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Wohin du gehst
„Anna, wo willst du hin?“
„Ich bin gleich zurück, Mum.“
„Wir müssen in zehn Minuten am Check-in sein, vergiss das nicht!“
Normalerweise würde Anna ihrer Mutter mit einem Augenrollen zeigen, was sie von ihrer Überfürsorglichkeit und der offensichtlichen Tatsache, dass ihr Flieger alsbald abheben würde, hielt - aber nicht in diesem Moment.
Sie war gerade dabei gewesen, ihr neues Buch zu beginnen, als sie ein Schauer durchfuhr und sich innerhalb weniger Augenblicke eine Gänsehaut über ihre Arme und Beine legte. Dieses Gefühl – und das wusste sie bereits aus Erfahrung - verhieß nichts Gutes. Ihr Puls beschleunigte sich. Es würde wieder passieren und sie konnte nichts weiter tun als zuzusehen. Anna fühlte sich wie die Besucherin eines Theaterstücks, die genug von dem hatte, was ihr da vorn auf der Bühne dargeboten wurde, die aber zu viel Geld für diese guten Plätze hingelegt hatte, um einfach aufzustehen und sich dem Schauspiel zu verweigern.
Gegenüber vom Wartebereich, in dem Anna und ihre Familie auf den Flieger nach Gran Canaria warteten, blieb ein Mädchen vor dem Schaufenster eines Ladens stehen. Mit ihren kleinen Händen umschloss sie den Stiel eines Flutschfingers, der bereits zu schmelzen begann. Das schien dem Mädchen - das kaum älter zu sein schien als ihr Bruder Alex, der im Herbst eingeschult werden sollte - nicht im Geringsten aufzufallen. Verträumt betrachtete die Kleine den Laden vor ihr. Es handelte sich um einen Buchladen, dessen Eingang von bunten Neonröhren beleuchtet wurde. Als das Mädchen im Innern des Geschäfts verschwand, legte sich das unangenehme Gefühl wieder, das Anna eine Gänsehaut beschert hatte.
Es lag an ihr, sonnenklar, dachte Anna. Sie ist es.
Anna ignorierte die gestresst klingende Stimme ihrer Mutter und folgte dem Mädchen.
Der Laden war überschaubar, aber nicht sonderlich hell beleuchtet. Anna benötigte einen Moment, um sich zu orientieren. In der Mitte des Raumes waren einige drehbare Ständer platziert, die allem Anschein nach den Bestsellern vorbehalten war, erkannte sie doch sofort das Cover des Buches, das sie sich selbst für die Reise aufgehoben hatte. Dahinter befand sich ein Regal, mit einer Vielzahl von Zeitschriften. An der gegenüberliegenden Wand stand die Kasse, an der der Inhaber gerade einem Mann eine Zeitung überreichte.
Keine Spur von dem Mädchen.
Anna ging an den Drehständern vorbei und trat auf die andere Seite des Regals. Dort entdeckte sie das Mädchen, das sich gerade die Zeitschriften für Kinder ansah. Sofort durchströmte Anna wieder dieses Unbehagen.
Die Kleine war so von den Bildern der Heftchen fasziniert, dass sie gar nicht mitbekam, wie das Eis mehr und mehr an ihren Fingern hinabrann. Wäre der Verkäufer nicht gerade mit einem Kunden beschäftigt gewesen, hätte er das Mädchen wahrscheinlich wieder hinausgejagt. Doch so betrachtete sie ungehindert die Zeitschriften, während sie selbst von einer Siebzehnjährigen beobachtet wurde.
Anna fuhr sich instinktiv über die freiliegenden Arme, in der Hoffnung, die zurückkehrende Gänsehaut irgendwie bekämpfen zu können. Unmöglich. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Das Gefühl war so stark ... Sie wollte gerade näher herantreten, als das geschah, was in diesen Momenten immer geschah.
