitlich und schwang ihre Beine hinaus. Ihr linkes Knie schmerzte als sie auftrat.
Sie tastete sich humpelnd am Auto entlang. Anscheinend war der Wagen seitlich gegen einen Betonmasten geprallt, der sich jetzt schräg gegen das Dach lehnte und nur noch von den Kabeln, die er eigentlich tragen sollte, aufrecht gehalten wurde.
Die Heckklappe war aufgesprungen. Der Kofferraum leer, bis auf den Bolzenschlüssel für den Reifenwechsel. Sarah sah hinüber zu dem Reh. Es zuckte noch immer. War das ein Zeichen des Schicksals? Sie wusste, was sie zu tun hatte. Aber würde sie es auch können? Sie nahm den Schlüssel und humpelte auf das verletzte Tier zu.
Sein Bauch war aufgerissen. Blut und Gedärme quollen daraus hervor. Mit offenen Augen starrte das Reh sie an, hob den Kopf und versuchte aufzustehen. Wie konnte ein Tier solche Schmerzen erdulden, ohne einen Laut von sich zu geben?
Sarah drehte sich mit Tränen in den Augen weg. Hinter ihr war die hell erleuchtete Skyline der Stadt zu sehen. Sie suchte das hoch aufragende Bürogebäude von dem sie weggelaufen war. Dort war Martin noch immer. "Mein kleines Reh" hatte er sie anfangs oft genannt. Wäre sie nur bei ihm geblieben.
Sie hatte alles falsch gemacht. Nichts als irrationale Emotionen hatten sie hier heraus getrieben.
Die Tatsache, dass sie am Leben war, empfand sie mehr als Strafe denn Glück. Auf diese Weise wurde ihr vor Augen geführt, wie dumm sie gehandelt hatte.
Was war bloß los in dieser Nacht? Mit ihr und mit all den Tieren?
Sarah wünschte sich, Martin würde kommen. Alleine war sie ein Nichts. Sie war ja nicht einmal fähig dieses Reh von seinen Leiden zu erlösen. Sie drehte sich wieder herum und versuchte sich zu überwinden. Es musste sein.
Sarah entschied, dass das ihre Prüfung wäre. Eine Prüfung die festlegen sollte, ob sie bereit war, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Schon zu oft hatten ähnliche Ausbrüche ihre Beziehungen zerstört. Sarah hatte schon seit längerem an ihrem Verstand gezweifelt und nun schien sie die Bestätigung bekommen zu haben. Was blieb ihr noch, wenn sie unfähig war, sich selbst zu kontrollieren? Wenn es ihr jetzt nicht gelang, ihre Emotionen zu bezwingen, hatte es dann Sinn noch weiterzuleben? Nur, wenn sie sich überwand das notwendige zu tun, war sie auch fähig wieder zurückzukehren. Wenn es ihr gelang, dieses Tier zu töten, dann konnte sie auch ihre Gefühle besiegen und sich mit Martin versöhnen.
Langsam hob sie den Bolzenschlüssel über ihren Kopf. Ihre Hand zitterte.
"Jetzt!... Jetzt!... Jetzt!...", flüsterte sie sich selbst zu und Tränen rannen über ihr Gesicht.
Plötzlich erzitterte der Boden. Sarah schrie auf, verlor ihren Halt und fiel nach hinten. Der über ihr hängende Mast schwankte. Die Kabel, die ihn noch hielten, rissen und er zerdrückte den Wagen vollständig. Die Spitze verfehlte Sarah nur knapp und traf das Reh zu ihren Füßen. Die heftigen Erdstöße dauerten kaum eine Minute. Aus dem Wald hörte sie das Geräusch berstenden Holzes. Weiter vorne stürzten Bäume auf die Straße.
Die Tiere mussten durch das kommende Erdbeben in solche Aufregung versetzt worden sein. Sarah selbst hatte es gespürt. Diese Vorahnung hatte sie aus der Stadt getrieben, wie die Rehe aus dem Wald.
Von der Stadt her drang der Lärm einstürzender Hochhäuser an ihre Ohren.