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- 21.04.2015
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- Anmerkungen zum Text
Wie bereits angekündigt, das ist ein älterer Text, ursprünglich "Karla haut ab", habe ihn im Laufe der Jahre und auch jetzt noch einmal bearbeitet, Perspektive gewechselt, usw.
Und ich hatte das Gefühl, er passt ganz gut zur diesjährigen Challenge
Wolkennilpferde
Die Wolke über mir sieht jedes Mal anders aus. Erst hat sie mich an ein fluffiges Herz erinnert. Ich mag Herzen. Und Pinguine. Ich hätte gern ein Foto gemacht, aber ich habe kein Handy. Die anderen Mädchen in meiner Klasse haben eins, aber das ist meinen Eltern egal.
Ich sehe wieder nach oben. Die Wolke begleitet mich, jetzt gerade sieht sie aus wie ein Nilpferd. Es schiebt sich mühsam über den Himmel und macht dabei schlurfende Geräusche. Nilpferde sind nämlich ziemlich schwer.
Obwohl ... Wolkennilpferde sind etwas anderes. Sie sind bestimmt viel leichter, können Pirouetten drehen, wie diese Tänzerin in Schwanensee. Ballett tanzende Wolkennilpferde.
Es hupt. Reifen quietschen. Ich springe zur Seite, mein Herz klopft in den Ohren.
„Bist du bescheuert?“
Ich starre den Mann an, der sich aus dem Autofenster lehnt und wild mit dem Arm fuchtelt.
„Mach verdammt noch mal die Augen auf, wenn du über die Straße läufst!“
„Entschuldigung“, rufe ich und renne auf die andere Seite.
Am Ende der Straße stehen Mülltonnen auf dem Gehweg. Unser Hausmeister schiebt sie gerade zurecht. Er winkt mir von weitem zu. Ich mag Herrn Hanser, er hat ein liebes Gesicht mit lauter kleinen Falten um die Augen. Sein Kittel ist offen und flattert beim Gehen. Wie bei einem Superhelden. Vielleicht fliegt er nachts heimlich über die Stadt, fängt böse Verbrecher mit Augenklappen, rettet kleine Hundewelpen oder so. Er ist zwar schon ganz schön alt, aber das könnte ja auch Tarnung sein. Die grauen Haare stehen ihm wild vom Kopf ab. Ob das vom Fliegen kommt? Ich winke zurück und gehe langsam weiter.
Mit jedem Schritt wird mein Rucksack schwerer.
Herr Hanser ist nicht mehr da, als ich auf den kleinen Backsteinweg einbiege, der zu unserem Haus führt. Vorgestern hat er mich hinten im Hof gesehen. Ich saß auf der Schaukel und habe geweint. Erst habe ich ihn gar nicht bemerkt, aber dann stand er plötzlich neben mir. „Was ist denn passiert?“, wollte er wissen. Darauf ist mir einfach keine Antwort eingefallen.
Die Rollos in der Erdgeschosswohnung rechts sind heruntergelassen, wie jeden Tag. Ob die Frau, die dort wohnt, blind ist und ihr Licht deshalb total egal ist? Hoffentlich hat sie keine Pflanzen. Die sterben ohne Sonnenlicht.
Ich gehe rauf zu unserer Wohnung und kann Mamas schrille Stimme schon im ersten Stock hören. Will mir die Ohren zuhalten und wegrennen. Aber ich schließe die Tür auf und gehe hinein.
In der Küche wirft Mama das Telefon auf den Tisch und fängt an, Teller und Gläser aus den Hängeschränken zu räumen. Es klirrt und poltert. Ich gehe langsam auf sie zu. Sie sieht mich nicht an. Hat mich vielleicht nicht gehört.
„Hallo“, sage ich.
Sie streckt mir Butter aus dem Kühlschrank hin. „Hier, deck den Tisch. Dein Vater kommt gleich.“
Dann sitzen wir da und schweigen. Mama sieht nach jedem Bissen auf die Uhr und schüttelt den Kopf. In letzter Zeit hat sie Ringe unter den Augen. Sie ist trotzdem schön. Ich wünsche mir, sie würde mich anschauen, aber als sie es dann tut, wird mir ganz kalt.
