Was ist neu

Wir wollen, dass du aus der Kälte kommst

Empfehlung
Seniors
Beitritt
28.12.2009
Beiträge
2.382
Zuletzt bearbeitet:

Wir wollen, dass du aus der Kälte kommst

Ich packte zwei Flaschen Mühlen Kölsch und eine Tüte Salzmandeln auf den Tresen. Yeko gab die Preise in die Kasse ein und nickte mir zu. „Und sonst?“
„Muss“, sagte ich. „Gibste mir noch `ne rote Marlboro?“
Ich zahlte mit einem der neuen Zwanziger, öffnete die Schachtel im Kiosk und schmiss das Zellophan in den Mülleimer vor den Kühlschränken.
„Dann mal `n schönes Wochenende“, sagte Yeko und packte das Bier in eine dünne Plastiktüte. Ich schloss die Tür und steckte das zerknüllte Silberpapier in meine Hosentasche.

An der Bushaltestelle Heinrichstraße blieb ich stehen, um mir eine Zigarette anzuzünden. Damals rauchte ich vierzig, fünfzig Stück am Tag – rote Marlboro, keine andere Sorte. Ich spazierte durch den Park, entlang der Sieg, mit Blick auf die Altbauten und Hinterhöfe und bog erst an der VHS auf unsere Straße ab. Die Bierflaschen schlugen in der Tüte gegeneinander. Glas auf Glas – ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre. Es muss früher Sommer gewesen sein, der Asphalt gab schon Wärme ab und die Blumen am Krankenhausbeet begannen zu blühen.

Mein Vater saß auf den Treppenstufen, auf seinen Knien lag ein Koffer aus braunem Leder, an dem beide Verschlüsse fehlten. Als er mich sah, hob er die Hand.
„Machst’n du hier?“, fragte ich und stellte die Plastiktüte ab.
„Ach“, sagte er und klopfte mit der flachen Hand auf den Koffer. „Hab‘ die Garage aufgeräumt, die war ja so voll, so voll war die, meine Güte, was da alles für `n Scheiß drinstand … und da, tja, da hab‘ ich was gefunden, ganz hinten bei den alten Reifen.“
Ich sah zuerst ihn an, dann den Koffer.
„Also, da wirste dich aber freuen, bin ich mir sicher, dass du dich freuen wirst.“
„In dem Koffer da?“
Er rieb sich lächelnd mit dem Daumen über das Kinn. „Genau, ja, in dem Koffer.“
Ich ließ die Kippe in den Gully fallen und setzte mich neben ihn. Unter seiner zerschlissenen Wolljacke trug er einen Overall mit dem Emblem von Lüghausen, eine Firma, die schon ewig nicht mehr existierte und für die er eine kurze Zeit gearbeitet hatte. Er roch nach Altöl, Schweiß und After Shave. Ich schüttelte den Kopf und tätschelte sein Knie. „Na, dann lass mal sehen.“
Er atmete ein, legte die Hände auf die Kanten des Koffers und öffnete ihn langsam. In der unteren, mit schwarzem Filz bezogenen Schale befand sich ein Stapel mit großen, genormten Papierbögen. Mit Wasserfarben gemalte Bilder von Tieren. Ungelenke Stillleben. Landschaften. Ich streckte die Hand aus. Meine Finger berührten das wellige, leicht feuchte Papier. „Und wo hast du die nochmal gefunden, sagst du?“
„Im Regal bei den Reifen, in dem Regal da, weißt du doch, ganz hinten durch.“
„Das sind meine Bilder aus der Malschule, Malschule Grunschel.“
Mein Vater nickte. „Ich wusste, dass du dich freust.“
Ich zog das erste Bild vom Stapel, hielt es ins Licht, betrachtete die ausgeblichenen Farben. „Wie lang das her ist? Ich hab‘ echt keine Ahnung.“
„Dritte Klasse“, sagte mein Vater. „Du kamst gerade in die dritte Klasse.“
Ich hielt das Bild hoch, drehte es hin und her. „Aber gar nicht mal schlecht, oder?“
„Großes Talent, meinte deine Lehrerin ja. Der Jimmy, der hat großes Talent, der sollte unbedingt gefördert werden.“ Er zuckte mit der Schulter. „Warst der Jüngste da, und auch der einzige Junge.“
Wir saßen eine Zeitlang schweigend nebeneinander, bis ich die Schachtel Marlboro aus meiner Hemdtasche holte und meinem Vater eine Zigarette anbot. „Und du hast das wirklich in der Garage gefunden, den Koffer und alles …“
Er zündete sich die Zigarette mit seinem eigenen Feuerzeug an und nahm einen ersten Zug. „Jaja, ganz hinten drin, wie gesagt, in dem Regal bei den Reifen. Ach, was waren da für Reifen, Sommerreifen, Winterreifen, alle möglichen Reifen. Hatte Mutter wahrscheinlich einfach irgendwo dazwischen hingetan, kanntest sie ja.“
„Ja“, sagte ich. „Ja.“
Dann sah mein Vater auf die Plastiktüte, die Zigarette zwischen den Lippen, seine Augen halb geschlossen. „Hast du dir etwa Feierabendbier gekauft?“
„Christina macht Kassler.“
Er schloss die Augen, nahm einen Zug und sagte: „Ihr beiden, das passt schon.“
„Warum? Weil sie Kassler macht?“
„Weil sie dich dein Bier trinken lässt …“
Ich sah ihn aus den Augenwinkeln an und musste lachen, dann schob ich das Bild zurück in den Koffer. „Komm mit rauf, das musst du ihr zeigen, unbedingt.“
„Aber `s sind ja deine Bilder.“
„Komm schon, sie wird sich freuen.“
„Na, wenn du meinst, mein Junge, dann machen wir das mal.“
Wir standen auf. Ich nahm die Plastiktüte mit dem Bier und er den Koffer. Er klemmte ihn sich unter den Arm, trug ihn so ganz vorsichtig durch das Treppenhaus. Vor der Wohnungstür drang uns der Geruch von gebratenem Fleisch und Sauerkraut entgegen.

Christina stand vor dem Herd. Der Dunstabzug lief auf vollen Touren, Dampf waberte aus einem der Kochtöpfe. Sie trug eine Schürze, die ich ihr aus Kanada mitgebracht hatte: knielang, hellgrau, auf der Vorderseite ein Siebdruck, der einen Biber mit riesigen Zähnen zeigt, darüber, in ausladend großen, schwarzen Lettern: DAMN GOOD COOK. Sie hörte uns im Flur, wie wir uns die Schuhe auf der Schmutzmatte abtraten und die Jacken an die Garderobe hingen. Als sie meinen Vater sah, schüttelte sie den Kopf und fragte: „Ach, nee, wen haben wir denn da?“
Mein Vater zuckte mit den Schultern und blieb vor dem Küchentisch stehen. „Bin eben `n viel beschäftigter Mann, weißt du doch?“, sagte er. Er hielt den Koffer immer noch unter dem Arm.
Sie winkte ab. „Jaja, das sagen sie alle.“
Ich stellte die Plastiktüte auf das Fenstersims und setzte mich auf einen der Stühle. „Hat beim Aufräumen in der Garage was gefunden, was aus meiner Vergangenheit.“
Sie sah mich einen Augenblick lang an, drehte den Herd herunter und schob den Topf mit den Kartoffeln von der Platte. „Aus deiner Vergangenheit?“
Ich nickte, machte eine Geste und mein Vater öffnete den Koffer.
„Ein – wie hieß der?, Picasso, ja, ein Picasso war er früher, musst du wissen“, sagte er und legte den Koffer auf den Tisch. Christina wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie sah auf das oberste Bild, fuhr mit dem Zeigefinger an der Seite des Stapels entlang. „Die sind alle von dir?“
„Ich war eben ein großes Talent …“
Sie zog eines der Bilder aus dem Stapel und betrachtete es mit einer Armlänge Abstand. „Und was soll das hier sein?“
„Kassler mit Sauerkraut natürlich“, sagte ich, und sie schnalzte mit der Zunge und legte es zurück auf den Stapel. Dann wendete sie sich an meinen Vater. „Hans, wo du grad‘ da bist – iss doch mit. `s reicht für drei.“
Mein Vater hob die Hände. „Ach nee, lass mal, ich muss noch nach der Garage gucken, so viel Gerümpel da, der janze alte Kram, muss ja alles mal raus, wirklich.“
„Die Garage kann doch warten“, sagte Christina. „Jetzt setz dich schon hin.“
Ich nahm den Koffer vom Tisch, stellte ihn in die schmale Ecke hinter dem Kühlschrank und holte die Bierflaschen aus der Tüte.
„Mühlen Kölsch“, sagte mein Vater leise und nickte.
„Ich geh‘ auch hart arbeiten.“
„Na, ich hab ja nix anderes behauptet, oder hab ich das, hab ich was anderes behauptet?“
Ich öffnete die Flaschen mit der Kante meines Feuerzeugs und reichte ihm eine herüber. Christina zog mir die Ohren lang, weil ich sie alles alleine machen ließ, das weiß ich noch genau, und mein Vater beschwichtigte und sagte ihr dann, ich sei eigentlich schon immer eine faule Sau gewesen, ich tue nur so, als würde ich hart arbeiten, ich wüsste eben ganz genau, wann ich die Hände aus den Taschen nehmen muss. Danach deckte er feierlich den Tisch, vergaß dabei die Servietten und ließ den Salzstreuer auf den Boden fallen.

Später saßen wir auf dem Balkon, rauchten, tranken Kaffee mit aufgewärmter Milch, die Tüte Salzmandeln zwischen uns auf dem Campingtisch.
„Musste morgen raus?“
„Nee“, sagte ich. „Ich mach ja nur noch Kurzstrecke, will abends zuhause sein. Und Wochenenden auch nicht mehr, hab ich so mit`m Chef abgesprochen.“
„Machst du richtig. Machst deine Arbeit, kriegst dein Geld, hast aber trotzdem was vom Leben.“
„Und bei dir? Wie läufts bei der Emitec?“
Er nahm ein paar Nüsse, steckte sie sich in den Mund, kaute.
„Ach, Emitec, Emitec, was soll da schon laufen? Da seh‘ ich nur noch in tote Augen, sag ich dir. Keiner will da bleiben, ständig kommen neue Kollegen, immer neue Kollegen – der Dieter, Franz, Türke Hassan, alle weg, und ist ja auch kein Traumjob, nein, ist es nicht, aber was soll ich machen? Ich werd‘ achtundfünfzig, da kann ich mir nicht aussuchen.“

Im Bett legte Christina ihr Buch zur Seite. „Ich finde, er sieht schlecht aus.“
„Ja“, sagte ich und holte ein frisches T-Shirt aus der Schublade. „Ist mir auch aufgefallen.“ Ich faltete das Shirt auseinander und legte es über die Stuhllehne. „`s war gut, dass du das gemacht hast, das mit dem Essen.“
„Ja, aber ist doch auch kein Problem.“
„Nein, war gut, `s war wirklich gut.“
Sie nickte und nahm das Buch wieder in die Hand.

In der Nacht wachte ich vom Lachen des Krankenhauspersonals auf. Ich kroch leise aus dem Bett, ging durch den dunklen Flur in die Küche, die vom gleißenden Licht der Notaufnahme erhellt wurde. An der Spüle füllte ich ein Glas mit kaltem Wasser, trank ein paar Schlucke, kippte den Rest in den Ausguss. Dann setzte ich mich an den Tisch und zündete mir eine Marlboro an. Auf dem Balkon der mittleren Etage, die dem Küchenfenster genau gegenüberlag, standen drei Personen im Kreis. Ein Mann, zwei Frauen. Der Mann trug noch den mintgrünen OP-Kittel und hielt eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. Ich konnte Teile seines Gesichts erkennen - den olivfarbenen Teint, den schmal rasierten Oberlippenbart. Er sprach so leise, dass ich nichts von dem, was er sagte, verstehen konnte. Ich sah nur, wie sein Mund sich bewegte, wie sich die Lippen öffneten und schlossen. Die beiden Frauen lachten, danach tuschelten sie, ihre Stimmen spitz und hell. Ich rauchte langsam, Zug um Zug, blieb dabei im Schatten hinter der großen Kaktee, die auf dem Sims stand. Die Frauen gingen bald wieder. Der junge Arzt blieb alleine zurück. Er stützte sich mit einer Hand auf der Brüstung ab, lehnte sich ein Stück über das Geländer und schnippte die Kippe auf die Straße. Die Glut zersprang auf dem Asphalt in tausende Funken. Für einen Moment verharrte er so, den Blick in die Dunkelheit gerichtet, dann ging auch er zurück ins Innere des Gebäudes. Mein Blick fiel auf den Koffer, der immer noch in der Ecke hinter dem Kühlschrank stand. Ich holte ihn hervor, legte ihn auf den Küchentisch, fühlte über das Leder. Es war billiges Imitat, das nach Chemikalien und Kunststoff stank. Ich griff wahllos in den Stapel. Das Bild, das ich herauszog, war kleiner als die anderen - ein hochkantiges Format aus grob strukturiertem, schwerem Papier. Es zeigte eine Auenlandschaft, mit einem sich wild dahinschlängelnden Fluss, ein Stück der bewachsenen Uferböschung, kahle Bäume, hohe Weiden – alles in Blautönen gehalten. Ich hatte keine Erinnerung daran, dieses Bild gemalt zu haben. Ich fuhr mit dem Daumen die Farbverläufe nach, über das fast schwarze Blau des Flusses, das verwässerte Türkis der Bäume. Ein wenig Pigment rieb sich vom Papier ab und blieb an meinen Fingerspitzen haften. Ich sog diesen Geruch ein – den Geruch von getrockneter Farbe und altem, feucht und wieder trocken gewordenem Papier.

Am nächsten Morgen ließ ich Christina ausschlafen. Ich trank in aller Ruhe die erste Tasse Kaffee, rauchte bei geöffnetem Küchenfenster und zog mich im Badezimmer an. Anschließend ging ich auf dem Markt einkaufen. Ich packte Zucchini, Creme-Pilze, Fenchel, Tomaten und frische Paprika in das Netz, kaufte zwei Packungen Eier vom Bauern und holte die bestellten Hüftsteaks vom Metzger. Auf dem Rückweg kaufte ich beim Kiosk noch die Wochenendausgabe des Stadtanzeigers, drei Schachteln Marlboro und sah nach der Post. Seine Stimme hörte ich schon im Erdgeschoss, als ich den Briefkasten leerte. Das Lachen der Väter, tief und voll und laut.

