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- 28.12.2009
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Wir wollen, dass du aus der Kälte kommst
Ich packte zwei Flaschen Mühlen Kölsch und eine Tüte Salzmandeln auf den Tresen. Yeko gab die Preise in die Kasse ein und nickte mir zu. „Und sonst?“
„Muss“, sagte ich. „Gibste mir noch `ne rote Marlboro?“
Ich zahlte mit einem der neuen Zwanziger, öffnete die Schachtel im Kiosk und schmiss das Zellophan in den Mülleimer vor den Kühlschränken.
„Dann mal `n schönes Wochenende“, sagte Yeko und packte das Bier in eine dünne Plastiktüte. Ich schloss die Tür und steckte das zerknüllte Silberpapier in meine Hosentasche.
An der Bushaltestelle Heinrichstraße blieb ich stehen, um mir eine Zigarette anzuzünden. Damals rauchte ich vierzig, fünfzig Stück am Tag – rote Marlboro, keine andere Sorte. Ich spazierte durch den Park, entlang der Sieg, mit Blick auf die Altbauten und Hinterhöfe und bog erst an der VHS auf unsere Straße ab. Die Bierflaschen schlugen in der Tüte gegeneinander. Glas auf Glas – ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre. Es muss früher Sommer gewesen sein, der Asphalt gab schon Wärme ab und die Blumen am Krankenhausbeet begannen zu blühen.
Mein Vater saß auf den Treppenstufen, auf seinen Knien lag ein Koffer aus braunem Leder, an dem beide Verschlüsse fehlten. Als er mich sah, hob er die Hand.
„Machst’n du hier?“, fragte ich und stellte die Plastiktüte ab.
„Ach“, sagte er und klopfte mit der flachen Hand auf den Koffer. „Hab‘ die Garage aufgeräumt, die war ja so voll, so voll war die, meine Güte, was da alles für `n Scheiß drinstand … und da, tja, da hab‘ ich was gefunden, ganz hinten bei den alten Reifen.“
Ich sah zuerst ihn an, dann den Koffer.
„Also, da wirste dich aber freuen, bin ich mir sicher, dass du dich freuen wirst.“
„In dem Koffer da?“
Er rieb sich lächelnd mit dem Daumen über das Kinn. „Genau, ja, in dem Koffer.“
Ich ließ die Kippe in den Gully fallen und setzte mich neben ihn. Unter seiner zerschlissenen Wolljacke trug er einen Overall mit dem Emblem von Lüghausen, eine Firma, die schon ewig nicht mehr existierte und für die er eine kurze Zeit gearbeitet hatte. Er roch nach Altöl, Schweiß und After Shave. Ich schüttelte den Kopf und tätschelte sein Knie. „Na, dann lass mal sehen.“
Er atmete ein, legte die Hände auf die Kanten des Koffers und öffnete ihn langsam. In der unteren, mit schwarzem Filz bezogenen Schale befand sich ein Stapel mit großen, genormten Papierbögen. Mit Wasserfarben gemalte Bilder von Tieren. Ungelenke Stillleben. Landschaften. Ich streckte die Hand aus. Meine Finger berührten das wellige, leicht feuchte Papier. „Und wo hast du die nochmal gefunden, sagst du?“
„Im Regal bei den Reifen, in dem Regal da, weißt du doch, ganz hinten durch.“
„Das sind meine Bilder aus der Malschule, Malschule Grunschel.“
Mein Vater nickte. „Ich wusste, dass du dich freust.“
Ich zog das erste Bild vom Stapel, hielt es ins Licht, betrachtete die ausgeblichenen Farben. „Wie lang das her ist? Ich hab‘ echt keine Ahnung.“
„Dritte Klasse“, sagte mein Vater. „Du kamst gerade in die dritte Klasse.“
Ich hielt das Bild hoch, drehte es hin und her. „Aber gar nicht mal schlecht, oder?“
„Großes Talent, meinte deine Lehrerin ja. Der Jimmy, der hat großes Talent, der sollte unbedingt gefördert werden.“ Er zuckte mit der Schulter. „Warst der Jüngste da, und auch der einzige Junge.“
Wir saßen eine Zeitlang schweigend nebeneinander, bis ich die Schachtel Marlboro aus meiner Hemdtasche holte und meinem Vater eine Zigarette anbot. „Und du hast das wirklich in der Garage gefunden, den Koffer und alles …“
Er zündete sich die Zigarette mit seinem eigenen Feuerzeug an und nahm einen ersten Zug. „Jaja, ganz hinten drin, wie gesagt, in dem Regal bei den Reifen. Ach, was waren da für Reifen, Sommerreifen, Winterreifen, alle möglichen Reifen. Hatte Mutter wahrscheinlich einfach irgendwo dazwischen hingetan, kanntest sie ja.“
„Ja“, sagte ich. „Ja.“
Dann sah mein Vater auf die Plastiktüte, die Zigarette zwischen den Lippen, seine Augen halb geschlossen. „Hast du dir etwa Feierabendbier gekauft?“
„Christina macht Kassler.“
Er schloss die Augen, nahm einen Zug und sagte: „Ihr beiden, das passt schon.“
„Warum? Weil sie Kassler macht?“
„Weil sie dich dein Bier trinken lässt …“
Ich sah ihn aus den Augenwinkeln an und musste lachen, dann schob ich das Bild zurück in den Koffer. „Komm mit rauf, das musst du ihr zeigen, unbedingt.“
„Aber `s sind ja deine Bilder.“
„Komm schon, sie wird sich freuen.“
„Na, wenn du meinst, mein Junge, dann machen wir das mal.“
Wir standen auf. Ich nahm die Plastiktüte mit dem Bier und er den Koffer. Er klemmte ihn sich unter den Arm, trug ihn so ganz vorsichtig durch das Treppenhaus. Vor der Wohnungstür drang uns der Geruch von gebratenem Fleisch und Sauerkraut entgegen.
Christina stand vor dem Herd. Der Dunstabzug lief auf vollen Touren, Dampf waberte aus einem der Kochtöpfe. Sie trug eine Schürze, die ich ihr aus Kanada mitgebracht hatte: knielang, hellgrau, auf der Vorderseite ein Siebdruck, der einen Biber mit riesigen Zähnen zeigt, darüber, in ausladend großen, schwarzen Lettern: DAMN GOOD COOK. Sie hörte uns im Flur, wie wir uns die Schuhe auf der Schmutzmatte abtraten und die Jacken an die Garderobe hingen. Als sie meinen Vater sah, schüttelte sie den Kopf und fragte: „Ach, nee, wen haben wir denn da?“
Mein Vater zuckte mit den Schultern und blieb vor dem Küchentisch stehen. „Bin eben `n viel beschäftigter Mann, weißt du doch?“, sagte er. Er hielt den Koffer immer noch unter dem Arm.
Sie winkte ab. „Jaja, das sagen sie alle.“
Ich stellte die Plastiktüte auf das Fenstersims und setzte mich auf einen der Stühle. „Hat beim Aufräumen in der Garage was gefunden, was aus meiner Vergangenheit.“
Sie sah mich einen Augenblick lang an, drehte den Herd herunter und schob den Topf mit den Kartoffeln von der Platte. „Aus deiner Vergangenheit?“
Ich nickte, machte eine Geste und mein Vater öffnete den Koffer.