Endlich schiebt sich der Schlüssel von außen ins Schloss – Papa! Ich renne in den Flur, will ihn umarmen. Aber Mama schiebt sich dazwischen.
„Wo warst du?“
Ich kämpfe mich an ihr vorbei, strecke die Arme aus.
Papa sieht über mich hinweg. „Ich hab doch gesagt, dass ich mich noch mit den Jungs treffe.“
„Es ist acht.“
„Na und?“
Niemand umarmt mich.
„Du wolltest vor einer Stunde zu Hause sein.“
„Jetzt mach nicht wieder ein Fass auf deswegen!“
Mir wird schlecht. Ich will Mama den Mund zuhalten. Oder Papa. Ganz egal, Hauptsache, sie hören auf.
„Vielleicht müsste ich ja nicht immer ein Fass aufmachen, wenn ich mich auf dich verlassen könnte.“
„Ich war einfach nur mit den Jungs ein Bier trinken. Jedes Mal das gleiche Theater.“
„Dann bleib doch bei deinen scheiß Jungs! Scheint ja ’ne ganz schöne Qual für dich zu sein, nach Hause zu kommen.“
„Kein Wunder, wenn du dich so aufführst.“
Mama reißt den Mund auf und atmet ganz tief ein. Als wäre sie lange unter Wasser gewesen.
„Ich bin dir scheißegal, oder? Warum bist du überhaupt noch hier? Sag schon!“ Mama schubst ihn. „Wegen Karla? Weil sie ihren Papa braucht?“
„Stimmt, weil ich ja unbedingt ein Kind haben wollte!“
Ich balle die Hände zu Fäusten und drücke sie mir auf die Ohren. Mein Bauch tut weh. Als wenn ich zu viel von den grünen Gummifröschen gegessen hätte. Ich renne von einem zum andern, ziehe an ihren Pullovern, hänge mich an ihre Beine.
„Hört auf damit! Hört auf zu schreien!“, schreie ich. Tränen laufen meine Wangen hinunter. Plötzlich packt Papa mich am Arm und beugt sich zu mir.
„Ruhe jetzt! Führ dich nicht so auf!“
Im Hintergrund steht Mama mit verschränkten Armen und nickt. Die beiden starren auf mich herab.
Vor meinen Augen verschwimmt alles. Mein Kopf wird heiß, ich schwitze, alles dreht sich. Es ist mir egal, ob ich dafür zu alt bin, ich schlage um mich, beiße Papa in den Arm und trete nach Mama.
„Ab in dein Zimmer!“ Er schiebt mich in mein Zimmer. „Du tickst doch nicht ganz richtig! Wie die Mutter, so die Tochter“, ruft er über die Schulter nach hinten.
Sein Griff wird härter. Ich brülle, schmeiße mich hin und her. Er geht in die Hocke und zieht mich zu sich. Sein Atem riecht nach Rauch und Bier. Früher hat er immer nach Minze gerochen.
„Hör zu!“
Ich beiße die Zähne zusammen und nicke.
„Du setzt dich jetzt hin, nimmst ein Blatt und schreibst auf, was mit dir nicht stimmt! Dann merkst du vielleicht mal, wie schwer du uns das Leben machst!“
Er dreht sich um und knallt die Tür zu.
Ich sitze auf dem Teppich und starre auf das leere Blatt.
Plötzlich ein lauter Knall. Der Stift rutscht mir aus der Hand und kullert unter das Bett.
„Du bist genau wie dein Vater!“
Ich kenne meinen Opa nicht, also weiß ich auch nicht, ob Mama recht hat. Papa lacht. Aber er ist nicht fröhlich. Ich kenne Papas Lachen, wenn er fröhlich ist. Auch wenn ich es schon lange nicht mehr gehört habe.
In einem echt heißen Sommer war das, das weiß ich noch. Sogar in den Nachrichten haben sie darüber gesprochen, dass man nicht zu lange in der Sonne bleiben soll. Wir sind damals mit dem Fahrrad zum See gefahren. Papa hat eine Luftmatratze dabeigehabt, die aussah wie eine große Brezel, und Mama hat sich Eis auf das schöne Kleid gekleckert, das sie damals so gerne anhatte. Das bunt gestreifte. Sie hat gekichert, mir einen Klecks Eiscreme auf die Nase geschmiert und mich auf die Stirn geküsst.