Er saß am Küchentisch, eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen und einen Becher Kaffee in den Händen. Sein Gesicht war in den blauen Dunst der Zigarette gehüllt, aber ich sah sein breites Grinsen. Er hob den Kopf, nickte mir zu, sein flaches Kinn mit dem grauen Bart bewegte sich langsam auf und ab. „Junge“, sagte er. „Was du alles machst! Gehst du einkaufen, kochst du, und Christina sagt, manchmal putzt du auch die Toilette!“ Er nahm einen Zug und blickte auf die Glut. Dann sagte er: „Machst du auch die Wäsche?“
Ich sah zu Christina, die am Ende des Tisches saß, eine Dose Coca-Cola in der Hand. Sie blickte in das kleine, schwarze Oval der Öffnung und ihre Schultern zitterten.
„Ja“, sagte ich. „Ist gut, ist ja schon gut“, und dann begann sie zu lachen, und mein Vater lachte auch. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Miniaturkanone aus Plastik, der Nachbau einer 12-Pfünder. Er nahm meinen Blick auf und fragte: „Kannst du dich noch erinnern?“
Ich nahm mir eine Tasse aus dem Regal und setzte mich auf den Platz neben dem Fenster. „Nein, nein, kann ich nicht, ich erinner‘ mich nicht. Was ist das?“, fragte ich und goss mir Kaffee ein.
„Wir waren in Dänemark, Urlaub. Du warst ja noch ganz klein, und da, am Strand, da standen diese Kanonen herum, vier, fünf Stück, aus dem Krieg mit Napoleon oder was weiß ich mit wem, und da bist du drauf rumgeklettert, auf den Kanonen, und dann wolltest du unbedingt eine mitnehmen, nach Hause, weißt du das nicht mehr? – konnten ja nicht einfach eine Kanone mitnehmen, wie sollte das gehen?, aber du, du gabst keine Ruhe, einfach keine Ruhe, hast gebrüllt wie am Spieß, die Kanone, die Kanone, also was haben wir gemacht? Mutter hat dir die da gekauft, in einem von den Geschäften, eine Kanone aus Plaste, damit der Junge endlich Ruhe gibt, hat sie gesagt, und dann, na dann hast du auch Ruhe gegeben.“
Ich beugte mich über den Tisch, nahm die Kanone in die Hand, drehte sie hin und her. Es war ein schlecht gegossenes Exemplar, die Nähte standen heraus, das Material war rau und matt. „Kann mich nicht erinnern, wirklich nicht.“
Mein Vater zuckte mit der Schulter und zog an seiner Zigarette. „Warst noch klein, ganz klein … und normal, dass du dich nicht erinnern kannst, ich kann mich ja auch an nix erinnern, nur manchmal, dann ist’s wie ein Blitz im Kopp, da erinner‘ ich mich an die dollsten Sachen, so Sachen, wo ich nie dachte, dass die da noch drin sind.“ Er klopfte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.
„Dänemark“, wiederholte ich. „Wann war das?“
„Warst noch klein, ganz klein.“
Ich stellte die Kanone auf die oberste der Marlboro-Schachteln, die ich auf dem Tisch gestapelt hatte. „Hast du die auch in der Garage gefunden?“
Mein Vater nickte. „Da steht so viel drin, immer noch!, ich hab’s dir ja gesagt, weiß der Herrgott, was ich da noch alles drin finde.“
Christina trank den letzten Schluck Cola und stellte die Dose in die Kiste für den Pfand. „Ich fang schon mal mit dem Salat an“, sagte sie und öffnete den Kühlschrank.
Mein Vater drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich will euch nicht aufhalten hier.“
„Bleib schon sitzen“, sagte ich. „Ist genug da.“
„Aber wie sieht das denn aus, mein Junge? Gestern hier essen, heute hier essen, da seh‘ ich ja aus wie ein Dieb!“
„Dafür haste dich das letzte Jahr rar gemacht.“ Ich stand vom Tisch auf, packte das Fleisch aus der Folie und legte die Stücke auf ein großes Schneidebrett. „Da kann ich verkraften, wenn du mal zwei Tage hier bist …“
„Hatt‘ ich ja auch zu tun, war viel auf Arbeit. Weißt doch, wie das ist – klar kannst du’s einen anderen machen lassen, aber dann, was passiert? Nix passiert, eben. Bleibt immer alles liegen, und das ist dann auch scheiße, also machst du’s lieber direkt selber.“
Ich spülte das Fleisch mit kaltem Wasser ab, trocknete es mit Papierhandtüchern und legte die Stücke zurück auf das Brett. „Wollt‘ ich draußen grillen“, sagte ich. „Kannst mir mit dem Feuer helfen …“

Der Grill stand unter einem Pavillon, neben einem Haselnussstrauch, den ich ein paar Wochen zuvor zurückgeschnitten hatte, dessen Augen jedoch bereits wieder ausschlugen. Der ungemähte Rasen roch schon nach den im Frühjahr gesetzten Blumen und Kräutern. Aus dem Außenhahn ließ ich kaltes Wasser in einen Plastikeimer laufen, nahm ein paar Flaschen Mühlen aus dem Kasten im Keller und legte sie hinein. Mein Vater schichtete währenddessen die Kohle im Grill. Er hatte sein eigenes System, sortierte die Stücke immer wieder um, bis schließlich alles passte. Als das Feuer entfacht war, setzten wir uns an den Campingtisch und öffneten das erste Bier.
„Du hast ein gutes Leben“, sagte er und nahm einen Schluck. „Fleisch, Bier, vernünftige Frau – was will man mehr?“
Ich zündete mir eine Marlboro an. „Sag mal, an Dänemark, da kann ich mich echt nicht dran erinnern, kein Stück …“
„Ja, warst du auch zu klein für, für’s Erinnern, hab‘ ich dir schon paarmal gesagt jetzt.“
„Waren wir auch wirklich da, oder …“
„Was? Glaubst du mir etwa nicht? Warum sollte ich dich belügen? Warum sollte ich meinen eigenen Sohn belügen? Sag mir das?“
„Ist ja schon gut.“ Ich winkte ab. „Kümmern wir uns mal lieber um’s Fleisch …“ Er nickte, blieb aber sitzen und holte den Tabaksbeutel aus der Vordertasche seines Overall.
„Gibt auch Fotos“, sagte er und leckte das Blättchen an. „Such ich dir raus. Bring ich dir mit.“
Ich legte die Steaks auf den Rost. Es zischte, als Fett durch das Gitter auf die Glut tropfte. „Musst du nicht.“
Er saß still da, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, in der Hand eine brennende Zigarette, die Flasche Bier vor sich auf dem Tisch. Ich wendete die Steaks, spürte die aufsteigende Hitze der Glut im Gesicht. „Dreh mir auch mal eine“, sagte ich nach einer Weile und zeigte auf den Beutel Van Nelle.
„Ist aber schwarzer …“
„Macht ja nix.“
Er zog einen Strang Tabak aus dem Beutel, verteilte ihn in der Mitte eines Blättchens, rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen. Seine selbstgedrehte Zigarette sah aus wie eine gekaufte ohne Filter – keine Fransen an den Enden, überall der gleiche Umfang. „Ja“, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. „Hab‘ ich ja auch bei den Franzosen gelernt, die drehen die Dinger in der Hosentasche, und einhändig!“
„Einhändig in der Hosentasche?“
„Hab‘ ich dir jemals Blödsinn erzählt?“ Er grinste und reichte mir dann die Zigarette. Ich steckte sie mir zwischen die Lippen, wendete die Steaks noch einmal und schob sie auf einen weniger heißen Bereich des Rosts zum Garen. Christina brachte den Salat in einer großen Keramikschüssel; Tomaten, Gurken und Fenchel gewürfelt, darüber zerriebener Ziegenkäse, ein Dressing aus Olivenöl, kühlem Essig und Sherry. Dazu gab es Ofenkartoffeln, die ich mit Rosmarin und Thymian gewürzt hatte. Sie stellte Teller und Schüsseln auf den Tisch, holte Saucen für das Fleisch aus dem Beistellregal, das in einer Ecke des Pavillons stand. Ich verteilte die Steaks auf die Teller – einfache Teller mit zerkratztem Spiegel, die Christina schon vor Jahren aussortiert hatte. Der Saft schimmerte auf der angegrillten Oberfläche und verströmte einen rauchigen Duft. Ich legte die Zigarette unangezündet neben den Teller und schnitt in das Fleisch; der Kern war noch leicht rosa, perfekt.

Später, als ich oben in der Küche den Abwasch machte, die gespülten Teller und Töpfe in das Abtropfgitter stellte, fiel mir auf, dass eine Schachtel Marlboro fehlte. Ich trocknete mir die Hände ab, nahm eine der beiden verbliebenen Schachteln vom Tisch und riss das Zellophan ab. Auf dem Balkon gegenüber standen wieder die beiden Krankenschwestern. Sie rauchten, redeten miteinander, aschten in eine Getränkedose. Ich sah ihnen schweigend zu, hielt dabei die volle Schachtel Marlboro in meiner Hand.
„Alles okay bei dir?“
Ich sah über meine Schulter. Christina stand in der Tür. Sie trug eines meiner alten Carhartt-Shirts und hatte sich ihre langen Haare zu einem Zopf gebunden.
„Ja, alles okay.“
„Heute sah er schon besser aus, fand ich.“
„Fand ich auch, ja.“
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“
Ich legte meine Hand auf ihre Hüfte und gab ihr einen Kuss auf den Hals. Wir standen für eine Weile so da, Wange an Wange, meine Nase in ihrem feuchtem Haar, ihre Haut duftete nach Nachtkerzenöl, noch ganz warm und weich von der Dusche. „Ja, wirklich alles in Ordnung“, sagte ich. „Hab‘ nur unten was vergessen.“

Die Zigarette lag noch auf dem Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem mein Vater gesessen hatte. Von dort konnte ich die Einfahrt entlang bis auf die Straße blicken. Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand, ich starrte auf die harten Kanten der Schatten, die auf dem Putz entstanden. Eine Katze sprang von der Backsteinmauer auf eine der Mülltonnen, sie machte dabei ein leises, dumpfes Geräusch, das in dem schmalen Gang widerhallte. Für einen Moment sah ich ihr durchgeflecktes Fell, danach verschwand sie wieder in der Dunkelheit. Kiengeruch wehte in sanften Schüben vom Stadtwald herüber, und ich schloss die Augen, atmete tief ein und suchte nach der Zigarette, die immer noch auf dem Tisch lag. Ich tastete über das Granit, bis ich das weiche Papier der Selbstgedrehten an meinen Fingerspitzen spürte. Bevor ich sie anzündete, nahm ich ein paar kalte Züge, schmeckte das Aroma des Tabaks. Den ersten Rauch ließ ich langsam durch die Nasenlöcher entweichen, wartete auf das Kratzen tief unten im Hals, wie sich die Wirkung des Nikotins allmählich in meinem Brustkorb entfaltete. Das Aufleuchten der Glut sah ich durch meine geschlossenen Lider hindurch – ein pulsierender Schein in fließendem Orange. Es war gut, dort zu sitzen, auf diesem Stuhl, in diesem Hinterhof, mit der Zigarette im Mund, die mein Vater für mich gedreht hatte. Ich ließ mir bei jedem Zug Zeit. Nach und nach verloschen die Lichter im Haus. Der blaue Dunst waberte durch die Nacht, löste sich in ihr auf. Ich hörte wieder die Stimmen des Krankenhauspersonals, die von den Balkonen hinab über die Straße bis an meine Ohren drangen; ein stetiges Auf und Ab, unterbrochen nur von lautem Lachen. Dann andere Geräusche: das Zuschlagen von Autotüren, die dröhnenden Motoren der im Leerlauf parkenden Notarztwagen. Bald wurde es so still, dass nur das unterschwellige Summen der elektrischen Leitungen übrig blieb. Ich rauchte, bis die Glut mir die Finger versengte, bis der Schmerz unerträglich wurde, um dann noch einen Zug zu nehmen, einen letzten, tiefen Zug, den ich sehr lange in den Lungen behielt.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum: Ich stehe auf einer weißen Leinwand, die so groß ist, dass ich ihre Abmessungen nicht erkennen kann. Sie scheint kein Ende zu haben, scheint unermesslich. Es gibt keine Sonne, keinen Mond, keine Wolken, nur einen Himmel, der so durchgehend grau wie Mörtel ist. In diesem Traum gehe ich los, in keine bestimmte Richtung, ich gehe einfach. Ich habe das Gefühl, stundenlang unterwegs zu sein, und doch verändert sich nichts, trotz der Strecke, des weiten Wegs, den ich zurückgelegt habe - alles bleibt gleich: Himmel und Leinwand, das durchdringende Weiß, so sauber, klar und rein.

Ich erwachte, Christinas Körper neben mir unter der Decke, warm und noch vollkommen im Schlaf versunken. Ich hörte eine Weile auf ihren ruhigen Atem, dann stand ich auf. Frühes Licht drang durch die Vorhänge, die frische Luft, die durch das gekippte Fenster in das Zimmer wehte, fühlte sich kühl auf der Haut an. Da waren immer noch die Bilder des Traums – langsam verblassende Erinnerungen, an die Fortbewegung, das Gehen, aber vor allem an das glänzende Weiß, an diese makellose Oberfläche. In der Küche kochte ich Kaffee und wärmte die letzte Heumilch in einem Topf auf. Die Balkone des Krankenhauses leer, auch die Notaufnahme wirkte verlassen. Das schattenlose Licht tauchte alles in ein tristes Grau. Ich stand vor dem Fenster, trank den ersten Schluck und wartete auf den Sonnenaufgang. Mittags ging ich zu Yeko’s Kiosk, kaufte einen Beutel Samson und OCBs, und dann setzte ich mich auf den Stuhl im Hinterhof und drehte ein paar Zigaretten. Ich hatte das jahrelang nicht mehr gemacht. Meine Bewegungen waren steif und ungelenk, aber nach der dritten, vierten wurde es besser. Die Zigaretten legte ich auf den Tisch – kurze, weiße Filterlose, und da musste ich wieder an den Traum denken, an die große Leinwand und was sie wohl bedeuten könnte.