„Ein – wie hieß der?, Picasso, ja, ein Picasso war er früher, musst du wissen“, sagte er und legte den Koffer auf den Tisch. Christina wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie sah auf das oberste Bild, fuhr mit dem Zeigefinger an der Seite des Stapels entlang. „Die sind alle von dir?“
„Ich war eben ein großes Talent …“
Sie zog eines der Bilder aus dem Stapel und betrachtete es mit einer Armlänge Abstand. „Und was soll das hier sein?“
„Kassler mit Sauerkraut natürlich“, sagte ich, und sie schnalzte mit der Zunge und legte es zurück auf den Stapel. Dann wendete sie sich an meinen Vater. „Hans, wo du grad‘ da bist – iss doch mit. `s reicht für drei.“
Mein Vater hob die Hände. „Ach nee, lass mal, ich muss noch nach der Garage gucken, so viel Gerümpel da, der janze alte Kram, muss ja alles mal raus, wirklich.“
„Die Garage kann doch warten“, sagte Christina. „Jetzt setz dich schon hin.“
Ich nahm den Koffer vom Tisch, stellte ihn in die schmale Ecke hinter dem Kühlschrank und holte die Bierflaschen aus der Tüte.
„Mühlen Kölsch“, sagte mein Vater leise und nickte.
„Ich geh‘ auch hart arbeiten.“
„Na, ich hab ja nix anderes behauptet, oder hab ich das, hab ich was anderes behauptet?“
Ich öffnete die Flaschen mit der Kante meines Feuerzeugs und reichte ihm eine herüber. Christina zog mir die Ohren lang, weil ich sie alles alleine machen ließ, das weiß ich noch genau, und mein Vater beschwichtigte und sagte ihr dann, ich sei eigentlich schon immer eine faule Sau gewesen, ich tue nur so, als würde ich hart arbeiten, ich wüsste eben ganz genau, wann ich die Hände aus den Taschen nehmen muss. Danach deckte er feierlich den Tisch, vergaß dabei die Servietten und ließ den Salzstreuer auf den Boden fallen.
Später saßen wir auf dem Balkon, rauchten, tranken Kaffee mit aufgewärmter Milch, die Tüte Salzmandeln zwischen uns auf dem Campingtisch.
„Musste morgen raus?“
„Nee“, sagte ich. „Ich mach ja nur noch Kurzstrecke, will abends zuhause sein. Und Wochenenden auch nicht mehr, hab ich so mit`m Chef abgesprochen.“
„Machst du richtig. Machst deine Arbeit, kriegst dein Geld, hast aber trotzdem was vom Leben.“
„Und bei dir? Wie läufts bei der Emitec?“
Er nahm ein paar Nüsse, steckte sie sich in den Mund, kaute.
„Ach, Emitec, Emitec, was soll da schon laufen? Da seh‘ ich nur noch in tote Augen, sag ich dir. Keiner will da bleiben, ständig kommen neue Kollegen, immer neue Kollegen – der Dieter, Franz, Türke Hassan, alle weg, und ist ja auch kein Traumjob, nein, ist es nicht, aber was soll ich machen? Ich werd‘ achtundfünfzig, da kann ich mir nicht aussuchen.“
Im Bett legte Christina ihr Buch zur Seite. „Ich finde, er sieht schlecht aus.“
„Ja“, sagte ich und holte ein frisches T-Shirt aus der Schublade. „Ist mir auch aufgefallen.“ Ich faltete das Shirt auseinander und legte es über die Stuhllehne. „`s war gut, dass du das gemacht hast, das mit dem Essen.“
„Ja, aber ist doch auch kein Problem.“
„Nein, war gut, `s war wirklich gut.“
Sie nickte und nahm das Buch wieder in die Hand.
In der Nacht wachte ich vom Lachen des Krankenhauspersonals auf. Ich kroch leise aus dem Bett, ging durch den dunklen Flur in die Küche, die vom gleißenden Licht der Notaufnahme erhellt wurde. An der Spüle füllte ich ein Glas mit kaltem Wasser, trank ein paar Schlucke, kippte den Rest in den Ausguss. Dann setzte ich mich an den Tisch und zündete mir eine Marlboro an. Auf dem Balkon der mittleren Etage, die dem Küchenfenster genau gegenüberlag, standen drei Personen im Kreis. Ein Mann, zwei Frauen. Der Mann trug noch den mintgrünen OP-Kittel und hielt eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. Ich konnte Teile seines Gesichts erkennen - den olivfarbenen Teint, den schmal rasierten Oberlippenbart. Er sprach so leise, dass ich nichts von dem, was er sagte, verstehen konnte. Ich sah nur, wie sein Mund sich bewegte, wie sich die Lippen öffneten und schlossen. Die beiden Frauen lachten, danach tuschelten sie, ihre Stimmen spitz und hell. Ich rauchte langsam, Zug um Zug, blieb dabei im Schatten hinter der großen Kaktee, die auf dem Sims stand. Die Frauen gingen bald wieder. Der junge Arzt blieb alleine zurück. Er stützte sich mit einer Hand auf der Brüstung ab, lehnte sich ein Stück über das Geländer und schnippte die Kippe auf die Straße. Die Glut zersprang auf dem Asphalt in tausende Funken. Für einen Moment verharrte er so, den Blick in die Dunkelheit gerichtet, dann ging auch er zurück ins Innere des Gebäudes. Mein Blick fiel auf den Koffer, der immer noch in der Ecke hinter dem Kühlschrank stand. Ich holte ihn hervor, legte ihn auf den Küchentisch, fühlte über das Leder. Es war billiges Imitat, das nach Chemikalien und Kunststoff stank. Ich griff wahllos in den Stapel. Das Bild, das ich herauszog, war kleiner als die anderen - ein hochkantiges Format aus grob strukturiertem, schwerem Papier. Es zeigte eine Auenlandschaft, mit einem sich wild dahinschlängelnden Fluss, ein Stück der bewachsenen Uferböschung, kahle Bäume, hohe Weiden – alles in Blautönen gehalten. Ich hatte keine Erinnerung daran, dieses Bild gemalt zu haben. Ich fuhr mit dem Daumen die Farbverläufe nach, über das fast schwarze Blau des Flusses, das verwässerte Türkis der Bäume. Ein wenig Pigment rieb sich vom Papier ab und blieb an meinen Fingerspitzen haften. Ich sog diesen Geruch ein – den Geruch von getrockneter Farbe und altem, feucht und wieder trocken gewordenem Papier.
Am nächsten Morgen ließ ich Christina ausschlafen. Ich trank in aller Ruhe die erste Tasse Kaffee, rauchte bei geöffnetem Küchenfenster und zog mich im Badezimmer an. Anschließend ging ich auf dem Markt einkaufen. Ich packte Zucchini, Creme-Pilze, Fenchel, Tomaten und frische Paprika in das Netz, kaufte zwei Packungen Eier vom Bauern und holte die bestellten Hüftsteaks vom Metzger. Auf dem Rückweg kaufte ich beim Kiosk noch die Wochenendausgabe des Stadtanzeigers, drei Schachteln Marlboro und sah nach der Post. Seine Stimme hörte ich schon im Erdgeschoss, als ich den Briefkasten leerte. Das Lachen der Väter, tief und voll und laut.