Anna musste hilflos mit ansehen, wie die Konturen des Mädchens zu verschwimmen begannen. Ihre Haut schimmerte und waberte im seichten Licht der Lampen, bis sich schließlich erst ganz feine, dann immer größer werdende Partikel von ihrem Körper lösten. Die blonde, struppige Mähne verschwand im Nebel abertausender Teilchen, die sie in wenigen Augenblicken umgaben. Diese 'Kristalle' stiegen in die Höhe und wurden dann hinfort getragen wie Blüten im Wind, bis nichts mehr von dem Mädchen übrig war.
Anna konnte den Anblick nicht ertragen. Ihr liefen Tränen über die Wangen. Die traurige Gewissheit darüber, dass dieses Mädchen in wenigen Stunden sterben würde, ließ Annas Herz ebenso in tausend kleine Stücke zerspringen wie die Kleine zuvor. Für Anna war sie bereits gestorben.
„Na mein Schatz, wie geht’s dir?“, erkundigte sich ihr Vater.
Anna hatte sich, nachdem sie gemeinsam im Hotel angekommen waren, an den Strand zurückgezogen. Ihre Eltern waren sicher immer noch bestürzt darüber, wie sie ihre Tochter vorgefunden hatten. Ein Nervenzusammenbruch in der Öffentlichkeit. Schon wieder. Ihr Vater wollte den Urlaub direkt abblasen und einen Arzt aufsuchen. Im letzten Moment ließ er sich doch noch umstimmen. Ein Arzt könne da jetzt auch nicht helfen und 'das haben wir doch alles schon durch', waren die Gegenstimmen gewesen, die Anna nur am Rande mitbekam. Ihre Familie hatte recht. In den letzten sechs Monaten war keine Ärztin und keine Therapeutin in der Lage gewesen, die immer häufiger auftretenden Anfälle ihrer Tochter zu erklären. Anna wusste, dass sie das nie könnten, solange sie ihnen nicht alles erzählte, doch das konnte sie bislang nicht. Sie war davon überzeugt, dass ihr ohnehin niemand glauben würde. Die würden sie als 'verrückt' abstempeln und in eine Gummizelle verfrachten. Sie hatte ja selbst Zweifel an ihrem geistigen Zustand.
„Besser, danke“, erwiderte sie und wischte sich mit dem dünnen Ärmel ihres Pullovers eine Träne aus dem Gesicht. Ihr Vater ließ sich neben ihr auf dem Felsvorsprung nieder, auf dem sie nach ihrer Ankunft Zuflucht gesucht hatte. Nach jedem erneuten Vorfall brauchte Anna etwas länger, um damit fertig zu werden. Das 'Ableben' von Kindern setzte ihr besonders zu.
„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst Schatz, das weißt du“, sagte ihr Vater und legte einen Arm um ihre Schulter. Sie ließ es zu und drückte ihren Kopf an seine Brust. „Deine Mutter und deine Brüder machen sich gerade im Hotelzimmer fertig und gehen dann zum Abendessen. Sie machen ihr Ding, wir machen unseres, nicht wahr?“
Anna zeigte ihm ein müdes Lächeln. Sie liebte ihren Vater dafür, wie er immer versuchte, aus schlechten Situationen immer das Bestmögliche zu machen.
Sie wischte eine weitere Träne ab und fragte kaum hörbar: „Wie geht’s Alex? Hab ich ihn sehr erschreckt?“
„Ach was, der freut sich einfach hier zu sein. Er ist total begeistert vom Strand. Er hat mich schon gefragt, ob wir morgen auf einer dieser Bananen fahren werden. Du kannst ja auch mitmachen, wird bestimmt lustig, meinst du nicht?“
Anna nickte kaum merklich.
Während sie auf das Meer hinausschaute, glaubte sie immer noch, diese schrecklichen Partikel im Wind fliegen zu sehen.