Manchmal tut man Dinge, von denen man nicht weiß, warum man sie tut. Ich saß auf diesem Stuhl, ein paar Gramm Tabak zwischen den Fingern, dann zog ich ein neues Blättchen aus der Packung und steckte alles in meine Hosentasche. Das Blättchen riss in der Mitte durch, noch Tage später fand ich Tabakkrümel. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie man das anstellt, eine Zigarette einhändig in der Hosentasche drehen, aber mein Vater kam an diesem Sonntag nicht. Abends, als ich im Bett lag, fiel mir die Miniaturkanone aus Plastik auf, die neben dem Radiowecker auf der Kommode stand.
„Hast du die dahingestellt?“
Christina sah mich über den Rand ihres Buches hinweg an. „Ich dachte, ist doch `ne schöne Erinnerung.“
Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein Geruch, der aus der Garage stammen musste.
„Ich kann mich nicht erinnern, an Dänemark oder so, an diesen Urlaub … ist ganz seltsam.“
„Aber, ich meine … du warst doch da auch wirklich noch richtig jung, oder? Ein kleines Kind, und da erinnert man sich nicht an alles, also ich jedenfalls tue das nicht.“
„Vielleicht hast du Recht“, sagte ich und schloss für einen Moment die Augen. „Ja, ich denke, du hast Recht.“
Sie schlug das Buch zu und legte es vor sich auf die Decke. „Er ist einfach einsam, das ist alles.“
„Kann gut sein“, sagte ich. „Ich verstehe das trotzdem nicht, das alles ist schon zwei Jahre her, und er hat nie was gesagt, ich meine, er hat sein Leben im Griff, dachte ich zumindest, aber irgendwie … denn, mal ganz ehrlich, wann war mein Vater das letzte Mal hier – einfach nur so, zum Klönen? Und auf einmal taucht er mit diesem ganzen alten Scheiß hier auf …“
„Es ist kein Scheiß …“
„Ja, du weißt, wie ich das meine …“
„Dein Vater würde sich lieber die Zunge abbeißen, bevor er was sagt, so ist der eben, so sind die alle aus der Generation, mein Vater genauso, die sagen nix, über Gefühle schon mal gar nicht … .“
Ich drehte mich auf die Seite, legte einen Arm um sie, berührte mit der Hand ihren nackten Oberarm. „Sag mal, was ganz anderes - hast du vielleicht eine von den Marlboro genommen?“
Sie sah mich kurz an und hob die Augenbrauen. „Warum sollte ich das tun?“
„Naja, da lagen drei Schachteln auf dem Tisch, und jetzt …“
„Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört“, unterbrach sie mich, „und nur weil du deinen Kram nie zusammenhalten kannst, musst du nicht mich verantwortlich machen, wenn dir was wegkommt, ja?“

Montagmorgen fuhr ich eine Tour zu Heros in Sluiskil. Ich hatte Schrott geladen, der in einer der Aufbereitungsanlagen gereinigt und dann wiederverwertet werden sollte. Papiere abzeichnen. Fracht löschen. Die Autobahn war frei, ich war mittags wieder an der Halle und nahm mir den restlichen Tag frei. Ich fuhr mit dem Auto zu REWE, um Leergut abzugeben und neues Bier zu kaufen. Der Parkplatz vor dem Getränkemarkt war um diese Zeit fast leer. Ich schob den Einkaufswagen durch die Gänge, rechts und links hohe Stapel mit Getränkekisten – Sester, Garde, Ganser, Peters, Giesler, die gängigsten Kölschsorten, Küppers war gerade im Angebot. Es stimmte, Mühlen war das teuerste Bier, aber ich wollte nicht darauf verzichten, ich dachte, es steht mir einfach zu. Ich nahm eine Kiste vom Stapel, zahlte an der Kasse und lud sie in den Kofferraum.

Am Ende der Schnellstraße, kurz vor der Kreuzung, die ins Stadtzentrum führt, sah ich am Horizont die Umrisse des Industriegebiets, in dem auch die Emitec lag - die Fabrik, in der mein Vater arbeitete. Sie stellten dort Katalysatoren und Partikelfilter her, und es hieß, sie zahlen über Tarif und es gebe sogar eine gute Betriebsrente. Ich hätte an der Ampel links abbiegen müssen, doch ich fuhr über die Kreuzung stadtauswärts, vorbei an Häuserblocks, Brachen und der alten Schrebergartensiedlung, bis hinter der Unterführung die Fabrik auftauchte. Schmale, weiße Hallen mit schräg abfallenden Faltdächern, dann der große Haupttrakt, der sich über mehrere Etagen erstreckte. Das ganze Gelände von einem meterhohen Sicherheitszaun umgeben. Ich blieb mit laufendem Motor auf dem Besucherparkplatz stehen und behielt den Seiteneingang der Fertigung im Blick. Mein Vater arbeitete Frühschicht, und um kurz nach Zwei kamen die ersten seiner Kollegen aus dem Gebäude. An die Gesichter derer, die auf der Beerdigung meiner Mutter anwesend waren, konnte ich mich noch gut erinnern. Youssef, der halbblinde Marokkaner blieb vor dem Zaun stehen, zögerte einen Moment, dann erkannte er meinen schäbigen blauen Volvo und winkte mir zu. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter.
„Wie geht dir? Geht dir gut?“
„Und bei dir, Champ?“, fragte ich ihn, weil ich wusste, dass er vor ewigen Zeiten mal Westdeutscher Meister im Schwergewicht gewesen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Muss, ne.“
Ich nickte und sah kurz in sein erblindetes Auge. Sie hatten den Glaskörper durch ein flüssiges Gel ersetzt. Nach der Operation war die Iris hell, fast weiß geworden und auch so geblieben. „Bist du gekommen wegen deinem Vater, ne?, aber was ist mit dem? Nix hier. Seit zwei Wochen nix arbeiten, und hat zu keinem was gesagt, Meister macht schon Ärger, sagt, braucht bald nicht mehr kommen.“
Ich blickte durch die Windschutzscheibe über das Werksgelände. Immer mehr Arbeiter kamen aus dem Gebäude, sammelten sich auf dem Gehweg vor dem Sicherheitszaun, rauchten eine letzte Zigarette, verabschiedeten sich voneinander. Youssef legte eine Hand auf das Autodach, beugte sich nach vorne und lehnte den Oberkörper gegen die B-Säule. Sein Gesicht kam ganz nah, ich konnte Poren und Stoppeln erkennen. „Zwei Wochen nix hier, der Hans, was mache?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Ich weiß es wirklich nicht.“
„Musst du doch wissen, was da los is‘. Is dein Vatter, oder? Guckst du mal, sonst nachher Arbeit verlieren. Is‘ vielleicht krank?“
„Wahrscheinlich ja, Youssef, wahrscheinlich ist er krank.“
„Aber geht auch nix an sein Handy …“
„Hast du’s heute schon probiert?“
„Nix heute, letzte Woche, aber ist der nicht rangegangen.“
Ich nickte und sah noch einmal in sein helles Auge. „Ist dein Vater“, wiederholte er und klopfte auf das Autodach. „Musst du doch gucken.“ Dann drehte er sich um und ging. Er zog ein Bein nach, bei jedem seiner Schritte knickte die Hüfte leicht ein, der mächtige Rücken bewegte sich ruckartig zur Seite weg.

Drei oder vier Mal fuhr ich an dem grauen, mehrstöckigen Mietshaus vorbei. Die Barbarastraße runter, ein Stück Jägerstraße, in der Einfahrt des alten Dahlhausens wenden. Dann das gleiche Spiel von vorne. Irgendwann hielt ich doch vor dem Haus, parkte, blieb im Wagen sitzen und hörte auf das Summen des Kühlers. Schließlich stieg ich aus und klingelte. Der schrille Ton rang durch das ganze Haus. Niemand öffnete. Direkt neben dem Gebäude lag ein Garten mit Spielgerüst. Ich ging an den Abfalltonnen vorbei, öffnete das Tor im Jägerzaun. Der Rasen war nicht gemäht. Neben dem Sandkasten lagen mit Kabelbinder verschlossene Müllsäcke. Ich suchte den Hof und die gemauerten Garagen durch die Buchsbaumhecke ab. Er saß auf einem Schemel vor dem Rolltor, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt.
„Ich seh‘ dich“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Ich kann dich sehen.“
„Warum biste nicht auf Arbeit?“
„Ach, Arbeit.“ Er zuckte mit der Schulter und lehnte sich gegen das schmale Stück Mauer zwischen den Garagen. „Arbeit, Arbeit, hier ist genug Arbeit, kannst du gucken, guck!“
Neben dem Eingang standen zwei Sätze Autoreifen. Die oberste Felge war durchgerostet, die Profile abgefahren. Aus dem Raum drang der Geruch von Altöl und Teilereiniger. Ich erkannte die Couch aus grünem Cord, die sonst oben im Wohnzimmer gestanden hatte. Die Kissen mit den selbstgenähten Bezügen aus hellerem Stoff lagen alle auf einer Seite, über der Lehne hing eine graue Bundeswehrdecke.
„Warum steht die Couch hier unten rum?“
„Ich hab‘ da drin alles aufgeräumt, alles hab‘ ich aufgeräumt – ich sag dir, da stand so viel Zeug drin, so viel Mist, und das meiste ist schon weg, ist noch lange nicht alles, noch lange nicht, aber ist ein Anfang, ja?“
Ich ging weiter in die Garage, atmete die staubige Luft ein und blieb vor der Couch stehen. Da war ein Transistorradio, ein Aschenbecher und eine leere Dose Ravioli. Auf dem Boden eine zerdrückte Schachtel Marlboro. Ich drehte mich um und sah meinen Vater an. Er senkte den Blick, legte seine Hand auf die Reifen und sagte: „In die Wohnung … ich geh‘ da nicht mehr rein, das kannst du vergessen, das mach ich nicht mehr, ich geh‘ nicht mehr hoch, nee, das ist nix, da werd‘ ich noch bekloppt nachher.“
„Was ist los? Was ist denn mit der Wohnung?“
Er atmete ein und lächelte knapp. „Ist wie im Museum, ich guck hier, ich guck da, überall ist noch was, verstehst du, kannst du das verstehen?“
Ich nickte schweigend, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, kannst du nicht verstehen, das kannst du nicht verstehen, wie auch?“
„Und jetzt? Wie soll das weitergehen? Wie hast du dir das vorgestellt?“
„Gar nicht, Junge, ich hab‘ mir gar nichts vorgestellt“, sagte er und setzte sich auf die Couch. „Aber ich geh‘ nicht mehr in die Wohnung, ich geh‘ nicht mehr da hoch, ich räum hier auf, bis alles raus ist, bis nichts mehr da ist.“
Ich setzte mich neben ihn. An der Wand hing ein Kalender von 1996, Hochglanzbilder von halbnackten Frauen auf Motorrädern. „Und wenn alles raus ist, was dann? Was machst du dann?“
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander und starrten auf den Kalender.
„Nichts“, sagte er schließlich. „Ich mach‘ nichts mehr.“
„Du willst in der Garage wohnen bleiben, ja?“
Er zuckte mit der Schulter. „Ich brauch doch nicht viel. Stück Seife, Wasser krieg ich aus der Waschküche - kalt, aber drauf geschissen, und Ravioli, die kauf ich mir billig beim REWE und mach‘ die mit dem Campingkocher warm.“
„Und was machste im Winter?“
„Ich denk‘ von Tag zu Tag - Heute, Morgen, fertig. Ich bin zu alt, um noch großartig Pläne zu machen. Monate, Jahre, was soll das alles? Heute ist, was zählt. Und wenn der Winter kommt, na, dann kommt er eben. Sehe ich, was ich dann mache.“
Ich hob die Schachtel Marlboro vom Boden auf. „Warst seit zwei Wochen nicht arbeiten. Was meinste sagen die bei der Emitec dazu?“
„Was sollen die bei der Emitec sagen? Was wollen die schon groß machen?“
„Dir kündigen zum Beispiel …“
„Kündigen, kündigen, dann sollen die mir eben kündigen, wenn se sich trauen … die suchen Facharbeiter überall, kriegen keine, aber mir kündigen? Niemals kündigen die mir. Und wenn, geh‘ ich zum Betriebsrat, sag ich der Gewerkschaft Bescheid, die freuen sich, und dann werden die bei der Emitec schon sehen, was se davon haben. Kündigen!“

Christina legte Messer und Gabel neben die Teller. „Warum denn in die Garage?“
„Ich weiß es nicht.“ Ich setzte mich an den Küchentisch, nahm die Gabel in die Hand, drehte den Stiel hin und her. „Vielleicht ist er auch einfach verrückt geworden.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Ich habe wirklich keine Ahnung … ich meine, was soll ich denn tun, deiner Meinung nach? Ist ja ein erwachsener Mann, der ist mündig, der weiß angeblich, was er tut, da kann ich schlecht `s LKH anrufen, und die holen den dann inner Zwangsjacke ab und kümmern sich drum.“
Sie nickte. „Ich meine … ich kann es schon auch irgendwie verstehen, da ist alles voller Erinnerungen, jede Tasse, jeder Teller, alles, und er ist ja jetzt ganz alleine in dieser großen Wohnung – und wir wissen nicht, wie das ist, die beiden waren über dreißig Jahre zusammen, also …“
„Aber wenn es ihm nicht gut geht, wenn er was hat, dann soll er doch was sagen, verdammt noch mal!“
„Jimmy“, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. „Jetzt reg dich nicht auf. Du weißt doch, wie das ist … der würde nix sagen, niemals … die fressen das eben in sich rein, bis es nicht mehr geht, die machen das mit sich selbst aus. Und deinen Vater, den änderst du nicht mehr, so ist das eben, damit musst du leben.“
Ich zuckte mit der Schulter. „Ich weiß nicht …“
„Lass ihn einfach, spätestens wenn es richtig kalt draußen wird oder die tatsächlich mit der Kündigung um die Ecke kommen, dann …“
„Ja“, sagte ich und starrte auf den leeren Teller. „Vielleicht das Beste, einfach abwarten, einfach sehen, was passiert und wie das weitergeht. Wird schon werden.“
„Hey!“, sie beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn, „ist nicht deine Schuld, ja? Mach dir keine Vorwürfe. Du hättest nichts ändern können, auch wenn du`s gewollt hättest. Okay! Okay?“

In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte an die Decke des Schlafzimmers, wo das einfallende Mondlicht geometrische Muster in die Dunkelheit zeichnete. Christina schnarchte leise neben mir. Irgendwann stand ich auf, zog mich an und schloss die Wohnungstür hinter mir ab. Den Volvo hatte ich in einer Nebenstraße geparkt. Als ich hinter dem Steuer saß, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Schließlich startete ich einfach den Motor und fuhr los.