Er saß am Küchentisch, eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen und einen Becher Kaffee in den Händen. Sein Gesicht war in den blauen Dunst der Zigarette gehüllt, aber ich sah sein breites Grinsen. Er hob den Kopf, nickte mir zu, sein flaches Kinn mit dem grauen Bart bewegte sich langsam auf und ab. „Junge“, sagte er. „Was du alles machst! Gehst du einkaufen, kochst du, und Christina sagt, manchmal putzt du auch die Toilette!“ Er nahm einen Zug und blickte auf die Glut. Dann sagte er: „Machst du auch die Wäsche?“
Ich sah zu Christina, die am Ende des Tisches saß, eine Dose Coca-Cola in der Hand. Sie blickte in das kleine, schwarze Oval der Öffnung und ihre Schultern zitterten.
„Ja“, sagte ich. „Ist gut, ist ja schon gut“, und dann begann sie zu lachen, und mein Vater lachte auch. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Miniaturkanone aus Plastik, der Nachbau einer 12-Pfünder. Er nahm meinen Blick auf und fragte: „Kannst du dich noch erinnern?“
Ich nahm mir eine Tasse aus dem Regal und setzte mich auf den Platz neben dem Fenster. „Nein, nein, kann ich nicht, ich erinner‘ mich nicht. Was ist das?“, fragte ich und goss mir Kaffee ein.
„Wir waren in Dänemark, Urlaub. Du warst ja noch ganz klein, und da, am Strand, da standen diese Kanonen herum, vier, fünf Stück, aus dem Krieg mit Napoleon oder was weiß ich mit wem, und da bist du drauf rumgeklettert, auf den Kanonen, und dann wolltest du unbedingt eine mitnehmen, nach Hause, weißt du das nicht mehr? – konnten ja nicht einfach eine Kanone mitnehmen, wie sollte das gehen?, aber du, du gabst keine Ruhe, einfach keine Ruhe, hast gebrüllt wie am Spieß, die Kanone, die Kanone, also was haben wir gemacht? Mutter hat dir die da gekauft, in einem von den Geschäften, eine Kanone aus Plaste, damit der Junge endlich Ruhe gibt, hat sie gesagt, und dann, na dann hast du auch Ruhe gegeben.“
Ich beugte mich über den Tisch, nahm die Kanone in die Hand, drehte sie hin und her. Es war ein schlecht gegossenes Exemplar, die Nähte standen heraus, das Material war rau und matt. „Kann mich nicht erinnern, wirklich nicht.“
Mein Vater zuckte mit der Schulter und zog an seiner Zigarette. „Warst noch klein, ganz klein … und normal, dass du dich nicht erinnern kannst, ich kann mich ja auch an nix erinnern, nur manchmal, dann ist’s wie ein Blitz im Kopp, da erinner‘ ich mich an die dollsten Sachen, so Sachen, wo ich nie dachte, dass die da noch drin sind.“ Er klopfte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.
„Dänemark“, wiederholte ich. „Wann war das?“
„Warst noch klein, ganz klein.“
Ich stellte die Kanone auf die oberste der Marlboro-Schachteln, die ich auf dem Tisch gestapelt hatte. „Hast du die auch in der Garage gefunden?“
Mein Vater nickte. „Da steht so viel drin, immer noch!, ich hab’s dir ja gesagt, weiß der Herrgott, was ich da noch alles drin finde.“
Christina trank den letzten Schluck Cola und stellte die Dose in die Kiste für den Pfand. „Ich fang schon mal mit dem Salat an“, sagte sie und öffnete den Kühlschrank.
Mein Vater drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich will euch nicht aufhalten hier.“
„Bleib schon sitzen“, sagte ich. „Ist genug da.“
„Aber wie sieht das denn aus, mein Junge? Gestern hier essen, heute hier essen, da seh‘ ich ja aus wie ein Dieb!“
„Dafür haste dich das letzte Jahr rar gemacht.“ Ich stand vom Tisch auf, packte das Fleisch aus der Folie und legte die Stücke auf ein großes Schneidebrett. „Da kann ich verkraften, wenn du mal zwei Tage hier bist …“
„Hatt‘ ich ja auch zu tun, war viel auf Arbeit. Weißt doch, wie das ist – klar kannst du’s einen anderen machen lassen, aber dann, was passiert? Nix passiert, eben. Bleibt immer alles liegen, und das ist dann auch scheiße, also machst du’s lieber direkt selber.“
Ich spülte das Fleisch mit kaltem Wasser ab, trocknete es mit Papierhandtüchern und legte die Stücke zurück auf das Brett. „Wollt‘ ich draußen grillen“, sagte ich. „Kannst mir mit dem Feuer helfen …“
Der Grill stand unter einem Pavillon, neben einem Haselnussstrauch, den ich ein paar Wochen zuvor zurückgeschnitten hatte, dessen Augen jedoch bereits wieder ausschlugen. Der ungemähte Rasen roch schon nach den im Frühjahr gesetzten Blumen und Kräutern. Aus dem Außenhahn ließ ich kaltes Wasser in einen Plastikeimer laufen, nahm ein paar Flaschen Mühlen aus dem Kasten im Keller und legte sie hinein. Mein Vater schichtete währenddessen die Kohle im Grill. Er hatte sein eigenes System, sortierte die Stücke immer wieder um, bis schließlich alles passte. Als das Feuer entfacht war, setzten wir uns an den Campingtisch und öffneten das erste Bier.
„Du hast ein gutes Leben“, sagte er und nahm einen Schluck. „Fleisch, Bier, vernünftige Frau – was will man mehr?“
Ich zündete mir eine Marlboro an. „Sag mal, an Dänemark, da kann ich mich echt nicht dran erinnern, kein Stück …“
„Ja, warst du auch zu klein für, für’s Erinnern, hab‘ ich dir schon paarmal gesagt jetzt.“
„Waren wir auch wirklich da, oder …“
„Was? Glaubst du mir etwa nicht? Warum sollte ich dich belügen? Warum sollte ich meinen eigenen Sohn belügen? Sag mir das?“
„Ist ja schon gut.“ Ich winkte ab. „Kümmern wir uns mal lieber um’s Fleisch …“ Er nickte, blieb aber sitzen und holte den Tabaksbeutel aus der Vordertasche seines Overall.
„Gibt auch Fotos“, sagte er und leckte das Blättchen an. „Such ich dir raus. Bring ich dir mit.“
Ich legte die Steaks auf den Rost. Es zischte, als Fett durch das Gitter auf die Glut tropfte. „Musst du nicht.“
Er saß still da, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, in der Hand eine brennende Zigarette, die Flasche Bier vor sich auf dem Tisch. Ich wendete die Steaks, spürte die aufsteigende Hitze der Glut im Gesicht. „Dreh mir auch mal eine“, sagte ich nach einer Weile und zeigte auf den Beutel Van Nelle.
„Ist aber schwarzer …“
„Macht ja nix.“
Er zog einen Strang Tabak aus dem Beutel, verteilte ihn in der Mitte eines Blättchens, rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen. Seine selbstgedrehte Zigarette sah aus wie eine gekaufte ohne Filter – keine Fransen an den Enden, überall der gleiche Umfang. „Ja“, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. „Hab‘ ich ja auch bei den Franzosen gelernt, die drehen die Dinger in der Hosentasche, und einhändig!“
„Einhändig in der Hosentasche?“
„Hab‘ ich dir jemals Blödsinn erzählt?“ Er grinste und reichte mir dann die Zigarette. Ich steckte sie mir zwischen die Lippen, wendete die Steaks noch einmal und schob sie auf einen weniger heißen Bereich des Rosts zum Garen. Christina brachte den Salat in einer großen Keramikschüssel; Tomaten, Gurken und Fenchel gewürfelt, darüber zerriebener Ziegenkäse, ein Dressing aus Olivenöl, kühlem Essig und Sherry. Dazu gab es Ofenkartoffeln, die ich mit Rosmarin und Thymian gewürzt hatte. Sie stellte Teller und Schüsseln auf den Tisch, holte Saucen für das Fleisch aus dem Beistellregal, das in einer Ecke des Pavillons stand. Ich verteilte die Steaks auf die Teller – einfache Teller mit zerkratztem Spiegel, die Christina schon vor Jahren aussortiert hatte. Der Saft schimmerte auf der angegrillten Oberfläche und verströmte einen rauchigen Duft. Ich legte die Zigarette unangezündet neben den Teller und schnitt in das Fleisch; der Kern war noch leicht rosa, perfekt.
