Wisst ihr noch...
Für Oma
Kann man an den Tränen, die für einen toten Menschen vergossen werden messen, wie sehr er geliebt wurde?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir alle weinten, als sie starb.
Ihr Tod kam so plötzlich, dass er uns einen Schock versetzte. Auf einmal war sie nicht mehr da und bevor wir es überhaupt richtig verstanden, wurde sie schon begraben.
Langsam dämmert die Erkenntnis, die Erkenntnis der Ewigkeit...
Nie mehr...
Ihr Ehemann steht schluchzend neben dem Sarg, der in Kürze in die Erde gesenkt werden wird. Immer war er stark. Stark im Krieg, stark nach dem Krieg, stark in seinem ganzen Leben. Zum ersten Mal kann er nicht stark sein und weint.
Was soll er ohne sie machen? So lange hat er jeden Tag die schönen und die schlimmen Dinge mit ihr geteilt. Wie soll er ohne sie leben?
Ihre sieben Kinder, liebevoll von ihr großgezogen, stehen mit starrem Gesicht da. Verräterische Tränen glitzern in ihren Augen, obwohl sie nicht weinen wollten. Sie wollten stark sein, denn der Tag ist noch lange.
Sieben Kinder, sieben verschiedene Erinnerungen, die ihnen durch den Kopf gehen. Alle drehen sich um die Mutter. Was sie getan, was sie gesagt.
Immer hatte sie gearbeitet, nach dem Krieg beim großen Wiederaufbau. Kinder geboren und großgezogen. Viel Arbeit, um das Haus abbezahlen zu können. Jetzt hätte sie endlich ihr Leben genießen können.
Nie mehr...
Vierzehn Enkelkinder stehen dicht gedrängt bei den Eltern, beim Großvater. Viel zu wenig Zeit, um sie kennen zu lernen. Viel zu wenig Zeit um ihr alles zu sagen.
„Danke Oma, dass du immer für uns da warst. Danke Oma, dass wir immer zu dir kommen durften. Danke Oma, für die Zeit die du dir genommen hast.“
Vielleicht hört sie es ja...
Freunde und Bekannte laufen am Grab vorbei, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Tränen fließen. Männer mit starrem Gesicht werfen eine Schaufel Erde auf ihr Grab. Die Frauen bedenken sie mit einer Rose.
Danach geht die Familie mit den engsten Bekannten der Toten zum Essen. Gestern war sie noch Oma, heute ist sie die Tote. Keiner hat Lust auf das Essen, doch es gehört sich eben so. Oma würde es so wollen.
Das Essen wird mit der letzten Kraft über sich gebracht.
Die Familie geht mit Opa nach Hause. Jeder möchte alleine sein und doch ist es wohltuend die Trauer zu teilen. Mühsame Zurückhaltung bröckelt ab. Keiner kann mehr stark sein und sie weinen. Eine Familie vereint im Schmerz.
„Wisst ihr noch“, sagt plötzlich die jüngste Enkeltochter „damals als Oma...“.
Plötzlich zieht sich ein Lächeln über die Gesichter der ganzen Familie.
Sie ist noch da. Sie ist immer noch da.
Immer...