Er saß im Dunkeln auf der Couch und rauchte eine Selbstgedrehte. Aus dem Transistorradio drang leise eine Nummer von Bob Seger. Auf dem obersten Reifen im Stapel lagen ein paar zerdrückte Bierdosen.
„Junge“, sagte er. „Junge, das bist du ja“, als hätte er mich erwartet. Ich setzte mich neben ihn und zündete mir eine Marlboro an. Wir rauchten schweigend. Nach Bob Seger brachten sie einen Song der Allman Brothers, Midnight Rider.
„BFBS“, sagte mein Vater dann. „Die hab’n die beste Musik, hatten die schon immer … hör’n wir seit den Sechzigern. Damals noch, in der Hopfengartenstraße, da hatten wir `n SABA, Röhrenradio, `n richtiger Klotz das Ding, aber auch `n Wahnsinnsklang, sag ich dir, so was bauen die nicht mehr, die wissen gar nicht mehr, wie das geht.“
Nach den Allman Brothers folgte Canned Heat.
„Wirklich guten Sound spielen die.“
„Auf jeden Fall“, sagte er mit schleppender Stimme.
„Hast du die Dosen da alle alleine weggemacht?“
Er nickte.
„Und wie schläft’s sich hier auf der Couch?“
„Nach fünf, sechs Bier wie in `nem Himmelbett.“
„Solange das Kleingeld reicht also …“
Er hielt sich die Hand vor den Mund, hustete und drehte sich eine neue Zigarette. „Ich hab‘ schon noch was auf der hohen Kante liegen, und ich trink ja auch nur Küppers …“
Ich saß da und hielt die Marlboro in der Hand, die bis zum Filter heruntergebrannt war. Vom dem Kalender an der Wand waren nur noch die Umrisse zu erkennen. Wir hörten eine ganze Weile der Musik zu. Nach Canned Heat folgten Songs von Marvin Gaye, Nick Drake und Alexis Korner. Dann räusperte sich mein Vater, richtete sich auf, griff in die Brusttasche seines Overall und holte ein Foto heraus. „Hier, nimm.“
Ich nahm ihm das Foto aus der Hand und rückte auf der Couch nach vorne, um es im Mondlicht betrachten zu können. Das war ich: ein kleines Kind mit strohblonden Haaren, Pausbacken, in roten Latzhosen und senfgelbem Anorak. Ich sitze auf dem Rohr einer Kanone, einer echten Kanone, einem Vorderlader aus matter Bronze. Hinten im Bild sieht man Teile einer verfallenen Bewehrungsmauer, den glatten Sand der Dünen, und dann, am Horizont, das Meer – eine satte, dunkel glänzende Masse. Da ist ein Lächeln auf meinem Gesicht, und es ist ein junges Lächeln, eines voller Erstaunen, voller Neugierde. Ich sah es so lange an, bis die Konturen begannen, vor meinen Augen zu verschwimmen. „Hast du noch so `n Küppers?“
Mein Vater legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Dachte, du trinkst nur Mühlen?“
„Küppers muss man aus der Dose trinken, oder?“
Er nickte. Er beugte sich über die Lehne, hob eine Plastiktüte vom Boden auf und stellte sie zwischen uns auf die Couch. „Bedien dich.“
Das Bier war warm und schmeckte metallisch. Ich trank große Schlucke, hielt inne, trank weiter, bis sich die Dose leicht in meiner Hand anfühlte.
„Tut mir leid“, sagte ich und strich über das Foto.
„Ach“, machte er und winkte ab. Er zog an seiner Zigarette, für einen Moment sah ich sein Gesicht, erhellt durch die Glut. „Warst du noch klein. Und macht nichts, Junge. Macht gar nichts. Jetzt weißt du es ja. Wir waren da, in Dänemark, wir sind dagewesen, ich brauch‘ dich nicht belügen. Warum sollte ich dich auch belügen?“
Ich sagte nichts. Ich schüttelte die Dose und trank den letzten Schluck.
Dann sagte mein Vater auf einmal: „Ich hab‘ nie die Hand erhoben, ich hab‘ so was nie gemacht, oder? Nie. Bei dir nicht, bei deiner Mutter nicht, ich hab‘ euch nie angefasst.“
„Nein“, sagte ich und legte meine Hand auf sein Knie. „Nein, du warst ein guter Vater.“
„Und ich war immer mit allen glatt, das war mir wichtig – keine Schulden, ich stand nie in der Kreide, und kein falsches Wort über irgendwen, denn so war das schon immer, ein Mann kommt im Leben zu nix, wenn er alles anschreiben lässt und ständig schlecht redet.“
Im Radio lief ein alter Song von Al Green, und wir saßen da, hörten seiner Stimme zu, die über dem dichten Teppich aus Klängen zu schweben schien, mit den Instrumenten auf eine zarte, innige Weise rang.
„`ne verdammt gute Nummer.“
Ich nickte, dann stand mein Vater auf, ging einen Schritt weiter in das Dunkel der Garage hinein und begann, seine Hüften im Takt der Musik zu bewegen. Er tat es langsam, wiegte den Oberkörper sanft hin und her, drehte sich um die eigene Achse, den Kopf leicht erhoben, die Augen fest geschlossen. Er hielt die Arme so von sich gestreckt, als wäre da noch jemand anders, ein anderer Körper, der sich zum Rhythmus bewegt, und an den er sich schmiegen kann. Ich hatte ihn schon betrunken gesehen und wütend. Ich hatte gesehen, wie er am Grab meiner Mutter stand, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, die Hand auf seinem Herz.
„Wir hab`n früher oft getanzt, deine Mutter und ich, in der Küche, wir hatte ja nicht viel, aber `n Radio hatten wir, und sie hat immer `ne Schneemaß getrunken, der süße Kram, sie mochte ja süßen Kram, und dann kam so Musik wie hier und wir haben getanzt bis in die Puppen …“ Er schüttelte den Kopf, wendete den Blick ab, und ich konnte hören, wie er atmete, wie seine Zähne aufeinanderschlugen.
„Ist schon spät.“ Ich beugte mich über die Lehne, suchte im Dunkel nach dem Radio, fand den großen Aus-Knopf. Stille.
„Ja, hast Recht, ich leg mich auch besser auf’s Ohr.“
Ich stand auf und stellte die leere Dose zu den anderen auf die Felgen. Er drehte sich nicht um. Er hob nur seine Hand.
„Dann gute Nacht.“
„Ich meld‘ mich einfach die Tage mal.“
„Mach das, mein Junge.“
Über den Hof ging ich langsam die Einfahrt hinauf, der Schotter knirschte unter meinen Sohlen. An der Hecke blieb ich stehen und sah zurück. Er stand immer noch da. Ein Schemen in der Garage.

Christina erzählte ich nichts von dieser Nacht. Ich fuhr einfach wieder meine Touren. Schrott nach Holland. Industrieabfall nach Belgien. Ich fuhr, ich rauchte, aber das Bild meines tanzenden Vaters, seine entrückten Bewegungen, das begleitete mich, war immer da. Zwei oder drei Tage später begann ich damit, nach der Arbeit zu REWE zu fahren, um dort ein paar Dosen Bier und Kleinigkeiten zu kaufen – Oliven, Red Leicester, Anchovis, eingelegte Tomaten, Pumpernickel. Dann fuhr ich weiter zu meinem Vater, wo wir auf der Couch in der Garage saßen, BFBS hörten, kühles Bier tranken und mit den Fingern aßen. Wir sprachen kaum. Wir rauchten viel, aschten in leere Dosen und Becher, drückten die Kippen im übriggebliebenen Öl aus. Nach ein paar Tagen wusste Christina Bescheid, aber sie sagte nichts, sie ließ mich einfach machen.

An einem Abend nach zwei Wochen, ich hatte kalten Braten und französischen Cidre mitgebracht, drehte sich mein Vater zu mir und sagte: „Mach’s nich‘ so wie ich, ja? Versprich mir das. Versprichst du mir das? Mach’s nich‘ so wie ich.“
„Hier“, sagte ich und hielt ihm das Tablett hin. „Nimm noch Braten, nimm noch von dem Braten.“
„Ach“, machte er und zuckte mit der Schulter.
„Ist gut. Ist gutes Fleisch, wirklich. Ganz zart.“ Ich zog ein Stück der Folie ab. Er nickte stumm, nahm ein Stück und schob es sich in den Mund. Aus den Boxen drangen Ike & Tina Turner, sie sangen Proud Mary. Wir aßen den Braten, tranken den Cidre aus der Flasche und hörten ihren Stimmen zu, den hart gespielten Gitarrenlicks und dem ekstatischen Beifall des Publikums.
„Wie lange willst du noch hier bleiben, in der Garage?“, fragte ich ihn dann. „Wie lange soll das noch weitergehen?“
„Weiß nicht, ich weiß es nicht.“ Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er atmete tief ein, ließ sich Zeit. „Vielleicht bis zum Wochenende. `n paar Tage noch.“
„Und dann gehst du wieder hoch?“
„Ja, dann geh ich wieder hoch.“
„Was ist mit Arbeit? Was ist mit der Emitec?“
„Ich geh‘ wieder zur Emitec, mach dir keine Sorgen, Junge. Ich geh arbeiten, ganz normal, wie immer.“

Ein paar Monate danach lernte mein Vater eine Frau kennen, die etwas älter war als er und die sich als wiedergeborene Christin bezeichnete. Sie brachte meinen Vater dazu, sich taufen zu lassen und erzählte uns ganz stolz, dass er jetzt aus Wasser und Geist neu geboren worden sei. Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung. Sie verbringen viel Zeit im Garten, kümmern sich um ihre Hochbeete, Kräuter und Zierpflanzen. Manchmal gehe ich ihn dort besuchen. Dann sitzen wir im denkmalgeschützten Wintergarten und schauen auf die Uferböschung, an der Segge und Wilde Kamille wächst, und auf die Sieg, deren Bett sich an dieser Stelle verjüngt und die deswegen rasend schnell fließt. Wir trinken koffeinfreien Kaffee, in den er einen Teelöffel Milchmädchen rührt. Er dreht nicht mehr selbst, er raucht gestopfte Zigaretten, die Luft ziehen und meistens nach fünf Zügen bis zum Filter abgebrannt sind. Jedes Mal juckt es mir in den Fingern, aber ich lasse es bleiben. Trotzdem spüre ich die Wirkung des Nikotins, wie mein Puls steigt, das Herz anfängt, hart gegen die Brust zu schlagen. Meistens sitzen wir alleine dort, schauen auf das Wasser. Seine Frau glaubt, dass ich schlechter Einfluss sei, jetzt, wo mein Vater ein neues Leben begonnen habe. Sie sagt, dass sie meinen Vater aus der Kälte geholt hat und dass ihr das niemand mehr nehmen kann. Sie hat mich dabei so angesehen, als kenne sie ein Geheimnis, und als kenne mein Vater dieses Geheimnis nun auch.

Er hat ein paar Kilo zugelegt, immer sauber rasiert, trägt Hemd, Hose und dazu passende Schuhe. In diesem Wintergarten, da sitzt er ganz gerade auf dem Stuhl, die Beine eng nebeneinander, eine Hand liegt flach auf dem Oberschenkel. Damals, in der Garage, als er mit den Geistern tanzte, da war etwas in seinem Blick, etwas Wildes, Unbeugsames. Er hatte sich verirrt, aber er wollte leben, er hatte das Leben in sich, es war in jeder seiner Bewegungen.

Vor zwei Tagen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen. Es war einer der letzten warmen Tage des Jahres, Altweibersommer, und wir saßen wieder im Wintergarten, die hohen Bleiglasfenster geöffnet. Er rauchte seine gestopften Zigaretten - drei Stück hintereinander, er zündete sie jeweils an der Glut der anderen an. Als er die letzte im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand er auf und sagte: „So!“ Ich folgte ihm durch den Garten, vorbei an rechteckigen Beeten voller pechschwarzer Erde, bis wir am Tor angelangt waren. Er legte beide Hände um einen der Gitterstäbe und nickte mir zu. „Schön, dass du mal wieder da warst.“
„Ja“, sagte ich. „Fand ich auch.“
Er öffnete das Tor, um mich rauszulassen. „Grüß auch die Christina von mir.“
Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst.“

An diesem Tag fuhr ich nicht gleich nach Hause. Ich nahm einen Umweg, parkte in der Tiefgarage unter dem Rathaus und lief ziellos durch die Innenstadt. Als ich an den vielen leerstehenden Ladenlokalen vorbeikam, fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr in der Stadt gewesen war. Die Buchhandlung auf der Holzgasse hatte anscheinend schon vor Monaten geschlossen; die große Holztür war zugesperrt, das Untergeschoss dunkel und leer. Am Goldenen Eck, in den ehemaligen Räumen einer traditionellen Eckkneipe hatte ein Sushi-Restaurant eröffnet. Die Leuchtreklame über dem Eingang war in Form eines Kugelfischs gestaltet. Vor der Verkaufstheke warteten ein paar Jugendliche. Ich ging über den Marktplatz in die Altstadt, vorbei an den Außenterrassen der Cafes, die voll besetzt waren mit Leuten, die in der Nachmittagssonne ihr Feierabendbier tranken. Das Geschäft Colonia Kunsthandwerk lag parterre in einem unscheinbaren Nachkriegsbau, der am Nogenter Platz in zweiter Reihe steht; verwitterte Fassade und nachträglich eingebaute Fenster aus Aluminium. Es war eines der letzten inhabergeführten Fachgeschäfte der Stadt. Ich blieb vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage: Pinsel, Farben, Leinwände.

Als ich durch die Tür trat, klingelte es leise, und eine ältere Frau erschien aus den hinteren Räumen. Sie war eine richtige Dame, mit langen, hochgesteckten Haaren, dezentem Lippenstift und einem modernen, taillierten Kleid. „Ich will mich nur umsehen“, kam ich ihr zuvor, und sie lächelte, zeigte auf die Regale und sagte: „Natürlich, gerne.“
Ich blieb vor der großen Schubladenbox neben dem Fenster stehen, legte meine Hände auf die Oberfläche aus Schellack, fuhr die glatten Kanten entlang. Ganz langsam zog ich das oberste Register auf und hob mit den Fingerspitzen den darin liegenden Stapel an.
„Dieses Papier ist aus Japan“, sagte die Frau. Sie wurde nie aufdringlich, blieb immer ein paar Schritte hinter mir. „Es wird aus Bast hergestellt, von Hand geschöpft, und es ist besonders geeignet, wenn Sie mit Tusche arbeiten wollen.“
Ich zog eines der Blätter aus der Schublade. Das Papier hatte einen cremefarbenen Ton, war durchscheinend, und ich hielt es gegen das Licht, um die Faserung zu betrachten. Später, im Auto, als ich wieder auf dem Weg nach Hause war, nahm ich es ganz vorsichtig vom Beifahrersitz, und dann schaltete ich das Radio ein und suchte BFBS.

Ich fuhr einen Umweg, um noch etwas länger Musik hören zu können, doch ich spürte, dass da etwas fehlte. Die roten Marlboro kaufte ich an der Mundorf-Tankstelle, weil Yeko schon geschlossen hatte, und die ersten Züge schmeckten mir nicht, aber dann wurde es besser, und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.