Später, als ich oben in der Küche den Abwasch machte, die gespülten Teller und Töpfe in das Abtropfgitter stellte, fiel mir auf, dass eine Schachtel Marlboro fehlte. Ich trocknete mir die Hände ab, nahm eine der beiden verbliebenen Schachteln vom Tisch und riss das Zellophan ab. Auf dem Balkon gegenüber standen wieder die beiden Krankenschwestern. Sie rauchten, redeten miteinander, aschten in eine Getränkedose. Ich sah ihnen schweigend zu, hielt dabei die volle Schachtel Marlboro in meiner Hand.
„Alles okay bei dir?“
Ich sah über meine Schulter. Christina stand in der Tür. Sie trug eines meiner alten Carhartt-Shirts und hatte sich ihre langen Haare zu einem Zopf gebunden.
„Ja, alles okay.“
„Heute sah er schon besser aus, fand ich.“
„Fand ich auch, ja.“
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“
Ich legte meine Hand auf ihre Hüfte und gab ihr einen Kuss auf den Hals. Wir standen für eine Weile so da, Wange an Wange, meine Nase in ihrem feuchtem Haar, ihre Haut duftete nach Nachtkerzenöl, noch ganz warm und weich von der Dusche. „Ja, wirklich alles in Ordnung“, sagte ich. „Hab‘ nur unten was vergessen.“
Die Zigarette lag noch auf dem Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem mein Vater gesessen hatte. Von dort konnte ich die Einfahrt entlang bis auf die Straße blicken. Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand, ich starrte auf die harten Kanten der Schatten, die auf dem Putz entstanden. Eine Katze sprang von der Backsteinmauer auf eine der Mülltonnen, sie machte dabei ein leises, dumpfes Geräusch, das in dem schmalen Gang widerhallte. Für einen Moment sah ich ihr durchgeflecktes Fell, danach verschwand sie wieder in der Dunkelheit. Kiengeruch wehte in sanften Schüben vom Stadtwald herüber, und ich schloss die Augen, atmete tief ein und suchte nach der Zigarette, die immer noch auf dem Tisch lag. Ich tastete über das Granit, bis ich das weiche Papier der Selbstgedrehten an meinen Fingerspitzen spürte. Bevor ich sie anzündete, nahm ich ein paar kalte Züge, schmeckte das Aroma des Tabaks. Den ersten Rauch ließ ich langsam durch die Nasenlöcher entweichen, wartete auf das Kratzen tief unten im Hals, wie sich die Wirkung des Nikotins allmählich in meinem Brustkorb entfaltete. Das Aufleuchten der Glut sah ich durch meine geschlossenen Lider hindurch – ein pulsierender Schein in fließendem Orange. Es war gut, dort zu sitzen, auf diesem Stuhl, in diesem Hinterhof, mit der Zigarette im Mund, die mein Vater für mich gedreht hatte. Ich ließ mir bei jedem Zug Zeit. Nach und nach verloschen die Lichter im Haus. Der blaue Dunst waberte durch die Nacht, löste sich in ihr auf. Ich hörte wieder die Stimmen des Krankenhauspersonals, die von den Balkonen hinab über die Straße bis an meine Ohren drangen; ein stetiges Auf und Ab, unterbrochen nur von lautem Lachen. Dann andere Geräusche: das Zuschlagen von Autotüren, die dröhnenden Motoren der im Leerlauf parkenden Notarztwagen. Bald wurde es so still, dass nur das unterschwellige Summen der elektrischen Leitungen übrig blieb. Ich rauchte, bis die Glut mir die Finger versengte, bis der Schmerz unerträglich wurde, um dann noch einen Zug zu nehmen, einen letzten, tiefen Zug, den ich sehr lange in den Lungen behielt.
In dieser Nacht hatte ich einen Traum: Ich stehe auf einer weißen Leinwand, die so groß ist, dass ich ihre Abmessungen nicht erkennen kann. Sie scheint kein Ende zu haben, scheint unermesslich. Es gibt keine Sonne, keinen Mond, keine Wolken, nur einen Himmel, der so durchgehend grau wie Mörtel ist. In diesem Traum gehe ich los, in keine bestimmte Richtung, ich gehe einfach. Ich habe das Gefühl, stundenlang unterwegs zu sein, und doch verändert sich nichts, trotz der Strecke, des weiten Wegs, den ich zurückgelegt habe - alles bleibt gleich: Himmel und Leinwand, das durchdringende Weiß, so sauber, klar und rein.
Ich erwachte, Christinas Körper neben mir unter der Decke, warm und noch vollkommen im Schlaf versunken. Ich hörte eine Weile auf ihren ruhigen Atem, dann stand ich auf. Frühes Licht drang durch die Vorhänge, die frische Luft, die durch das gekippte Fenster in das Zimmer wehte, fühlte sich kühl auf der Haut an. Da waren immer noch die Bilder des Traums – langsam verblassende Erinnerungen, an die Fortbewegung, das Gehen, aber vor allem an das glänzende Weiß, an diese makellose Oberfläche. In der Küche kochte ich Kaffee und wärmte die letzte Heumilch in einem Topf auf. Die Balkone des Krankenhauses leer, auch die Notaufnahme wirkte verlassen. Das schattenlose Licht tauchte alles in ein tristes Grau. Ich stand vor dem Fenster, trank den ersten Schluck und wartete auf den Sonnenaufgang. Mittags ging ich zu Yeko’s Kiosk, kaufte einen Beutel Samson und OCBs, und dann setzte ich mich auf den Stuhl im Hinterhof und drehte ein paar Zigaretten. Ich hatte das jahrelang nicht mehr gemacht. Meine Bewegungen waren steif und ungelenk, aber nach der dritten, vierten wurde es besser. Die Zigaretten legte ich auf den Tisch – kurze, weiße Filterlose, und da musste ich wieder an den Traum denken, an die große Leinwand und was sie wohl bedeuten könnte.
Manchmal tut man Dinge, von denen man nicht weiß, warum man sie tut. Ich saß auf diesem Stuhl, ein paar Gramm Tabak zwischen den Fingern, dann zog ich ein neues Blättchen aus der Packung und steckte alles in meine Hosentasche. Das Blättchen riss in der Mitte durch, noch Tage später fand ich Tabakkrümel. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie man das anstellt, eine Zigarette einhändig in der Hosentasche drehen, aber mein Vater kam an diesem Sonntag nicht. Abends, als ich im Bett lag, fiel mir die Miniaturkanone aus Plastik auf, die neben dem Radiowecker auf der Kommode stand.