Papa hat damals die Riesenbrezel im Arm gehalten und gelacht. Es hat ganz leicht geklungen, obwohl er so eine tiefe Stimme hat. In seinen Augenwinkeln waren viele kleine Falten. Wie bei einem Akkordeon. Ich habe mir damals vorgestellt, wie Papas Akkordeon-Gesicht lustige Musik macht, wenn er lacht. Jetzt ist das Akkordeon wohl kaputt.
„Na dann komme ich doch am besten gar nicht mehr nach Hause.“
Ich höre Schritte.
„Nein! Bleib hier! Ich habe das nicht so –“ Noch mehr Schritte. Dann öffnet sich die Wohnungstür und fällt ins Schloss.
Ich stehe auf, lege die Hand auf die Türklinke und lausche. Will zu Mama gehen, ihr über die Haare streichen. Ein Taschentuch holen und damit die Tränen abtupfen. Plötzlich schreit sie auf und schlägt irgendetwas gegen die Tür. Ich stehe zwischen den Büchern, dem Schreibtisch und dem Bett, auf dem meine Kuscheltiere sitzen, und weiß nicht wohin.
Mama sagt immer, dass man mit zehn nicht mehr mit Kuscheltieren spielen soll. Sondern sich mit Freunden treffen. Das ist aber echt nicht einfach. Die Mädchen in der Schule sind so laut. Ich traue mich nicht zu ihnen. Ihre Geschichten sind toll, die Ausflüge, die sie am Wochenende mit ihren Familien machen. Aber ich habe nichts zu erzählen. Mama und Papa gehen manchmal noch mit mir in den Stadtpark. In letzter Zeit gehe ich aber eher allein. Also, nicht ganz – Herr Flauschi begleitet mich. Jetzt im Sommer ist es zwar viel zu heiß für Eisbären, aber er freut sich, wenn er das Bett mal verlassen darf.
Wenn keiner hinsieht, erzähle ich ihm von meinem Schultag. Nach den Ferien ist es immer am schlimmsten. Camilla ist dann noch fieser zu mir als sonst. Wie sie mit neuen Klamotten prahlt oder Palmen im Urlaub oder ihrem Handy. Sie wirft sich immer ihre braunen Locken über die Schulter und fragt mich: „Und du, was hast du in den Ferien gemacht?“ Dabei weiß sie es ganz genau.
Am liebsten sind Flauschi und ich in der Bücherei. Es ist so still dort, keiner, der da drinnen herumläuft, macht Geräusche. Nur die Bücher, die flüstern. Am liebsten bin ich bei den Krimis. Die Frau, die sich auskennt, hat mir eine Ecke gezeigt, in der Krimis für Kinder stehen. Ich schleiche mich trotzdem oft zu den Büchern für Erwachsene. Die Luft zwischen den Regalen ist hier anders. Das Flüstern ist hektisch, als würde jemand die Buchstaben verfolgen. Ich kriege immer Herzklopfen, streiche über die Bücher, hole eins raus und lese es heimlich auf dem Sofa, das versteckt zwischen den Regalen steht. Danach erzähle ich Flauschi die Geschichte und er hört zu.
Im Flur klimpert ein Kleiderbügel an der Garderobenstange. Ich gehe einen Schritt auf die Tür zu und lege mein Ohr ans Holz. Es raschelt. Klingt wie früher an Weihnachten, abends, wenn Mama und Papa die Geschenke unter den Baum gelegt haben.
Ich höre die Haustür. Dann ist es still. Ich kneife kurz die Augen zusammen, reiße sie wieder auf und sehe mich im Zimmer um. Sie ist einfach gegangen.
Die Liste! Ich hebe das Blatt Papier auf, setze mich an den Schreibtisch und fange an zu schreiben.
„Dinge, die an mir schlecht sind: …“
Ich beiße auf den Kugelschreiber und starre an die Wand. Sie werden lauter, die fiesen Worte. Ich höre Mamas Stimme, Papas, Camillas. Es wird mir zu laut im Kopf und ich schreibe weiter.