„Ist Mum sauer auf mich?“
„Nein, natürlich nicht. Nur besorgt, mein Schatz. Mach dir nicht so viele Gedanken über all die anderen, ok? Nimm dir einfach die Zeit, die du brauchst. Das Wichtigste ist, dass es dir wieder besser geht, dass du dich wohlfühlst und glücklich bist.“
Anna wusste, dass ihre Eltern befürchteten, sie wäre schwer depressiv, dass ihre Zusammenbrüche eine Folge tiefen Unglücks waren, das sie empfand. Das wusste Anna, weil sie die beiden eines Abends zufällig belauscht hatte. Sie war auf dem Weg zur Toilette gewesen, als sie Gemurmel in der Küche vernommen hatte. Deshalb wusste sie auch, dass sich ihre Eltern gegenseitig vorwarfen, an der ganzen Misere Schuld zu sein. Das war der Moment gewesen, in dem sie am liebsten zwischen beide gesprungen wäre. Doch sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte zu erklären, was sie selbst nicht verstand. Hallo, ihr seid an gar nichts schuld! Es ist nur einfach so, dass ich Menschen sehe, die sich vor mir auflösen wie verdammter Zucker in Wasser! Und wenn sie dann weg sind - für mich zumindest -, lese oder höre ich kurze Zeit später von ihrem Tod in den Nachrichten! Versteht ihr?! Die Menschen verschwinden und sterben! Ich bin wohl so eine Art Frühwarnsystem für Unglück und Zerstörung, kapische?! Ja, genau! Völlig logisch, was?!
Stattdessen blieb Anna stumm.
„Das Meer ist wunderschön, nicht wahr, Paps?“, fragte sie nach einer Weile der Stille. „Von hier oben wirkt alles so friedlich. Glaubst du, dass uns nach dem Tod etwas erwartet? Dass es dort irgendetwas gibt, etwas Schönes?"
"Wenn ich mir das Universum vorstelle, seine unendlichen Weiten ... wenn ich das Wunder des Lebens betrachte und die Zeit, die uns auf dieser Erde geschenkt wurde ... tja, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, dass nach unserem Tod ... dass da nichts mehr kommt, verstehst du? Und warum sollte ich dann nicht hoffen - nein, glauben -, dass das, was uns erwartet, etwas Schönes sein wird?", antwortete er.
Der seichte Wind der hereinbrechenden Nacht ließ Anna frösteln. Ihr Vater bemerkte die Gänsehaut an ihren Beinen und drückte seine Tochter fester an sich. Sie lächelte und er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Du bist ja ganz warm“, sagte er und fuhr seiner Tochter über die Stirn. Ihr ging es tatsächlich nicht wirklich gut, aber das war keine Überraschung, nach dem, was sie am heutigen Tag erlebt hatte. „Es ist schön mit dir hier zu sein, Paps. Tut mir Leid, der ganze Kram.“
„Mach dir keine Sorgen“, erwiderte er. „Wir lieben dich, wir unterstützen dich. Rede, wenn du soweit bist.“
So saßen sie noch einige Zeit am Strand und blickten gemeinsam hinaus auf das Meer.
„Na komm, vielleicht schaffen wir es noch, einen kleinen Happen zu uns zu nehmen, bevor der Laden dicht macht“, ließ ihr Vater irgendwann verlauten und stand langsam auf. „Zeit zu gehen.“
Anna nickte und musste laut lachen, als er vorausging und seine Sandalen mit übertriebenen Gesten abklopfte. Ich habe einen tollen Paps, eine wunderbare Familie. Sie betrachtete noch einmal die untergehende Sonne. Die Strahlen tauchten den Sand um sie herum in ein warmes Orange. In diesem Moment beschloss Anna, ihrer Familie beim morgigen Frühstück alles zu erzählen. Egal wie verrückt es klang, sie sollten sich ihr eigenes Bild machen können. Anna war sich nun irgendwie sicher, dass zumindest ihr Vater ihr glauben und helfen würde. Aber eigentlich war das egal. Wichtig war nur, dass ihre Familie wusste, was mit ihr geschah und was in ihr vorging.
Als sich Anna vom Meer abwendete, war ihr Vater verschwunden. Sie konnte gerade noch die letzten Kristalle erkennen, die wie kleine Blüten vom Wind hinfortgetragen wurden.