 
Zuletzt bearbeitet:

“Ain‘t singing for Pepsi,
Ain‘t singing for Coke,
I don‘t sing for nobody,
Makes me look like a joke ...“
Neil Young​

Warum zitiert der “This Note‘s for You“, Neil Young‘s Botschaft an Mr. M. Jackson, mag sich mancher fragen und ihm wird geantwortet, dass der Text belegt, wie sehr Marketing und PR selbst unser literarisches Leben inzwischen prägt, wenn eine Zigarettenmarke (oder ein anderes „Produkt“) immer wieder genannt wird, das die Freiheit des Cowboys verspricht, die Freiheit eines in prekären Verhältnissen lebenden Hilfsarbeiters, der für Unterkunft und einen Apfel und ein Ei das Vieh der Viehbarone hütete und in die Schlachthöfe brachte und sich immer wieder neu verdingen musste, statt – wie Hollywood uns vorgaukelt – das Land zu erobern und vor dem Bösen zu schützen, zumindest zu bekämpfen, unterm Motto, lieber tot als rot,

lieber jimmy,

als reichte es nicht, die Marke einmal zu nennen und das Publikum weiß, welchen Lungentod sich einer gewählt hat, wobei ich bei der Vaterfigur von ausgeh (vielleicht auch beim Schrott-fahrenden Sohn?), dass er Hilfsarbeiter ist und wenn er die Werbung kennt, sich mit den Freien und Starken identifziert. Und er ist ja auch stark und vor allem eigenwillig und darum für Außenstehende gewöhnungsbedürftig.

Aber ein zwotes ist mir bei all der Detailleverliebtheit aufgefallen, als die offensichtlich kettenrauchenden Brüder und Schwestern – keine Angst, ich hab 20 Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, die Szenen sind purer Realismus – aber ich les nicht einmal vom Klang eines Martinshorns … Vllt. eine Folge der Gnade des tauben Ohres … was ich eher bezweifel.

Das war‘s eigentlich an Bekrittelung meinerseits dieses gelungenen Werkes, wäre da nicht trotz aller Leserschaft auch ein SuperGau der schreibenden Zunft drin (sehn wir mal ab von der schon vor mir entdeckten Verwechselung von das und dass), wenn es heißt

Sie hörte uns im Flur, wie wir die Jacken auszogen und an die Garderobe hingen, uns die Schuhe auf der Schmutzmatte abtraten.
Wo das schwache Verb hängen mit dem starken hängen verwechselt wird: Erst müssten die Jacken an die Garderobe „gehängt“ werden (sollte einem Marlboro-Raucher bekannt sein), bevor sie danach an der Garderobe gehängt/"gehenkt" sind oder schlicht „hingen“.
Und dann noch weiter unten
„`s war gut, dass du das gemacht hast, das[...] mit dem Essen.“

Die folgenden Flusen können schon von anderen aufgezeigt worden sein. Das hin und herpendeln war mir itzo doch zu aufwendig:

Hier
wäre m. E. kein Reflexivpronomen notwendig wie auch das floskelhafte „so“ entbehrlich

Er klemmte ihn sich unter den Arm, trug ihn so ganz vorsichtig durch das Treppenhaus.
Dann schlägt mal die Fälle-Falle zu
Mein Blick fiel auf den Koffer, der immer noch in der Ecke hinter de[m] Kühlschrank stand.

Christina trank den letzten Schluck Cola und stellte die Dose in die Kiste für den Pfand./QUOTE]
„das“ Pfand

Er nickte, blieb aber sitzen und holte den Tabaksbeutel aus der Vordertasche seines Overall.
Genitiv, „Overalls“

Ich tastete über das kühle Granit, bis ich das weiche, …
„der“ Granit, also „über den kühlen Granit“

Ich habe das Gefühl, Stunden lang unterwegs zu sein, ...
ohne präzise Zeitangabe (wie „zwei oder ein paar“ Stunden lang) „stundenlang“

Mein Vater arbeitete Frühschicht, und um kurz nach [z]wei kamen die ersten seiner Kollegen aus dem Gebäude.
„zwei“ als Adjektiv/Attribut zu der weggekürzten „Uhr“(zeit)“

Der schrille Ton rang durch das ganze Haus.
„ringen“ ginge sogar, aber dann mit Relexivpronomen, wahrscheinlicher aber ist der Flüchtigkeitsfehler zu „dringen“, drang

„Kannste nehmen, wen du willst, die haben das alle im Blut, ehrlich, isso, Singen, Tanzen, das haben die voll drauf.“
Hier werden „singen“ und „tanzen“ nicht durch das Realtivpronomen „das“ substantiviert, sie bleiben Infinitive ohne „zu“ (das Du natürlich auch einsetzen kannst, sprachlich schön wäre „…, isso, zu singen und tanzen (, das) haben die voll drauf.“

Sie brachte meinen Vater dazu, sich taufen zu lassen und erzählte uns stolz, dass er jetzt aus Wasser und Geist neu geboren worden sei.
M. E. erscheint das irreal, also besser Konj. II, („wie“ neu geboren wäre")

Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen[,] und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung.
Die Konjunktion „und“ fügt keinen weiteren Nebensatz an, der einzige ist zu Ende, und der Hauptsatz wird fortgesetzt

Sie glaubt, dass ich schlechter Einfluss sei, jetzt, wo mein Vater ein neues Leben begonnen und sich von seinem alten verabschiedet habe.
Nix falsch, und Du willst sicherlich die indirekte Rede beibehalten. Aber der Erzähler dürfte die Meinung der Stiefmutter auch in Frage stellen und Zweifel anmelden durch Konj. II, wäre und hätte …, ansonsten kann aber auch durch die Konjunktion „dass“ ruhig der Indikativ angesetzt werden, was natürlich Neutralität des Erzählers bedeutet

Die Leuchtreklame über dem Eingang war in Form eines Kugelfischs gestalte[t].

Ich ging über den Marktplatz in die Altstadt, vorbei an den Außenterrassen der Cafè’s, die voll besetzt waren …

Das wär's und bevor ich's vergess, herzlichen Glückwunsch zur Empfehlung!

Friedel,
dem gar nicht nach dem Klammerunwesen verlangt, das sich selbständig eingeschmuggelt hat und nicht weg will ... geht aber auch so

 

Hi Jimmy,

auch für mich ist das ein Text, den ich rundum gelungen und sehr stark in seiner Wirkung finde. Was mir besonders gefällt, ist, wie ruhig der Text daher kommt, wie authentisch die Figuren wirken und wie sich bei mir als Leser das Gefühl einschleicht, du würdest die Figuren einfach machen lassen. Wie Proof sagte, sah ich das auch beim Lesen, und zwar, dass gerade in dieser "Normalität" eine besonders starke Anziehungskraft steckt, denn hier sehe ich keinen Effekt, keine Szene, von der ich beim Lesen das Gefühl habe, sie müsste besonders dramatisch sein, um einen Plot oder Emotionen zu erzeugen; gerade durch diese Normalität werde ich stark in die Geschichte gezogen, ich empfand sie beim Lesen nicht als Fiktion, und das ist ein mächtiges Werkzeug, denn ich hatte so wenig "Abstand" zum Geschehen, und als beispielsweise der Vater tanzt oder sich zum Ende hin zum Sohn distanziert, sie sich irgendwo verlieren oder auseinander leben, schmerzt das umso mehr, als wenn ich die Geschichte vom Gefühl her als "Fiktion" von mir wegschieben könnte.

Also wirklich sehr stark, ich vergleiche ungern, aber vielleicht ist das für dich interessant, wie ich die Geschichte einordne. Für mich ist die Story auf jeden Fall mit Nichts als die Nacht und der Geschichte, in der der Prot in einem China-Imbiss arbeitet (Titel vergessen) unter den Top 3 deiner Erzählungen hier im Forum.

Ein paar kleinere Überarbeitungsvorschläge habe ich trotzdem:

Die Zigarette lag noch auf dem Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem mein Vater gesessen hatte. Von dort konnte ich die Einfahrt entlang bis auf die Straße blicken. Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand, ich starrte auf die harten Kanten der Schatten, die auf dem Putz entstanden. Eine Katze sprang von der brusthohen Backsteinmauer auf eine der Mülltonnen, sie machte dabei ein leises, dumpfes Geräusch, das in dem schmalen Gang widerhallte. Für einen Moment sah ich ihr durchgeflecktes Fell, danach verschwand sie wieder in der Dunkelheit. Ein süßlicher Kiengeruch wehte in sanften Schüben vom Stadtwald herüber, und ich schloss die Augen, atmete tief ein und suchte nach der Zigarette, die immer noch auf dem Tisch lag. Ich tastete über das kühle Granit, bis ich das weiche, nachgiebige Papier der Selbstgedrehten an meinen Fingerspitzen spürte.
Der Text wirkt bereits sehr kohärent und straff, aber gerade in der Mitte könntest du noch ein paar Sachen straffen. Das hier hatte ich beim Lesen angestrichen, da es mir ein wenig zu langwierig vorkam. Was bedeutet hier die Katze? Der Kiengeruch? Braucht die Szene das an der Stelle?

wie sich die Wirkung des Nikotins allmählich in meinem Brustkorb entfaltete.
Auffällig für mich sind die Beschreibungen über das Rauchen, die ich teilweise unauthentisch empfand. (Ich rauche seit über 16 Jahren) Also ich wüsste nicht, wie das Nikotin im Brustkorb sich anfühlen würde? Das ist eher ein erleichterndes Gefühl überall, aber ich wüsste nicht, was man im Brustkorb spüren sollte beim Rauchen.

Das Aufleuchten der Glut sah ich durch meine geschlossenen Lider hindurch – ein pulsierender Schein in fließendem Orange.
Auch hier: Sieht man die Glut beim Rauchen durch geschlossene Lider? Die Lider sind viel zu dick, also ich sehe da nichts

die dröhnenden Motoren der im Leerlauf parkenden Notarztwagen.
Dröhnt ein Motor, wenn er im Leerlauf läuft? Höchstens, wenn man durchweg Gas gibt, würde ich sagen. Ich würde hier mit dem Verb einen Gang runter schalten

Ich rauchte, bis die Glut mir die Finger versengte, bis der Schmerz fast unerträglich wurde, um dann noch einen Zug zu nehmen, einen letzten, tiefen Zug, den ich sehr lange in den Lungen behielt.
Finger versengen ist schon hart! Ich würde behaupten, wenn die Glut die Finger versengt, kann man auch nicht mehr ziehen, weil das bei einer Selbstgedrehten ohne Filter ja schon das absolute Ende wäre. Auch würde man sich dann auf jeden Fall auch die Lippen versengen. Ich würde hier einen Gang runterschalten

Ich erwachte, Christinas Körper neben mir unter der Decke, schwer und warm und noch vollkommen im Schlaf versunken. Ich hörte eine Weile auf ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem, dann stand ich auf. Das erste, frühe Licht drang durch die Vorhänge, und die frische Luft, die durch das angekippte Fenster in das Zimmer wehte, fühlte sich angenehm kühl auf der Haut an. Da waren immer noch die Bilder des Traums – langsam verblassende Erinnerungen, an die Fortbewegung, das Gehen, aber vor allem an das glänzende Weiß, an diese perfekte, makellose Oberfläche. In der Küche kochte ich Kaffee und wärmte die letzte Heumilch in einem Topf auf.
Kürzungsvorschlag

„Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört“, unterbrach sie mich, „und nur weil du deinen Kram nie zusammenhalten kannst, musst du nicht mich verantwortlich machen, wenn dir was wegkommt, ja?“
Vielleicht ist das zu spitzfindig, aber der Satz ist mir beim Lesen ins Auge gesprungen, da er mir irgendwo ein wenig unauthentisch vorkommt. Also wie gesagt, sehr spitzfindig, aber vielleicht bringt es dir was. Das "seit fünf Jahren mit dem Rauchen aufgehört" kam mir so ein wenig nach Info vom Autor vor, aber der nächste Teilsatz, da fragte ich mich schon, wieso die Figur so gereizt und ausführlich im Dialog reagiert. Also deine Figuren sind hier top, sehr authentisch und voll, aber an dieser Stelle kam mir Christina ein wenig "blass" oder "überzogen" vor

Er öffnete das Tor, um mich rauszulassen. „Grüß auch die Christina von mir.“
Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen, schmalen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst.“
Zu dieser Stelle muss ich etwas sagen. Sie ist schon gut, sie funktioniert im Text und auch von der Handlung her ist das ein guter Punkt, irgendwo ein Abschluss, dass der Vater das noch mal anspricht. Also du könntest die Stelle gut im Text lassen und ich bin mir sicher, dass sie einigen Leuten gefallen würde. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich beim Lesen ein wenig darüber gestolpert bin. Irgendwo ist das doch auch ein wenig unlogisch: Es vergehen vielleicht sieben, acht oder mehr Jahre zwischen dem Tanz des Vaters und dieser Szene, schätze ich mal, vielleicht sind es auch nur drei oder fünf, aber in dieser Zeit begegnen sich Vater und Sohn ja auch, ihr Leben ginge eigentlich weiter; und nach all der Zeit hält der Vater den Sohn dann fest und spricht ihn auf die Musik an, auch in der Art, wie er es tut; also das funktioniert für den Leser, weil man ein paar Minuten zuvor die Garagen-Szene gelesen hat, aber in der Logik der Figuren sehe ich das ein wenig schwierig und unlogisch. Wie gesagt, kommt darauf an, wie du den Text haben möchtest, aber über diese Szene könntest du noch mal nachdenken, ob du noch mal an ihr herum schrauben möchtest

Jimmy, eine wirklich sehr starke Geschichte, die mich gepackt hat. Mir gefällt der Realismus, der ohne Objekte, die aus ihrem Erscheinen heraus einen gewissen Effekt mit sich bringen würden, funktioniert, sondern in seiner Langsamheit und Echtheit ein intensives Drama nur aus den kräftigen Figuren organisch heraus entwickelt und sehr mächtig im Kleinen passiert.

Ich hab das wirklich sehr gerne gelesen.

Viele Grüße,
zigga

 

Hallo nochmal @jimmysalaryman

Warum sind die denn einfach?
Mit "einfach" meinte ich die Klassenzugehörigkeit und nicht den Bildungsstand.
Die Assoziation Arbeiter = ungebildet bildet sich in meinem Hirn gar nicht. Liegt vielleicht daran, dass ich in einem anderen Gesellschaftssystem sozialisiert wurde.