„Hast du die dahingestellt?“
Christina sah mich über den Rand ihres Buches hinweg an. „Ich dachte, ist doch `ne schöne Erinnerung.“
Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein Geruch, der aus der Garage stammen musste.
„Ich kann mich nicht erinnern, an Dänemark oder so, an diesen Urlaub … ist ganz seltsam.“
„Aber, ich meine … du warst doch da auch wirklich noch richtig jung, oder? Ein kleines Kind, und da erinnert man sich nicht an alles, also ich jedenfalls tue das nicht.“
„Vielleicht hast du Recht“, sagte ich und schloss für einen Moment die Augen. „Ja, ich denke, du hast Recht.“
Sie schlug das Buch zu und legte es vor sich auf die Decke. „Er ist einfach einsam, das ist alles.“
„Kann gut sein“, sagte ich. „Ich verstehe das trotzdem nicht, das alles ist schon zwei Jahre her, und er hat nie was gesagt, ich meine, er hat sein Leben im Griff, dachte ich zumindest, aber irgendwie … denn, mal ganz ehrlich, wann war mein Vater das letzte Mal hier – einfach nur so, zum Klönen? Und auf einmal taucht er mit diesem ganzen alten Scheiß hier auf …“
„Es ist kein Scheiß …“
„Ja, du weißt, wie ich das meine …“
„Dein Vater würde sich lieber die Zunge abbeißen, bevor er was sagt, so ist der eben, so sind die alle aus der Generation, mein Vater genauso, die sagen nix, über Gefühle schon mal gar nicht … .“
Ich drehte mich auf die Seite, legte einen Arm um sie, berührte mit der Hand ihren nackten Oberarm. „Sag mal, was ganz anderes - hast du vielleicht eine von den Marlboro genommen?“
Sie sah mich kurz an und hob die Augenbrauen. „Warum sollte ich das tun?“
„Naja, da lagen drei Schachteln auf dem Tisch, und jetzt …“
„Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört“, unterbrach sie mich, „und nur weil du deinen Kram nie zusammenhalten kannst, musst du nicht mich verantwortlich machen, wenn dir was wegkommt, ja?“
Montagmorgen fuhr ich eine Tour zu Heros in Sluiskil. Ich hatte Schrott geladen, der in einer der Aufbereitungsanlagen gereinigt und dann wiederverwertet werden sollte. Papiere abzeichnen. Fracht löschen. Die Autobahn war frei, ich war mittags wieder an der Halle und nahm mir den restlichen Tag frei. Ich fuhr mit dem Auto zu REWE, um Leergut abzugeben und neues Bier zu kaufen. Der Parkplatz vor dem Getränkemarkt war um diese Zeit fast leer. Ich schob den Einkaufswagen durch die Gänge, rechts und links hohe Stapel mit Getränkekisten – Sester, Garde, Ganser, Peters, Giesler, die gängigsten Kölschsorten, Küppers war gerade im Angebot. Es stimmte, Mühlen war das teuerste Bier, aber ich wollte nicht darauf verzichten, ich dachte, es steht mir einfach zu. Ich nahm eine Kiste vom Stapel, zahlte an der Kasse und lud sie in den Kofferraum.
Am Ende der Schnellstraße, kurz vor der Kreuzung, die ins Stadtzentrum führt, sah ich am Horizont die Umrisse des Industriegebiets, in dem auch die Emitec lag - die Fabrik, in der mein Vater arbeitete. Sie stellten dort Katalysatoren und Partikelfilter her, und es hieß, sie zahlen über Tarif und es gebe sogar eine gute Betriebsrente. Ich hätte an der Ampel links abbiegen müssen, doch ich fuhr über die Kreuzung stadtauswärts, vorbei an Häuserblocks, Brachen und der alten Schrebergartensiedlung, bis hinter der Unterführung die Fabrik auftauchte. Schmale, weiße Hallen mit schräg abfallenden Faltdächern, dann der große Haupttrakt, der sich über mehrere Etagen erstreckte. Das ganze Gelände von einem meterhohen Sicherheitszaun umgeben. Ich blieb mit laufendem Motor auf dem Besucherparkplatz stehen und behielt den Seiteneingang der Fertigung im Blick. Mein Vater arbeitete Frühschicht, und um kurz nach Zwei kamen die ersten seiner Kollegen aus dem Gebäude. An die Gesichter derer, die auf der Beerdigung meiner Mutter anwesend waren, konnte ich mich noch gut erinnern. Youssef, der halbblinde Marokkaner blieb vor dem Zaun stehen, zögerte einen Moment, dann erkannte er meinen schäbigen blauen Volvo und winkte mir zu. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter.
„Wie geht dir? Geht dir gut?“
„Und bei dir, Champ?“, fragte ich ihn, weil ich wusste, dass er vor ewigen Zeiten mal Westdeutscher Meister im Schwergewicht gewesen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Muss, ne.“
Ich nickte und sah kurz in sein erblindetes Auge. Sie hatten den Glaskörper durch ein flüssiges Gel ersetzt. Nach der Operation war die Iris hell, fast weiß geworden und auch so geblieben. „Bist du gekommen wegen deinem Vater, ne?, aber was ist mit dem? Nix hier. Seit zwei Wochen nix arbeiten, und hat zu keinem was gesagt, Meister macht schon Ärger, sagt, braucht bald nicht mehr kommen.“
Ich blickte durch die Windschutzscheibe über das Werksgelände. Immer mehr Arbeiter kamen aus dem Gebäude, sammelten sich auf dem Gehweg vor dem Sicherheitszaun, rauchten eine letzte Zigarette, verabschiedeten sich voneinander. Youssef legte eine Hand auf das Autodach, beugte sich nach vorne und lehnte den Oberkörper gegen die B-Säule. Sein Gesicht kam ganz nah, ich konnte Poren und Stoppeln erkennen. „Zwei Wochen nix hier, der Hans, was mache?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Ich weiß es wirklich nicht.“
„Musst du doch wissen, was da los is‘. Is dein Vatter, oder? Guckst du mal, sonst nachher Arbeit verlieren. Is‘ vielleicht krank?“
„Wahrscheinlich ja, Youssef, wahrscheinlich ist er krank.“
„Aber geht auch nix an sein Handy …“
„Hast du’s heute schon probiert?“
„Nix heute, letzte Woche, aber ist der nicht rangegangen.“
Ich nickte und sah noch einmal in sein helles Auge. „Ist dein Vater“, wiederholte er und klopfte auf das Autodach. „Musst du doch gucken.“ Dann drehte er sich um und ging. Er zog ein Bein nach, bei jedem seiner Schritte knickte die Hüfte leicht ein, der mächtige Rücken bewegte sich ruckartig zur Seite weg.
Drei oder vier Mal fuhr ich an dem grauen, mehrstöckigen Mietshaus vorbei. Die Barbarastraße runter, ein Stück Jägerstraße, in der Einfahrt des alten Dahlhausens wenden. Dann das gleiche Spiel von vorne. Irgendwann hielt ich doch vor dem Haus, parkte, blieb im Wagen sitzen und hörte auf das Summen des Kühlers. Schließlich stieg ich aus und klingelte. Der schrille Ton rang durch das ganze Haus. Niemand öffnete. Direkt neben dem Gebäude lag ein Garten mit Spielgerüst. Ich ging an den Abfalltonnen vorbei, öffnete das Tor im Jägerzaun. Der Rasen war nicht gemäht. Neben dem Sandkasten lagen mit Kabelbinder verschlossene Müllsäcke. Ich suchte den Hof und die gemauerten Garagen durch die Buchsbaumhecke ab. Er saß auf einem Schemel vor dem Rolltor, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt.