„Ich bin
- nervig
- seltsam
- hässlich
- faul …“
Was hat Mama gestern erst gesagt? Ach ja:
„- undankbar.“
Ich betrachte mein Werk. Mir fällt bestimmt noch mehr ein. Wenn Mama und Papa nachher wiederkommen, sollen sie sehen, dass ich mir wirklich Mühe gegeben habe.
Der Hausschlüssel dreht sich im Schloss und die Wohnungstür geht auf. Ich halte die Luft an, lausche den Schritten. Meine Hand zittert, als ich die Türklinke nach unten drücke und in den Flur schaue. Die Liste wellt sich, weil meine Finger so schwitzen.
„Komm schon“, sage ich zu mir selbst.
Ich laufe ins Wohnzimmer und sehe Mama auf dem Sofa sitzen. Sie starrt in den Fernseher, aber der ist aus. Ich wedle mit dem Blatt Papier. „Ich bin fertig, Mama.“
Mama fuchtelt mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, so wie sie Fliegen verscheucht. „Ich hab jetzt keinen Nerv für sowas.“
„Aber ihr habt doch gesagt –“
„Karla! Mein Gott! Geh in dein Zimmer!“
Mein Gesicht wird heiß. Ich stampfe mit dem Fuß auf. Halte Mama den Zettel hin. „Ich hab mir solche Mühe gegeben. Jetzt schau doch!“
Mama greift nach dem Blatt, zerknüllt es und wirft es in die Ecke. „Du machst mich fertig. Siehst du nicht, dass ich meine Ruhe brauche? Reicht’s nicht, dass Papa gegangen ist? Ab mit dir!“
Ich schaue in die Zimmerecke auf das zerknüllte Papier. Die Liste sollte doch alles wieder gut machen. Ich hebe das Blatt auf und streiche es glatt. Hole tief Luft.
„Dinge, die an mir schlecht sind: Erstens …“
Mama springt auf, packt mich und zieht mich hinter sich her. „Du tickst doch nicht richtig!“ Ich will mich losreißen, aber meine Hand steckt fest.
„Ich will nicht in mein Zimmer, ich will dir doch –“
„Karla!“ Sie bückt sich zu mir runter, ihre Augen sind groß und dunkel. „Es reicht jetzt! Nimm dir ’n Buch oder was weiß ich. Aber lass mich in Ruhe!“
Ich öffne den Kleiderschrank. Da unten liegt er, mein Koffer. Er hat Rollen und ist mit Palmen und Seesternen verziert. Ein Geschenk von Mama und Papa. An meinem siebten Geburtstag hat er auf meinem Bett gelegen mit einer knallroten Schleife drum herum.
Er ist ziemlich klein, aber meine Lieblingshose, ein paar T-Shirts und Flauschi passen schon rein. Wenn ich alles ganz ordentlich zusammenfalte, sogar noch meine blauen Turnschuhe. Die mit den weißen Punkten drauf.
Ich weiß noch, wie stolz ich den Koffer damals hinter mir hergezogen habe und wie Papas Gesicht lustige Musik gemacht hat, als wir ins Auto gestiegen und zum Meer gefahren sind.
Ich drehe mich um, gehe zurück zum Tisch und reiße ein Blatt vom Block ab. Auf dem Bett beobachten Herr Flauschi und die anderen Tiere mich mit fragendem Blick. Ich lege mich dazu und erkläre ihnen die ganze Angelegenheit.
Dass ich mich erst mal in der Bücherei verstecken werde. Unter dem Sofa, da kann mich die Frau nicht sehen, wenn sie abends durch die Gänge läuft und die Leute rausschickt, weil sie zumachen will. Wenn sie weg ist, komme ich wieder raus und mache es mir gemütlich.
Ich stehe auf, setze mich an den Schreibtisch, nehme Bleistift und Papier und schreibe:
Packliste von Karla Willmer.
Darunter die ersten beiden Dinge, die ich unbedingt mitnehmen muss auf meine Reise.
Briefpapier und Briefmarken!
Schließlich muss ich mich von unterwegs regelmäßig melden, um Mama und Papa zu sagen, dass es mir gut geht.