Grüße!
Kellerkind

 

allerdings finde ich, bleibt das eine etwas fragwürdig offen, denn es klingt ja nach Mission, nach einem Auftrag, und deswegen habe ich im Titel auch das "Wir" gewählt, weil es betont zweideutig ist, weil man nicht weiß, wer ist dieses Wir überhaupt? Klingt das irgendwie logisch?
Ich habe "Wir" jetzt ganz konkret auf Jimmy und seine Freundin bezogen. Für mich bleibt nichts offen: Die Kälte auf Ebene 1 ist, dass der Vater sich einen abfriert, wenn er in der Garage überwintert, und die Kälte auf Ebene 2 ist die Einsamkeit nach dem Verlust der Partnerin. Wofür das "wir" in der zweiten Bedeutung stehen könnte, weiß ich nicht [EDIT: Die Christen? Wo du sagst Mission ...]. Mein Problem war ja auch eher, dass die Ebene 2 von einer Figur, der neuen Frau des Vaters, direkt angesprochen wird: Ich habe ihn aus der Kälte geholt. Das hat für mich ein bisschen was von: Verstehen Sie? Kälte einmal hier und Kälte einmal da. Fällt der Groschen? Da hatte ich zumindest das Gefühl, mir wird da als Leser zu wenig zugetraut. Oder ich missverstehe es und auch die Fundamental-Christin meint die tatsächliche Kälte, wobei das an der Stelle in der Geschichte, das eine Zitat ohne den weiteren Zusammenhang des Gesprächs, ich denke da automatisch an die seelische Kälte. Wobei, im Grunde könnte sie auch sagen, ich habe ihn aus der Kälte geholt, ihm die Wärme des Glaubens gebracht, das ist ja wirklich so religiöser Jargon. So könnte ich's mir erklären, aber beim ersten Mal bin ich gestolpert. Mann, zabel ich dich zu. Hab Urlaub gerade.

 

sehr berührender, starker Text, den ich in Etappen gelesen habe, weil er mich packte, aber nicht vollends einsog. Zum einen war es ganz profan aufgrund der Länge ein Zeitproblem (klingt doof, ich weiß), andererseits habe ich diese Nähe zum Vater, die du beschreibst, so nie erlebt, weshalb ich innerlich eine gewisse Distanz gewahrt hab.

Ja, ich verstehe. Ist dann natürlich schwierig, so einem Text zu folgen. Ich habe ein ähnlich schwieriges Verhältnis zu meinem Vater, aber wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich solche Texte schreibe, eine Form der Auseinandersetzung.

Einerseits ein schönes Detail, sehr bildlich, andererseits finde ich das schlugen unpassend, weil es in den Ohren wehtut, wenn Glas aufeinanderschlägt. Ich würde das abschwächen Richtung klimperten.
Auf keinen Fall! Da muss ich an @Achillus denken: mein Protagonist ist ein Orca-Protagonist, kein Pudel-Protagonist. Da darf nix klimpern! :D

Diese Wiederholungen hast du bewusst gesetzt, wie auch später häufiger im Text, meine Vermutung: Du willst damit den Text entschleunigen, das Gesagte breit und bedächtig machen. Auf mich wirkt es jedoch an manchen Stellen (zu) auffällig, zu gewollt, weil ich denke, dass zwischen Menschen, die sich so gut kennen, minimale Codes zur Verständigung reichen, die wissen schon nach einer kurzen Ansage, was Sache ist.

Tja, ich weiß nicht ... Ich habe bei Texten oft eine reale Person vor Augen, die eine Art Stellvertreter ist, die auch im echten Leben funktioniert, und die ich beobachte. Hier hatte ich meinen Großvater vor Augen, der in Lemberg geboren wurde und fließend russisch sprach. Er hat diesen seltsamen Sing-Sang, das sich Wiederholende, und daran habe ich mich orientiert. Das hat also nichts mit Breit machen oder Auswalzen zu tun, sondern ist eher ein tatsächliches Idiom, dass ich kopiert habe.

Ich hab ähnlich wie Fliege nach einer Begründung dafür gesucht, warum Vater und Sohn vor dem Tod der Mutter nicht so dicke waren, weil - wie du später im Text schreibst - keine Misshandlung vorlag. Es gibt da dieses Ausweichen, dieses aus dem Weg gehen, dieses nicht zur Last fallen und ich frage mich, wie ist das motiviert, wenn die beiden eigentlich eine gute Grundlage haben? Es gibt da vereinzelte Hinweise auf Verständnisprobleme wie den hier.

Ich verstehe das, aber ich finde, ein Text muss das nicht immer alles erklären. Wo würde es den Text besser machen, wenn ich jetzt noch einen Dialog zwischen Christina und dem Erzähler einführe, wo etwas aus der Vergangenheit berichtet wird, was das Vater-Sohn Verhältnis deutet? Das haust du mir um die Ohren und sagst dann: Na, aber das ist schön konstruiert. Das ist aber gewollt. Und du hättest ja auch Recht. Wir lesen und überprüfen Texte ja anders, wir schauen hin, was will der Autor, wo will er damit hin, und passt das, kaufe ich das? Viel eher halte ich es doch für gelungen, wenn trotz einer gewissen Vagheit, einer Unausgesprochenheit ein solches Gefühl impliziert wird? Ich würde es erstmal so lesen: Nach dem Tod der Mutter hat sich der Vater zurückgezogen, wie das sooft der Fall ist. Alles andere ist doch reine Spekulation, das kann sein, muss aber nicht, und alles was da reingelesen wird, aber nicht explizit wird, sehe ich eher als Stärke eines Textes an.

Danke dir für deine Zeit und deinen sehr guten Kommentar!

Hallo @Sisorus

Ich behaupte einfach mal, dass da viel von Dir drinsteckt. Und das spürt man. Ich sehe hier Handwerk, Gefühl und auch den Wunsch, etwas zu verstehen. Das ist ein anspruchsvoller Text. Nicht, weil er literarisches oder thematisches Neuland betreten würde, sondern weil er absolut ehrlich ist.

Ich finde, radikale Ehrlichkeit macht einen guten Text aus. Nicht nur, aber ein großer Teil. Was soll er sagen, und wie klar ist sich der Autor über sich selbst und seine eigene Position? Das fällt oft schwer, zu deuten, weil man sich dann Gedanken machen muss, die eben sehr schmerzlich sein können, aber nichts ist ehrlicher, als über den eigenen Schmerz zu schreiben. Hemingway würde sagen: wahrhaftiger. Das ist ein schönes Wort.

Hallo @Morphin

Was ich meine, ist, dass der Text Assoziationen in mir erzeugt aufgrund meines Alters. Ja, klingt dämlich, aber gestern begann die Geschichte ja erst in mich einzusickern und heute kommt das Wort dafür: Metamorphose.

Ist eine schöne Sicht auf den Text. Jason Isbell singt in Vampires:

It's knowing that this can't go on forever
Likely one of us will have to spend some days alone
Maybe we'll get forty years together
But one day I'll be gone
Or one day you'll be gone

Und das ist eine krasse Wahrheit, an die sicher niemand gerne denkt, aber so ist es. Ja, Metamorphose. Ich weiß nicht, vielleicht ist es einfach eine Entwicklung, die zwangsläufig ist, und bei der man ja auch immer zur Passivität verdammt ist, man kann nur warten, bis man selber an der Reihe ist.

Du bist ein echter Poet.

Darauf eine Pfeife, mein Freund, mit bestem Dark Fired Kentucky!

Gruss, Jimmy

wird fortgesetzt

 

Hallo @zigga

danke für deine Zeit und deinen Kommentar.

Ja, stimmt, das sind noch viele Bilder drin, die ich wahrscheinlich ausdünne oder ganz rausnehme. Das Rauchen war ja hier ein wichtiger Part, deswegen sind dort die Beschreibungen auch etwas extravaganter ausgefallen, als es nötig gewesen wäre. Ich kann mich auch nicht davon freisprechen, mal auf die Kacke hauen zu wollen. Was ich mit Nikotin und Brust meinte - du spürst das Nikotin, weil sich der Puls beschleunigt, aber das ist im Grunde auch nicht, was ich sagen wollte. Also ich werde den Text noch wesentlich verändern ( wir mir gerade auffällt!)

Ist ein ruhiger Text, in dem nicht viel passiert, stimmt. Ich hatte das schon in einigen anderen Kommentaren geschrieben, meine letzten Texte sind ja alle etwas ruhiger, und sie waren im Allgemeinen auch nie Paradebeispiele für Gewalttätigkeiten, nie in dem Sinne, dass sie ausgestellt wurde, sondern immer nur als Mittel zum Zweck. Mir ist es wichtiger, den Ton zu treffen, den richtigen Sound zu kreiern, und den Protagonisten nichts in den Mund zu legen, sie sollen echt klingen, was nicht immer einfach ist, weil du die Sprache ja wirklich haargenau anpassen musst, wie bei dir mit dem naiven Mädchen - die Gedankenwelt erfassen, und somit auch die Sprache, ohne dass du die Figuren ausstellst, das ist sehr schwierig, deswegen ist dein Feedback wertvoll.

Zu dieser Stelle muss ich etwas sagen. Sie ist schon gut, sie funktioniert im Text und auch von der Handlung her ist das ein guter Punkt, irgendwo ein Abschluss, dass der Vater das noch mal anspricht. Also du könntest die Stelle gut im Text lassen und ich bin mir sicher, dass sie einigen Leuten gefallen würde. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich beim Lesen ein wenig darüber gestolpert bin.

Das kann ich verstehen. Diese Szene ist mit Bedacht so geschrieben worden, weil sie ja auch noch etwas enthält, eine Aussage, was das für eine Beziehung mit seiner neuen Frau ist, quasi eine metaphorische Ebene. Er hört diese Musik eben nur noch manchmal, es ist jetzt wie eine Erinnerung, das inkludiert ja auch, dass er aktuell keine Musik hört, es ist ein stiller, kalter Ort, an dem er jetzt ist, zumindest stelle ich mir das so vor, vielleicht muss ich da aber auch noch dran basteln, damit es so rüberkommt, wie ich das auch meine, mal sehen.

Gruss, Jimmy

 

Hi Jimmy,

mit Blick auf die Altbauten und Hinterhöfe und bog erst an der VHS auf unsere Straße ab.

Hier heißt VHS vermutlich Volkshochschule, ich weiß aber nicht, ob das für jeden so gilt und so gemeint ist.


Vor der Wohnungstür drang uns der Geruch von gebratenem Fleisch und das Säuerliche des Krauts entgegen.

Der zweite Halbsatz reißt mich aus dem Rhythmus – das Säuerliche des Krauts steht hier ganz alleine, obwohl der Duft zweifellos gemischt ist.

Bis auf die zwei Kleinigkeiten lies sich der Text für mich makellos und ich fand die Beziehung zwischen Vater und Sohn sehr schön herausgearbeitet. Das kann man kaum besser machen.

Stilistisch erinnert es mich an Hemingway, nur das der die Sätze gerne noch kürzer machte. Der Vater wirkt meist älter, aber ich denke, das ist ok, es gibt diese Leute, die einfach alt und wie aus einer anderen Zeit wirken. Zum Schluss hin, fand ich, ging es etwas schnell und ich bin mir nicht ganz sicher, was er mit diesem Satz meinte:

Vor ein paar Wochen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen.

Klingt für mich auch so als wäre der Vater inzwischen gestorben, aber das wäre für mich nicht eindeutig, würde aber andererseits zum plötzlichen Wandel des Sohns passen.

lg
Bernhard

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Friedhelm

ich habe deinen Kommentar aufmerksam gelesen und werde die von dir aufgelesenen Flusen nach bestem Wissen und Gewissen verbessern! Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar.


Hallo @Bernhard

Der zweite Halbsatz reißt mich aus dem Rhythmus – das Säuerliche des Krauts steht hier ganz alleine, obwohl der Duft zweifellos gemischt ist.

Vollkommen richtig. Wird geändert.

Stilistisch erinnert es mich an Hemingway, nur das der die Sätze gerne noch kürzer machte. Der Vater wirkt meist älter, aber ich denke, das ist ok, es gibt diese Leute, die einfach alt und wie aus einer anderen Zeit wirken.

Ja, Papa Hem ist sicher ein großer Einfluss. Danke dir, ich nehme das als echtes Kompliment. Und ja, der Vater wirkt ausgelaugt, und dadurch auch älter. Ich habe im Grunde kein echtes Alter im Kopf, Anfang 60 vielleicht.

Vor ein paar Wochen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen./QUOTE]

Das bezieht sich auf das, was dann geschieht, was er über die Musik sagt.
Danke für deine Zeit und den Kommentar.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen, schmalen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“

Zu dieser Stelle muss ich etwas sagen. Sie ist schon gut, sie funktioniert im Text und auch von der Handlung her ist das ein guter Punkt, irgendwo ein Abschluss, dass der Vater das noch mal anspricht. Also du könntest die Stelle gut im Text lassen und ich bin mir sicher, dass sie einigen Leuten gefallen würde. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich beim Lesen ein wenig darüber gestolpert bin.
Das kann ich verstehen. Diese Szene ist mit Bedacht so geschrieben worden, weil sie ja auch noch etwas enthält, eine Aussage, was das für eine Beziehung mit seiner neuen Frau ist, quasi eine metaphorische Ebene. Er hört diese Musik eben nur noch manchmal, es ist jetzt wie eine Erinnerung, das inkludiert ja auch, dass er aktuell keine Musik hört, es ist ein stiller, kalter Ort, an dem er jetzt ist, zumindest stelle ich mir das so vor, vielleicht muss ich da aber auch noch dran basteln, damit es so rüberkommt, wie ich das auch meine, mal sehen.
Ach so! Ich hab die Geschichte zweimal intensiv gelesen, und hab die Stelle zweimal falsch verstanden. Das kann natürlich auch absolut an mir als Leser liegen. Ich habe sie so verstanden, dass er die Musik aus der Garage "in Gedanken" noch hört, (wie z.B.: "Manchmal höre ich meine Mutter noch immer schreien") und das kam mir - nach mein Empfinden - ein wenig überdosiert vor.
Man kann das natürlich genauso gut so verstehen, wie du es gemeint hast, und zwar, dass er die Musik noch hören darf oder eben betonen möchte, dass er noch die Möglichkeit hat, sie zu hören. In dem Fall finde ich das absolut passend zum Text, ich hatte es nur mit einer anderen Bedeutung gelesen.

Ist ein Peanut.

Beste Grüße,
zigga

edit:
@Carlo Zwei

Türke Hassan
Hassan ist kein türkischer Name. Wollte eigentlich @zigga mal schreiben. In dem Valcambi Suisse Text sagt genau umgekehrt ein Araber "Cüs", ist aber türkisch. Tja, das sind die Pralinen einer Berliner Schulzeit.
Jaein! :D Türken schreiben sich halt Hasan. Aber sprechen es "Hassan" aus, mit kurzem A, meiner Erfahrung nach. Aber wieso kommst du bei einem Hassan auf mich? Kann mich gar nicht erinnern, das verwendet zu haben ...

Cüs: Come on, das war vor 12 oder 15 Jahren vielleicht reiner Türken-Sprech, das sagt doch heute jeder, sogar Deutsche oder Polen! :D Gut, Araber haben noch mal ihr eigenes arab-deutsches Vokabular, aber soo weit hergeholt finde ich das jetzt nicht, ich hab das auch schon Libenesen o.ä. sagen hören

 

Nicht übel. Erinnert mich sehr an Regeners (hintergründige) Poesie. Stellenweise war es auch ein Sträter ohne seinen (vordergründigen) Humor.
Im Grunde war es ein kluger Text über Trauerverarbeitung mit vielen Zigaretten und wenigen Gesprächen.