„Ich seh‘ dich“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Ich kann dich sehen.“
„Warum biste nicht auf Arbeit?“
„Ach, Arbeit.“ Er zuckte mit der Schulter und lehnte sich gegen das schmale Stück Mauer zwischen den Garagen. „Arbeit, Arbeit, hier ist genug Arbeit, kannst du gucken, guck!“
Neben dem Eingang standen zwei Sätze Autoreifen. Die oberste Felge war durchgerostet, die Profile abgefahren. Aus dem Raum drang der Geruch von Altöl und Teilereiniger. Ich erkannte die Couch aus grünem Cord, die sonst oben im Wohnzimmer gestanden hatte. Die Kissen mit den selbstgenähten Bezügen aus hellerem Stoff lagen alle auf einer Seite, über der Lehne hing eine graue Bundeswehrdecke.
„Warum steht die Couch hier unten rum?“
„Ich hab‘ da drin alles aufgeräumt, alles hab‘ ich aufgeräumt – ich sag dir, da stand so viel Zeug drin, so viel Mist, und das meiste ist schon weg, ist noch lange nicht alles, noch lange nicht, aber ist ein Anfang, ja?“
Ich ging weiter in die Garage, atmete die staubige Luft ein und blieb vor der Couch stehen. Da war ein Transistorradio, ein Aschenbecher und eine leere Dose Ravioli. Auf dem Boden eine zerdrückte Schachtel Marlboro. Ich drehte mich um und sah meinen Vater an. Er senkte den Blick, legte seine Hand auf die Reifen und sagte: „In die Wohnung … ich geh‘ da nicht mehr rein, das kannst du vergessen, das mach ich nicht mehr, ich geh‘ nicht mehr hoch, nee, das ist nix, da werd‘ ich noch bekloppt nachher.“
„Was ist los? Was ist denn mit der Wohnung?“
Er atmete ein und lächelte knapp. „Ist wie im Museum, ich guck hier, ich guck da, überall ist noch was, verstehst du, kannst du das verstehen?“
Ich nickte schweigend, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, kannst du nicht verstehen, das kannst du nicht verstehen, wie auch?“
„Und jetzt? Wie soll das weitergehen? Wie hast du dir das vorgestellt?“
„Gar nicht, Junge, ich hab‘ mir gar nichts vorgestellt“, sagte er und setzte sich auf die Couch. „Aber ich geh‘ nicht mehr in die Wohnung, ich geh‘ nicht mehr da hoch, ich räum hier auf, bis alles raus ist, bis nichts mehr da ist.“
Ich setzte mich neben ihn. An der Wand hing ein Kalender von 1996, Hochglanzbilder von halbnackten Frauen auf Motorrädern. „Und wenn alles raus ist, was dann? Was machst du dann?“
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander und starrten auf den Kalender.
„Nichts“, sagte er schließlich. „Ich mach‘ nichts mehr.“
„Du willst in der Garage wohnen bleiben, ja?“
Er zuckte mit der Schulter. „Ich brauch doch nicht viel. Stück Seife, Wasser krieg ich aus der Waschküche - kalt, aber drauf geschissen, und Ravioli, die kauf ich mir billig beim REWE und mach‘ die mit dem Campingkocher warm.“
„Und was machste im Winter?“
„Ich denk‘ von Tag zu Tag - Heute, Morgen, fertig. Ich bin zu alt, um noch großartig Pläne zu machen. Monate, Jahre, was soll das alles? Heute ist, was zählt. Und wenn der Winter kommt, na, dann kommt er eben. Sehe ich, was ich dann mache.“
Ich hob die Schachtel Marlboro vom Boden auf. „Warst seit zwei Wochen nicht arbeiten. Was meinste sagen die bei der Emitec dazu?“
„Was sollen die bei der Emitec sagen? Was wollen die schon groß machen?“
„Dir kündigen zum Beispiel …“
„Kündigen, kündigen, dann sollen die mir eben kündigen, wenn se sich trauen … die suchen Facharbeiter überall, kriegen keine, aber mir kündigen? Niemals kündigen die mir. Und wenn, geh‘ ich zum Betriebsrat, sag ich der Gewerkschaft Bescheid, die freuen sich, und dann werden die bei der Emitec schon sehen, was se davon haben. Kündigen!“
Christina legte Messer und Gabel neben die Teller. „Warum denn in die Garage?“
„Ich weiß es nicht.“ Ich setzte mich an den Küchentisch, nahm die Gabel in die Hand, drehte den Stiel hin und her. „Vielleicht ist er auch einfach verrückt geworden.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Ich habe wirklich keine Ahnung … ich meine, was soll ich denn tun, deiner Meinung nach? Ist ja ein erwachsener Mann, der ist mündig, der weiß angeblich, was er tut, da kann ich schlecht `s LKH anrufen, und die holen den dann inner Zwangsjacke ab und kümmern sich drum.“
Sie nickte. „Ich meine … ich kann es schon auch irgendwie verstehen, da ist alles voller Erinnerungen, jede Tasse, jeder Teller, alles, und er ist ja jetzt ganz alleine in dieser großen Wohnung – und wir wissen nicht, wie das ist, die beiden waren über dreißig Jahre zusammen, also …“
„Aber wenn es ihm nicht gut geht, wenn er was hat, dann soll er doch was sagen, verdammt noch mal!“
„Jimmy“, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. „Jetzt reg dich nicht auf. Du weißt doch, wie das ist … der würde nix sagen, niemals … die fressen das eben in sich rein, bis es nicht mehr geht, die machen das mit sich selbst aus. Und deinen Vater, den änderst du nicht mehr, so ist das eben, damit musst du leben.“
Ich zuckte mit der Schulter. „Ich weiß nicht …“
„Lass ihn einfach, spätestens wenn es richtig kalt draußen wird oder die tatsächlich mit der Kündigung um die Ecke kommen, dann …“
„Ja“, sagte ich und starrte auf den leeren Teller. „Vielleicht das Beste, einfach abwarten, einfach sehen, was passiert und wie das weitergeht. Wird schon werden.“
„Hey!“, sie beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn, „ist nicht deine Schuld, ja? Mach dir keine Vorwürfe. Du hättest nichts ändern können, auch wenn du`s gewollt hättest. Okay! Okay?“
In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte an die Decke des Schlafzimmers, wo das einfallende Mondlicht geometrische Muster in die Dunkelheit zeichnete. Christina schnarchte leise neben mir. Irgendwann stand ich auf, zog mich an und schloss die Wohnungstür hinter mir ab. Den Volvo hatte ich in einer Nebenstraße geparkt. Als ich hinter dem Steuer saß, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Schließlich startete ich einfach den Motor und fuhr los.
Er saß im Dunkeln auf der Couch und rauchte eine Selbstgedrehte. Aus dem Transistorradio drang leise eine Nummer von Bob Seger. Auf dem obersten Reifen im Stapel lagen ein paar zerdrückte Bierdosen.
„Junge“, sagte er. „Junge, das bist du ja“, als hätte er mich erwartet. Ich setzte mich neben ihn und zündete mir eine Marlboro an. Wir rauchten schweigend. Nach Bob Seger brachten sie einen Song der Allman Brothers, Midnight Rider.