Das schattenlose Licht tauchte alles in ein tristes Grau

das trist stört mich, empfinde es hier als tautologisch.

Ich fuhr einfach wieder meine Touren.

“einfach“ nutzt du schon drei Zeilen davor. Kann m.E. hier weggelassen werden.

Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung. Sie verbringen viel Zeit im Garten, kümmern sich um ihre Hochbeete, Kräuter und Zierpflanzen.

Der Zeitenwechsel in diesem Kapitel war zwar interessant, ich habe seinen Sinn nicht ganz verstanden. Klärst du mich auf?

Gruß,
Abi

 

Hallo @Abigail Rook ,

Sven Regener wäre mir jetzt nie in den Sinn gekommen, und der Torsten Sträter auch nicht, obwohl er ja hier in diesem Forum seine Anfänge hatte.

Im Grunde war es ein kluger Text über Trauerverarbeitung mit vielen Zigaretten und wenigen Gesprächen.

Ich weiß nicht, aber die reden doch ziemlich viel in dem Text, oder? Gefühlt ist das etwa die Hälfte an Dialog, aber ich kann mich auch täuschen, weil natürlich der Erzähler auch so eine vertraute Stimme hat, der redet ja im Grunde mit dem Leser.

Der Zeitenwechsel in diesem Kapitel war zwar interessant, ich habe seinen Sinn nicht ganz verstanden. Klärst du mich auf?

Man nennt mich nicht umsonst Jimmy Oswaldo Kolle, ich kläre gerne auf! Ja, weil die Tätigkeit ja andauert. Sie sind umgezogen, das liegt in der Vergangenheit, die abgeschlossen ist, aber ihre Gartentätigkeiten etc dauern ja noch an, das tun sie in zeitlichen Passus der Geschichte, das liegt im Präsens der erzählten Zeit.

 

Torsten Sträter auch nicht, obwohl er ja hier in diesem Forum seine Anfänge hatte.
Interessant, ich mag ihn. Deine Geschichte erinnert mich schon an seine Texte. Das war Anfangs sogar mein Problem, weil ich den Humor vermisst habe. Hatte deswegen beim ersten Lesen abgebrochen und mich abends nochmal rangesetzt. Das war gut, denn der Text funktioniert auch ohne lustige Pointen.

Man nennt mich nicht umsonst Jimmy Oswaldo Kolle, ich kläre gerne auf! Ja, weil die Tätigkeit ja andauert. Sie sind umgezogen, das liegt in der Vergangenheit, die abgeschlossen ist, aber ihre Gartentätigkeiten etc dauern ja noch an, das tun sie in zeitlichen Passus der Geschichte, das liegt im Präsens der erzählten Zeit.
Okay, verstanden, hat mich beim Lesen aber etwas rausgebracht. Ich bin Präteritum als Erzählzeit gewohnt, aber das wirkt in der Ich-Perspektive immer zu abschlossen, stimmt schon.

Danke

 

So, hab die aktuelle Version eingestellt. Gekürzt, paar Stellen raus und umgeändert. Vielleicht tut sich dieses Monster ja nochmal jemand an! :D

 

Hallo @jimmysalaryman ,

Ich habe schon von einigen hier im Forum von dir gehört und bin demnach doppelt gespannt auf den ersten Text, den ich von dir lese.

So, bin durch und dein Text hat mich total getroffen, da steckt so viel Schmerz drin, ging mir nah. Mein zweiter spontaner Eindruck: Da steckt sehr viel Verletzlichkeit drin und es hat sich für mich wie ein Text gelesen, der mir etwas über das Leben zeigen kann. Echt krass, was Worte hervorrufen können. Das liebe ich an Literatur so.

Es sind ja schon einige Kommentare geschrieben worden und technisch kann ich hier keine Verbesserungsvorschläge geben, das liest sich großartig. Ich versuche daher, der Frage nachzugehen, was deinen Text so ergreifend und verletzlich für mich macht. Denn dieses Gefühl der Verletzlichkeit klingt gerade irgendwie stark in mir nach.

Ich schüttelte den Kopf und tätschelte sein Knie.
Eine kleine Geste, die so viel Empathie ausdrückt und so viel über die Beziehung zwischen Vater und Sohn preisgibt. Offensichtlich empfinden sie starke Zuneigung bzw. Liebe für einander. Der Sohn kümmert sich, ergreifend.

Hatte Mutter wahrscheinlich einfach irgendwo dazwischen hingetan, kanntest sie ja.
„Ja“, sagte ich. „Ja.“
Das trifft mich, ich kann den Schmerz förmlich greifen. Unglaublich.

Danach deckte er feierlich den Tisch, vergaß dabei die Servietten und ließ den Salzstreuer auf den Boden fallen.
Auch hier fühle ich den Schmerz, die Verletzlichkeit des Vaters, der seinen Kummer nicht zeigen will. Doch seine Handlungen sprechen für sich, ich habe das Bild klar vor Augen und das ist einfach gut geschrieben.

„Nein, war gut, `s war wirklich gut.“
Eine Zeile, die voll ins Schwarze trifft, so viel Liebe und Dankbarkeit ausdrückt. Zudem lese ich hier die Sorge um den Vater heraus, die der Grund für die Dankbarkeit gegenüber Christina ist.

Das Lachen der Väter, tief und voll und laut.
Das Bild funktioniert, erweckt in mir das Gefühl von Ehrlichkeit.

„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“
Ich legte meine Hand auf ihre Hüfte und gab ihr einen Kuss auf den Hals.
Wieder eine Geste, die so viel mehr als Worte sagt. Die non-verbale Kommunikation setzt du großartig ein, um mir als Leser die verletzliche und liebevolle Seite des Charakters zu zeigen.

Es war gut, dort zu sitzen, auf diesem Stuhl, in diesem Hinterhof, mit der Zigarette im Mund, die mein Vater für mich gedreht hatte.
Das haut einfach rein, großartig. Was soll ich dazu schreiben? Hat mich berührt.

Ich rauchte, bis die Glut mir die Finger versengte, bis der Schmerz unerträglich wurde, um dann noch einen Zug zu nehmen, einen letzten, tiefen Zug, den ich sehr lange in den Lungen behielt.
Ich fühle den Schmerz, die Verletzlichkeit und würde ihm am liebsten irgendwie helfen. Das ist beeindruckend geschrieben.

Manchmal tut man Dinge, von denen man nicht weiß, warum man sie tut.
Hier wieder ein Satz, der voller Wahrheit ist. Ja, das unterschreibe ich so.

Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein Geruch, der aus der Garage stammen musste.
Ergreifend, das Symbol für seine Kindheit, als die Mutter noch lebte und dann wird das ganze durch den Geruch der Garage verstärkt. Die Garage, die für mich auch als ein Bild für die Beziehung zwischen Vater und Sohn steht.

„In die Wohnung … ich geh‘ da nicht mehr rein, das kannst du vergessen, das mach ich nicht mehr, ich geh‘ nicht mehr hoch, nee, das ist nix, da werd‘ ich noch bekloppt nachher.“
Ich wiederhole mich, doch das ist umwerfend, so voller Schmerz, Verletzlichkeit. Die Wohnung, in der so viele Erinnerungen wieder wach werden, wird zu einem Ort, den er einfach nicht mehr aushalten kann.

Und wenn der Winter kommt, na, dann kommt er eben. Sehe ich, was ich dann mache.“
Habe hier richtig Mitgefühl mit dem Vater. Es zeigt, wie schwer er getroffen ist, wie er sich dem Schmerz nicht länger gewachsen fühlt. So lese ich das hier und das berührt mich irgendwie total.

„Die hab’n die beste Musik, hatten die schon immer … hör’n wir seit den Sechzigern. Damals noch, in der Hopfengartenstraße, da hatten wir `n SABA, Röhrenradio,
Die Vergänglichkeit wird unterstrichen, funktioniert gut.

Ich sah es so lange an, bis die Konturen begannen, vor meinen Augen zu verschwimmen.
Volltreffer! Das liest sich so authentisch, gleichzeitig verletzlich. Das gefällt mir richtig gut.

„Nein“, sagte ich und legte meine Hand auf sein Knie. „Nein, du warst ein guter Vater.“
Perfekt.

Er hielt die Arme so von sich gestreckt, als wäre da noch jemand anders, ein anderer Körper, der sich zum Rhythmus bewegt, und an den er sich schmiegen kann.
Das hat mich an die Stelle beim "Joker" erinnert, ich kann mir das Bild gut vorstellen und es macht mich traurig. Drückt für mich wieder die beiden Motive Vergänglichkeit und Verletzlichkeit aus, denn wir alle müssen uns der Zeit stellen.

„Wir hab`n früher oft getanzt, deine Mutter und ich, in der Küche, wir hatte ja nicht viel, aber `n Radio hatten wir, und sie hat immer `ne Schneemaß getrunken, der süße Kram, sie mochte ja süßen Kram, und dann kam so Musik wie hier und wir haben getanzt bis in die Puppen
Das verstärkt den Eindruck, den ich gerade bei dem Zitat darüber geschildert habe. Funktioniert, hatte Tränen in den Augen.

An der Hecke blieb ich stehen und sah zurück. Er stand immer noch da
Das kann ich mir so gut vorstellen, wie er sich um seinen Vater sorgt. Großartig.

„Mach’s nich‘ so wie ich, ja? Versprich mir das. Versprichst du mir das? Mach’s nich‘ so wie ich.“
Hier hatte ich einen Kloß im Hals.

Er dreht nicht mehr selbst, er raucht gestopfte Zigaretten, die Luft ziehen und meistens nach fünf Zügen bis zum Filter abgebrannt sind.
Das Gefühl, dass sich der Vater verändert hat wird deutlich und zeigt für mich den Schmerz bzw. die Trauer des Sohns. Gleichzeitig hast du hieran auch schön die Entwicklung des Vaters und seiner Trauer aufgezeigt. Erst dreht er die Zigaretten noch selbst, dann lernt er eine neue Frau kennen und raucht gestopfte Zigaretten. Das gibt ihm weitere Tiefe, wobei deine Charaktere insgesamt total mehrdimensional sind und Tiefe haben.

Er hatte sich verirrt, aber er wollte leben, er hatte das Leben in sich, es war in jeder seiner Bewegungen.
Wieder so eine Wahrheit, die mich einfach getroffen hat. Das ist ein Stil, der mich auch ein bisschen an Murakami erinnert (mein absoluter Lieblingsautor momentan).

Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“
Der Vater, der seinen Sohn nicht verlieren will, aber merkt, dass es nicht mehr so ist wie früher. Der schmerzhafte Versuch ihn wieder näher an sich zu bringen.

„Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
Was für ein Dialog, verstärkt das, was du in dem oberen Zitat aufgebaut hast.

Das Papier hatte einen cremefarbenen Ton, war durchscheinend, und ich hielt es gegen das Licht, um die Faserung zu betrachten. Später, im Auto, als ich wieder auf dem Weg nach Hause war, nahm ich es ganz vorsichtig vom Beifahrersitz, und dann schaltete ich das Radio ein und suchte BFBS.
Das drückt für mich das Motiv der Vergänglichkeit aus und die Trauer, dass sich eben alles verändert. Das Papier, auf dem er zeichnet und der Radiosender, den sein Vater damals hörte. Das ist echt stark gemacht.

und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.
Was für ein Ende. Ich bin tief beeindruckt.


Insgesamt kann ich nur meinen imaginären Hut ziehen und mich für diese ergreifende Erfahrung bedanken. Ich habe mal gehört, dass eine gute Geschichte den Leser verändert zurücklassen soll, das ist dir gelungen. Mal schauen, was du sonst noch so geschrieben hast.


Beste Grüße,
MRG

 

Hallo jimmysalaryman, vielen Dank für diese tolle Geschichte. Ich möchte ein paar Dinge hervorheben, die ich besonders bemerkenswert finde.

1. Deine Sorgfalt
2. Deine Zurückhaltung in der Annäherung an ein Tabu
3. Wie Du beim Leser Gefühle entstehen lässt

Es macht Freude, wie sorgfältig Du den Leser durch verschiedene Etappen einer banalen Alltagssituation führst, die eigentlich gar nicht spannend ist. Spannend ist aber, wie eben durch diese Beschreibung beim Lesen der "Geschmack" von Gewohnheit, Alltag, Langeweile auf der einen Seite entsteht, aber auch Gefühle von Vertrautheit, Sicherheit und Geborgenheit auftauchen. Das schafft eine Diskrepanz zum Verhalten des Vaters, der aus diesem Rahmen fällt und ausbrechen möchte, dann aber doch den anderen Weg wählt.
Die gleiche Sorgfalt lobe ich in Deiner zurückhaltenden Annäherung an das Thema Gebrechlichkeit, Tod und Verlust. Es ist Dir gelungen Trauer fühlbar zu machen und das halte ich für hohe Kunst. Du lässt die Handlung und die Fragen der Figuren von selbst sprechen. Kein Gerede über Gefühle, keine Sentimentalität, kein Kitsch. Eine Geschichte mit Tiefsinn, danke!

Lieber Gruß Penthesileia

 

Hey @jimmysalaryman ,

bevor ich mir die Überarbeitung ansehe noch die ausstehende Antwort auf deinen Kommentar. Ich glaube, dass ich da etwas zu forsch war. Ich hab den Text mit bestimmten Maßstäben gelesen, die ich bei deiner Überarbeitung nicht ansetze.

so dicht wie Wurstbrot

was ist das für ein Vergleich? :lol:

Mir ist auch nicht ganz klar, was du mit kulturell relevant meinst? Muss jedes sprachliche Bild eine kulturelle Relevanz besitzen, und wenn ja, warum?
Was für eine Funktion innerhalb dieser Geschichte sollte eine solche Reflexion über Arbeit haben?
Wenn du da eine andere Idee hast, fände ich es gut, wenn du konkret wirst.

Ich hatte mir da sehr was im Kopf zurechtgelegt, aber das liest sich auch für mich im Nachhinein sehr verbissen. Ich glaube, es macht keinen Sinn, das auszuwalzen. Ich glaube schon, dass jede kulturphilosophische Auseinandersetzung die eigenen Sprachbilder verbessert oder anreichert. Das ist einfach eine These. Vielleicht ist das auch völliger Mist; ich stelle mir das ungefähr so vor: Du liest Überwachen und Strafen von Foucault und hinterher hast du ein besseres Gespür für Machtmechanismen, das du dann automatisch in Bildern verwursten wirst, was dort also anklingen wird. Natürlich muss man jetzt nicht genau so etwas lesen; aber so hatte ich das tatsächlich gemeint und ein Stück weit glaube ich auch daran. Trotzdem liest sich mein Kommentar mittlerweile fremd. Was ich schreibe, wirkt verbissen, fast schon zwanghaft; als ginge es nur genau so und nicht anders. Dabei ist es erstmal eine ziemlich steile, im Prinzip durch nichts weiter bewiesene oder argumentierte These. Das nur, um das ein bisschen zu klären.