„BFBS“, sagte mein Vater dann. „Die hab’n die beste Musik, hatten die schon immer … hör’n wir seit den Sechzigern. Damals noch, in der Hopfengartenstraße, da hatten wir `n SABA, Röhrenradio, `n richtiger Klotz das Ding, aber auch `n Wahnsinnsklang, sag ich dir, so was bauen die nicht mehr, die wissen gar nicht mehr, wie das geht.“
Nach den Allman Brothers folgte Canned Heat.
„Wirklich guten Sound spielen die.“
„Auf jeden Fall“, sagte er mit schleppender Stimme.
„Hast du die Dosen da alle alleine weggemacht?“
Er nickte.
„Und wie schläft’s sich hier auf der Couch?“
„Nach fünf, sechs Bier wie in `nem Himmelbett.“
„Solange das Kleingeld reicht also …“
Er hielt sich die Hand vor den Mund, hustete und drehte sich eine neue Zigarette. „Ich hab‘ schon noch was auf der hohen Kante liegen, und ich trink ja auch nur Küppers …“
Ich saß da und hielt die Marlboro in der Hand, die bis zum Filter heruntergebrannt war. Vom dem Kalender an der Wand waren nur noch die Umrisse zu erkennen. Wir hörten eine ganze Weile der Musik zu. Nach Canned Heat folgten Songs von Marvin Gaye, Nick Drake und Alexis Korner. Dann räusperte sich mein Vater, richtete sich auf, griff in die Brusttasche seines Overall und holte ein Foto heraus. „Hier, nimm.“
Ich nahm ihm das Foto aus der Hand und rückte auf der Couch nach vorne, um es im Mondlicht betrachten zu können. Das war ich: ein kleines Kind mit strohblonden Haaren, Pausbacken, in roten Latzhosen und senfgelbem Anorak. Ich sitze auf dem Rohr einer Kanone, einer echten Kanone, einem Vorderlader aus matter Bronze. Hinten im Bild sieht man Teile einer verfallenen Bewehrungsmauer, den glatten Sand der Dünen, und dann, am Horizont, das Meer – eine satte, dunkel glänzende Masse. Da ist ein Lächeln auf meinem Gesicht, und es ist ein junges Lächeln, eines voller Erstaunen, voller Neugierde. Ich sah es so lange an, bis die Konturen begannen, vor meinen Augen zu verschwimmen. „Hast du noch so `n Küppers?“
Mein Vater legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Dachte, du trinkst nur Mühlen?“
„Küppers muss man aus der Dose trinken, oder?“
Er nickte. Er beugte sich über die Lehne, hob eine Plastiktüte vom Boden auf und stellte sie zwischen uns auf die Couch. „Bedien dich.“
Das Bier war warm und schmeckte metallisch. Ich trank große Schlucke, hielt inne, trank weiter, bis sich die Dose leicht in meiner Hand anfühlte.
„Tut mir leid“, sagte ich und strich über das Foto.
„Ach“, machte er und winkte ab. Er zog an seiner Zigarette, für einen Moment sah ich sein Gesicht, erhellt durch die Glut. „Warst du noch klein. Und macht nichts, Junge. Macht gar nichts. Jetzt weißt du es ja. Wir waren da, in Dänemark, wir sind dagewesen, ich brauch‘ dich nicht belügen. Warum sollte ich dich auch belügen?“
Ich sagte nichts. Ich schüttelte die Dose und trank den letzten Schluck.
Dann sagte mein Vater auf einmal: „Ich hab‘ nie die Hand erhoben, ich hab‘ so was nie gemacht, oder? Nie. Bei dir nicht, bei deiner Mutter nicht, ich hab‘ euch nie angefasst.“
„Nein“, sagte ich und legte meine Hand auf sein Knie. „Nein, du warst ein guter Vater.“
„Und ich war immer mit allen glatt, das war mir wichtig – keine Schulden, ich stand nie in der Kreide, und kein falsches Wort über irgendwen, denn so war das schon immer, ein Mann kommt im Leben zu nix, wenn er alles anschreiben lässt und ständig schlecht redet.“
Im Radio lief ein alter Song von Al Green, und wir saßen da, hörten seiner Stimme zu, die über dem dichten Teppich aus Klängen zu schweben schien, mit den Instrumenten auf eine zarte, innige Weise rang.
„`ne verdammt gute Nummer.“
Ich nickte, dann stand mein Vater auf, ging einen Schritt weiter in das Dunkel der Garage hinein und begann, seine Hüften im Takt der Musik zu bewegen. Er tat es langsam, wiegte den Oberkörper sanft hin und her, drehte sich um die eigene Achse, den Kopf leicht erhoben, die Augen fest geschlossen. Er hielt die Arme so von sich gestreckt, als wäre da noch jemand anders, ein anderer Körper, der sich zum Rhythmus bewegt, und an den er sich schmiegen kann. Ich hatte ihn schon betrunken gesehen und wütend. Ich hatte gesehen, wie er am Grab meiner Mutter stand, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, die Hand auf seinem Herz.
„Wir hab`n früher oft getanzt, deine Mutter und ich, in der Küche, wir hatte ja nicht viel, aber `n Radio hatten wir, und sie hat immer `ne Schneemaß getrunken, der süße Kram, sie mochte ja süßen Kram, und dann kam so Musik wie hier und wir haben getanzt bis in die Puppen …“ Er schüttelte den Kopf, wendete den Blick ab, und ich konnte hören, wie er atmete, wie seine Zähne aufeinanderschlugen.
„Ist schon spät.“ Ich beugte mich über die Lehne, suchte im Dunkel nach dem Radio, fand den großen Aus-Knopf. Stille.
„Ja, hast Recht, ich leg mich auch besser auf’s Ohr.“
Ich stand auf und stellte die leere Dose zu den anderen auf die Felgen. Er drehte sich nicht um. Er hob nur seine Hand.
„Dann gute Nacht.“
„Ich meld‘ mich einfach die Tage mal.“
„Mach das, mein Junge.“
Über den Hof ging ich langsam die Einfahrt hinauf, der Schotter knirschte unter meinen Sohlen. An der Hecke blieb ich stehen und sah zurück. Er stand immer noch da. Ein Schemen in der Garage.
Christina erzählte ich nichts von dieser Nacht. Ich fuhr einfach wieder meine Touren. Schrott nach Holland. Industrieabfall nach Belgien. Ich fuhr, ich rauchte, aber das Bild meines tanzenden Vaters, seine entrückten Bewegungen, das begleitete mich, war immer da. Zwei oder drei Tage später begann ich damit, nach der Arbeit zu REWE zu fahren, um dort ein paar Dosen Bier und Kleinigkeiten zu kaufen – Oliven, Red Leicester, Anchovis, eingelegte Tomaten, Pumpernickel. Dann fuhr ich weiter zu meinem Vater, wo wir auf der Couch in der Garage saßen, BFBS hörten, kühles Bier tranken und mit den Fingern aßen. Wir sprachen kaum. Wir rauchten viel, aschten in leere Dosen und Becher, drückten die Kippen im übriggebliebenen Öl aus. Nach ein paar Tagen wusste Christina Bescheid, aber sie sagte nichts, sie ließ mich einfach machen.
An einem Abend nach zwei Wochen, ich hatte kalten Braten und französischen Cidre mitgebracht, drehte sich mein Vater zu mir und sagte: „Mach’s nich‘ so wie ich, ja? Versprich mir das. Versprichst du mir das? Mach’s nich‘ so wie ich.“
„Hier“, sagte ich und hielt ihm das Tablett hin. „Nimm noch Braten, nimm noch von dem Braten.“
„Ach“, machte er und zuckte mit der Schulter.
„Ist gut. Ist gutes Fleisch, wirklich. Ganz zart.“ Ich zog ein Stück der Folie ab. Er nickte stumm, nahm ein Stück und schob es sich in den Mund. Aus den Boxen drangen Ike & Tina Turner, sie sangen Proud Mary. Wir aßen den Braten, tranken den Cidre aus der Flasche und hörten ihren Stimmen zu, den hart gespielten Gitarrenlicks und dem ekstatischen Beifall des Publikums.
„Wie lange willst du noch hier bleiben, in der Garage?“, fragte ich ihn dann. „Wie lange soll das noch weitergehen?“
„Weiß nicht, ich weiß es nicht.“ Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er atmete tief ein, ließ sich Zeit. „Vielleicht bis zum Wochenende. `n paar Tage noch.“
„Und dann gehst du wieder hoch?“
„Ja, dann geh ich wieder hoch.“
„Was ist mit Arbeit? Was ist mit der Emitec?“
„Ich geh‘ wieder zur Emitec, mach dir keine Sorgen, Junge. Ich geh arbeiten, ganz normal, wie immer.“
Ein paar Monate danach lernte mein Vater eine Frau kennen, die etwas älter war als er und die sich als wiedergeborene Christin bezeichnete. Sie brachte meinen Vater dazu, sich taufen zu lassen und erzählte uns ganz stolz, dass er jetzt aus Wasser und Geist neu geboren worden sei. Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung. Sie verbringen viel Zeit im Garten, kümmern sich um ihre Hochbeete, Kräuter und Zierpflanzen. Manchmal gehe ich ihn dort besuchen. Dann sitzen wir im denkmalgeschützten Wintergarten und schauen auf die Uferböschung, an der Segge und Wilde Kamille wächst, und auf die Sieg, deren Bett sich an dieser Stelle verjüngt und die deswegen rasend schnell fließt. Wir trinken koffeinfreien Kaffee, in den er einen Teelöffel Milchmädchen rührt. Er dreht nicht mehr selbst, er raucht gestopfte Zigaretten, die Luft ziehen und meistens nach fünf Zügen bis zum Filter abgebrannt sind. Jedes Mal juckt es mir in den Fingern, aber ich lasse es bleiben. Trotzdem spüre ich die Wirkung des Nikotins, wie mein Puls steigt, das Herz anfängt, hart gegen die Brust zu schlagen. Meistens sitzen wir alleine dort, schauen auf das Wasser. Seine Frau glaubt, dass ich schlechter Einfluss sei, jetzt, wo mein Vater ein neues Leben begonnen habe. Sie sagt, dass sie meinen Vater aus der Kälte geholt hat und dass ihr das niemand mehr nehmen kann. Sie hat mich dabei so angesehen, als kenne sie ein Geheimnis, und als kenne mein Vater dieses Geheimnis nun auch.
Er hat ein paar Kilo zugelegt, immer sauber rasiert, trägt Hemd, Hose und dazu passende Schuhe. In diesem Wintergarten, da sitzt er ganz gerade auf dem Stuhl, die Beine eng nebeneinander, eine Hand liegt flach auf dem Oberschenkel. Damals, in der Garage, als er mit den Geistern tanzte, da war etwas in seinem Blick, etwas Wildes, Unbeugsames. Er hatte sich verirrt, aber er wollte leben, er hatte das Leben in sich, es war in jeder seiner Bewegungen.
Vor zwei Tagen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen. Es war einer der letzten warmen Tage des Jahres, Altweibersommer, und wir saßen wieder im Wintergarten, die hohen Bleiglasfenster geöffnet. Er rauchte seine gestopften Zigaretten - drei Stück hintereinander, er zündete sie jeweils an der Glut der anderen an. Als er die letzte im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand er auf und sagte: „So!“ Ich folgte ihm durch den Garten, vorbei an rechteckigen Beeten voller pechschwarzer Erde, bis wir am Tor angelangt waren. Er legte beide Hände um einen der Gitterstäbe und nickte mir zu. „Schön, dass du mal wieder da warst.“
„Ja“, sagte ich. „Fand ich auch.“
Er öffnete das Tor, um mich rauszulassen. „Grüß auch die Christina von mir.“
Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst.“
An diesem Tag fuhr ich nicht gleich nach Hause. Ich nahm einen Umweg, parkte in der Tiefgarage unter dem Rathaus und lief ziellos durch die Innenstadt. Als ich an den vielen leerstehenden Ladenlokalen vorbeikam, fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr in der Stadt gewesen war. Die Buchhandlung auf der Holzgasse hatte anscheinend schon vor Monaten geschlossen; die große Holztür war zugesperrt, das Untergeschoss dunkel und leer. Am Goldenen Eck, in den ehemaligen Räumen einer traditionellen Eckkneipe hatte ein Sushi-Restaurant eröffnet. Die Leuchtreklame über dem Eingang war in Form eines Kugelfischs gestaltet. Vor der Verkaufstheke warteten ein paar Jugendliche. Ich ging über den Marktplatz in die Altstadt, vorbei an den Außenterrassen der Cafes, die voll besetzt waren mit Leuten, die in der Nachmittagssonne ihr Feierabendbier tranken. Das Geschäft Colonia Kunsthandwerk lag parterre in einem unscheinbaren Nachkriegsbau, der am Nogenter Platz in zweiter Reihe steht; verwitterte Fassade und nachträglich eingebaute Fenster aus Aluminium. Es war eines der letzten inhabergeführten Fachgeschäfte der Stadt. Ich blieb vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage: Pinsel, Farben, Leinwände.
Als ich durch die Tür trat, klingelte es leise, und eine ältere Frau erschien aus den hinteren Räumen. Sie war eine richtige Dame, mit langen, hochgesteckten Haaren, dezentem Lippenstift und einem modernen, taillierten Kleid. „Ich will mich nur umsehen“, kam ich ihr zuvor, und sie lächelte, zeigte auf die Regale und sagte: „Natürlich, gerne.“
Ich blieb vor der großen Schubladenbox neben dem Fenster stehen, legte meine Hände auf die Oberfläche aus Schellack, fuhr die glatten Kanten entlang. Ganz langsam zog ich das oberste Register auf und hob mit den Fingerspitzen den darin liegenden Stapel an.
„Dieses Papier ist aus Japan“, sagte die Frau. Sie wurde nie aufdringlich, blieb immer ein paar Schritte hinter mir. „Es wird aus Bast hergestellt, von Hand geschöpft, und es ist besonders geeignet, wenn Sie mit Tusche arbeiten wollen.“
Ich zog eines der Blätter aus der Schublade. Das Papier hatte einen cremefarbenen Ton, war durchscheinend, und ich hielt es gegen das Licht, um die Faserung zu betrachten. Später, im Auto, als ich wieder auf dem Weg nach Hause war, nahm ich es ganz vorsichtig vom Beifahrersitz, und dann schaltete ich das Radio ein und suchte BFBS.
Ich fuhr einen Umweg, um noch etwas länger Musik hören zu können, doch ich spürte, dass da etwas fehlte. Die roten Marlboro kaufte ich an der Mundorf-Tankstelle, weil Yeko schon geschlossen hatte, und die ersten Züge schmeckten mir nicht, aber dann wurde es besser, und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.