Ich schreibe auch an einem neuen Text dieser Art. Das Problem ist, wenn ich solche räudigen Typen schreibe, dann zieht mich das auch selbst mit runter.

Bin gespannt. Die Serie geht also weiter. Da liegen übrigens auch noch Kommentare brach ;)

Sieh dir mal auf YT Alan Bennetts "Talking Heads" an, da gibt es einen Teil mit dem Titel "A chip in the sugar.

mach ich gleich. Will noch einen Copywrite Text lesen. Das CW ist echt ein Brocken Arbeit ...

Die Texte der Serie: Das dunkle Herz der Männer sind alle total voyeuristisch, die sind fast schon pornographisch nah, und so soll das auch sein, die sind wie ein Film von John Waters, immer ein wenig eklig, aber doch so, dass du weiterlesen willst.

Gefällt mir, dass du da so zu stehst. John Waters Filme kenne ich zu meiner Schande nicht; aber ich habe mir den mal rausgeschrieben. Mal schauen.

Hier ist es so wie im russischen skas

Das hatte ich mir auch rausgeschrieben und ein bisschen versucht einzuprägen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dieses Phänomen hat viele Bezeichnungen. Jetzt weiß ich wenigstens, was das ist.

Deine Überarbeitung ist bei mir auf jeden Fall als nächstes dran.
Ich arbeite gerade an einer Umsetzung deiner Vorschläge unter Taubenherz. Das führt dort zu einer kompletten Umstrukturierung und wird sehr anstrengend. Aber ausprobieren will ich es ...

Bin gespannt, was du hier geändert hast und lese es dann auch mal wieder ohne irgendwelche Pauschal- und Maxime-Kategorien.

Gruß
Carlo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @jimmysalaryman ,

nach dem Lesen bin ich jetzt erstmal auf den Balkon und habe eine gequalmt :D Habe den Moment genossen und so ein bisschen im Augenblick geschwelgt.
Was du genau geändert hast an dem Text, könnte ich tatsächlich nicht sagen. Vielleicht liegt das auch an meinem Gedächtnis. Du beschreibst ganz klar und detailiert. Jedes Fingerkrümmen ist da förmlich abgebildet. Ich mag das, weil du viele feine Stimmungen einfängst. Insgesamt kommt mir der Text sehr gedehnt vor. Das soll er ja auch, denke ich mal. Es sind sehr langsame, sehr langsam fließende Gespräche – das wird jetzt eher ein zweiter Leseeindruck, aber ich mache mal so weiter. Ich musste oft an meine Mutter (bitte ihr nicht sagen :D) denken und die manchmal sehr langatmige Weise, wie sie gute Dinge sagt und oft doppelt und dreifach. Manchmal sitze ich dann so da; mit ihr zusammen in der alten Wohnung oder hier in meiner am Handy und ich schau auf die Uhr und ich öffne ein Fenster in meinem Browser, weil ich da Gefühl habe, ich weiß, was sie als nächstes sagt, ich weiß, wie sie es sagt, weil sie die Dinge immer gleich sagt. Mit dem selben Rhythmus, den selben Phrasen, der selben schwelgenden Art. Tatsächlich sind es eher Gespräche etwas später am Abend, wenn – nun ja – schon mal ein Gläschen Wein im Spiel ist ...
Im letzten Drittel des Textes geht einiges von der Langsamkeit für mich auf. Auch weil es eben zum Thema dazugehört. Weil es der Beziehung Raum gibt. Trotzdem war es extrem langsam über viele Seiten. Das ging mir bei Paul Austers 4321 auch so, auch wenn ich den Mann als Autor gerne hab und auch das Buch. Mehr will ich dazu jetzt auch nicht sagen. Das ist ein Gefühl beim Lesen gewesen.
Ansonsten hat mir das letzte Drittel Freude gemacht, ich tauche in deine Erzählweise ein und fühle das wirklich.

Eine Sache: Du hast bei mir kritisiert, ich hätte in dem einen Text eine unentschlossene Erzählhaltung. Hier ist das ja recht klar. Du kommst dann ins Präsens und gehst dann nochmal in die nähere Vergangenheit. Das mag ich hier. Trotzdem finde ich nicht, dass jeder Text sowas braucht. Ist nicht so, dass du das behauptet hättest. Ich hab das beim Lesen oder viel mehr bei der Zigarette auf dem Balkon nochmal überdacht. Ich würde da eher von einer geschlossenen und einer offenen Erzählposition sprechen. Ich habe in einigen meiner Texte eine offene Erzählposition – aber finde, dass das kein Problem ist. Warum sollte das auch ein Problem sein? Hier ist es eben eine geschlossene Erzählposition, weil es klar wird. Also ich glaube, ich beginne, das wie beim geschlossenen oder offenen Ende zu sehen. Beides geht und das ist nicht schlechter als das andere, wenn es funktioniert.

Es muss früher Sommer gewesen sein

das gefällt mir, weil es eben mich in diese Stimmung versetzt. Eigentlich aber müsste man hier auch @AWM recht geben. Ist das jetzt ein Problem? Nein. Vielleicht hängt das wirklich (hatte ein verwandtes Gespräch mit Peeperkorn) mit dem Willing Suspense of Disbelief zusammen; wenn ich ihn hier nicht missverstehe. Dass man es, um es einfach zu sagen, ignoriert, weil man es so möchte.
[Edit: ich weiß gar nicht, ob klar geworden ist, wie der Bezug auf AWM gemeint ist. AWM schrieb, dass niemand sich so genau erinnert und dann wieder so schwammig. Hier könnte man ja erwarten, dass er bei seiner Erinnerungsgabe, was Details betrifft, auch genau weiß, wann es gewesen ist und warum er das weiß.]

Hatte Mutter wahrscheinlich

hatte deine Mutter wahrscheinlich finde ich vom Klang besser


`s reicht
auch wenn du`s
kannst du’s

warum ziehst du das 's beim du ran?

Creme-Pilze

was ist das?

„Was? Glaubst du mir etwa nicht? Warum sollte ich dich belügen? Warum sollte ich meinen eigenen Sohn belügen? Sag mir das?“

Ich mochte, wie das auf einmal so eine Eigendynamik bekommen hatte. Den eigenen Sohn anlügen. Wie das Schlimmste, was man machen kann. Das war so ein common sense zwischen den beiden.

ihre Haut duftete nach Nachtkerzenöl, noch ganz warm und weich von der Dusche.

ein schönes Bild

Er zog ein Bein nach, bei jedem seiner Schritte knickte die Hüfte leicht ein, der mächtige Rücken bewegte sich ruckartig zur Seite weg.

hat mich jetzt auch ein bisschen an Forest Whitaker in Smoke erinnert. Da geht es ja auch um Väter.

Auf dem Boden eine zerdrückte Schachtel Marlboro.

Das war ein lohnender Übertrag aus den ersten Abschnitten. Nach so etwas habe ich nach dem langen ersten Teil gedurstet. Er hat die Kippen also geklaut, denke ich, und lese weiter.

Er saß im Dunkeln auf der Couch und rauchte eine Selbstgedrehte. Aus dem Transistorradio drang leise eine Nummer von Bob Seger. Auf dem obersten Reifen im Stapel lagen ein paar zerdrückte Bierdosen.
„Junge“, sagte er. „Junge, das bist du ja“, als hätte er mich erwartet. Ich setzte mich neben ihn und zündete mir eine Marlboro an. Wir rauchten schweigend. Nach Bob Seger brachten sie einen Song der Allman Brothers, Midnight Rider.

Das ist 1 zu 1 dieses Gefühl, das ich von eigenen Situationen so kenne, was ich am Anfang lange beschrieben habe.

Er hielt sich die Hand vor den Mund, hustete und drehte sich eine neue Zigarette. „Ich hab‘ schon noch was auf der hohen Kante liegen, und ich trink ja auch nur Küppers …

Da war es ein zweiter lohnender Übertrag mit dem Bier und der Mühlenkölsch-Diskussion

seines Overall

Overalls ?

Ich nickte, dann stand mein Vater auf, ging einen Schritt weiter in das Dunkel der Garage hinein und begann, seine Hüften im Takt der Musik zu bewegen. Er tat es langsam, wiegte den Oberkörper sanft hin und her, drehte sich um die eigene Achse, den Kopf leicht erhoben, die Augen fest geschlossen. Er hielt die Arme so von sich gestreckt, als wäre da noch jemand anders, ein anderer Körper, der sich zum Rhythmus bewegt, und an den er sich schmiegen kann.

Tolle Stelle

Zwei oder drei Tage später begann ich damit, nach der Arbeit zu REWE zu fahre

warum diese Konstruktion mit damit beginnen warum nicht einfach ... fuhr ich nach der Arbeit zum Rewe

„Ich geh‘ wieder zur Emitec, mach dir keine Sorgen, Junge. Ich geh arbeiten, ganz normal, wie immer.“

Fand ich auch eine schöne Stelle. Der Vater übernimmt wieder emotionale Veranwortung. Er macht Normalität, aus Rücksichtnahme für seinen Sohn. So habe ich das gelesen.

an der Segge und Wilde Kamille wächst

wilde Kamille (klein) ist ja kein Eigenname

Sie sagt, dass sie meinen Vater aus der Kälte geholt hat und dass ihr das niemand mehr nehmen kann.

Sie war mir unsympathisch, weil sie den Ich-Erzähler so ausgrenzt und sich nach so kurzer Zeit einbildet, den Vater zu kennen. Überheblich. Ich hätte deinen Ich-Erzähler das gerne noch kommentieren gehört; wenn auch vielleicht mit einem gewissen gleichmütigen Dank, weil sie ihm gut tut oder so.

Vor zwei Tagen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen

„Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“

hat mir auch gefallen. Er kann die Mutter noch hören. Das schwingt da sehr schön mit.

Die roten Marlboro kaufte ich an der Mundorf-Tankstelle, weil Yeko schon geschlossen hatte, und die ersten Züge schmeckten mir nicht, aber dann wurde es besser, und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.

Schönes Ende.

Also. Eher nochmal ein zweiter Leseeindruck. Wenn du auch geändert hast; mir ist es nicht aufgefallen. Aber ich schiebe es gern auf mein Gedächtnis.

Bis bald
Carlo

 

Hallo @MRG @Penthesileia @AWM @Carlo Zwei

ich versuche mal, euch allen zu antworten und allen irgendwie gerecht zu werden. Erstmal danke fürs Lesen, bzw erneute Lesen. Jede Meinung bringt neue Erkenntnis. Der Text ist lang, ja. Ich schreibe ja oft kürzer, versuche das, was es zu verknappen gibt, zu verknappen. Ich mißtraue langen Texten prinzipiell, weil es eben oft so ist, dass Autoren versuchen, etwas mehrfach zu erklären, ihre Figuren, Beziehungen, Konflikte, wo man eine gute Szene, in der alles steckt, gebraucht hätte. Bei Romanen ist es noch schlimmer, da denke ich fast, über 250 Seiten, das muss sich die Geschichte aber wirklich verdienen, was sie selten tut. Lektoren sind einfach nicht mehr hart genug und nicht mehr so durchsetzungsfähig. Jeder braucht einen eigenen Gordon Lish! Dieser Text hier ist organisch länger geworden, ich habe das nicht geplant. Ich wollte einen ruhigen Aufbau, einen sich langsam und stetig erhöhenden Sog, dass der Leser ein Gefühl für die erzählte Welt bekommt. Ich denke ja, jede Geschichte hat eine narrative Währung; die tauscht sie gegen das Vertrauen des Lesers ein. Ich kann das mit guten Dialogen, mit rasantem Plot, mit Spannung, mit Formalismen, mit Sprachgefühl erreichen, das ist nicht festgelegt, aber ich muss über eine starke Währung verfügen. Wenn sich die Erzählstimme einmal etabliert hat, kann man nahezu alles machen, weil der Leser die Welt glaubt, er befindet sich in der erzählten Welt, er kauft sie mit all seinen Parametern. Einer der Gründe, warum ich die Amerikaner der frühen Achtziger so mag, ist, dass sie eben alle über eine starke Währung verfügen - es sind kompakte Szenen, mit wenigen, aber den richtigen Details, und einer Oberfläche, unter der es brodelt, oszilliert. Oft haben diese Texte auch ein so genanntes zero-ending, keine echte Karthasis, kein Ende im eigentlichen Sinne. Der Leser spekuliert selbst. Hier ist es jetzt so, dass ich durch die offener Perspektive schon mehr preisgebe, da steht jetzt nichts über die Gefühle, also der Erzähler spricht nicht selbst mit sich oder dem Zuhörer über Gefühle, aber die erlebte Welt ist dicht erzählt. Jetzt fallen mir natürlich mit jedem erneuten Lesen Dinge auf, die ich in Frage stelle. AWM sagte, er glaube nicht, dass der sich so gut erinnern kann. Das ist wohl richtig. Allerdings besteht die Literatur ja zu 90% aus erzählter Zeit, die in der Vergangenheit liegt. Kann sich der junge Erzähler in Moby Dick tatsächlich an alles genauso erinnern? An alle Fakten, Gerüche, Gefühle, etc? Kaum. Es ist doch auch ein Kompromiss, den man schließen muss, um überhaupt von etwas erzählen zu können. Sonst schreibe ich: Mein Vater hat nach dem Tod meiner Mutter mal für ein paar Wochen in der Garage gelebt. Ist aber wieder zurück in die Wohnung. Ende Das ist auch insofern verführerisch, weil ja jeder Autor noch gerne schrecklich schön schreiben will, davon nehme ich mich nicht aus, hier noch ein Detail, da noch etwas Tolles, das schmeichelt dem Text, es schmeichelt dem Autor. Oft ist das ja gar nicht nötig, es bringt der Geschichte, dem Text nichts, es ist reiner Narzismuss - das muss man erkennen und ausdünnen, sonst spürt man die Konstruktion, und vor allem das Ego des Autoren. Bei unfassbar vielen Texten der Gegenwartsliteratur denke ich mir, da geht es nicht um Figuren oder Charaktere, noch nichtmal um Plot, das sind alles nur Vehikel für den Autoren, der sich mit seiner elaborierten Schreibe produzieren möchte. Davor ist niemand gefeit. Deswegen ist es für mich auch notwendig, meine eigenen Texte immer wieder mit frischem Auge zu lesen und dann hart zu mir selbst zu sein. Ich werde alle euer Input aufnehmen, es gären lassen und das konstruktiv verarbeiten. Gebt mir ein wenig Zeit, ich bin privat recht eingebunden, versuche es aber alsbald zu tun. Bis dahin danke ich euch nochmals für eure intensive Textarbeit.

Gruss, Jimmy

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom