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Wollmilch
Ich bin schon ewig nicht mehr in den verdammten Bergen gewesen!
Mama sagt verfickt und verdammt zu ziemlich allem, sodass Max nie genau weiß, ob sie etwas toll oder doof findet. Im Kindergarten schimpfen sie immer, wenn er diese Wörter benutzt, aber die verdammten Berge sind auf jeden Fall wunderschön! Er wusste das ja gar nicht bis heute! Von hier oben kann man den ganzen Himmel sehen, und noch nie zuvor hat er keine Autos gehört. An dieser Stelle vorhin, wo sie bis ans Ende der Welt geschaut haben, war sogar ein Teil vom Himmel unter ihnen.
Waldemar hat ihm gerade einen durchgesägten Baum gezeigt und an den Ringen abgezählt, wie oft der schon Geburtstag hatte. Wie gut frisches Holz riecht! Bei Max im Bauch sind wahrscheinlich fast fünf Ringe, aber zum Glück kann die niemand sehen.
„Komm, steig auf, Cowboy!“, sagt Waldemar und geht in die Hocke.
Ganz verrückt ist Waldemar mit dem Kleinen. Lässt ihn auf den Schultern reiten, sammelt Eicheln, singt alberne Lieder und nennt jede verfickte Bergspitze beim Namen. Was der so für Sachen kennt – unglaublich. Am Ende weiß er auch noch, wer Vogel des Jahres geworden ist.
Ewig genervt hat er mit diesem Ausflug: Mal frische Luft atmen, mal was anderes sehen, raus in die Natur, blabla … Na dann, hier sind wir – freu dich, Waldemar! Ich friere mir derweilen einen ab in den beschissenen Turnschuhen und der Jacke, die für den Weg zum Pub gemacht ist und zurück und für mehr nicht. Wenigstens hat Max seine dicken Boots an. Ich höre ja schon automatisch die Kindergartentussis jammern: Warme Stiefel, warme Stiefel, Mütze, Schal – unentspannt bis zum Anschlag.
Max schaukelt hin und her auf Waldemars Schultern. Wie ein Kamelreiter kommt er sich vor. Von hier oben ist sogar Mama klein. Waldemar hat ihm seine Handschuhe gegeben – total lieb ist der und außerdem ein Eskimo. Manchmal knurrt er beim Sprechen wie ein Hund: Ich bin Waldemarrr. Er kommt aus Pol, hat er gesagt. Vom Pol heißt das eigentlich richtig; Nordpol meint er sicher, er hat auch so eine dicke Jacke an, mit Kuschelfell an der Kapuze. Gibt es Kamele am Pol? Na, egal, Renntiere aber: Rudolph mit der roten Nase zum Beispiel, und seins hier heißt Waldolph. Es hat ziemlich große Ohren, die Max vorsichtig unter dem Mützenrand hervorzieht; vielleicht kann er sich daran festhalten. Wenn er seine Finger in den riesigen Handschuhen abspreizt, sieht es aus, als hätte Waldolph ein Geweih.
Irgendwann nimmt Waldemar ihn mit zu seiner Arbeit, hat er gesagt, dann können sie zusammen Traktor fahren und Bäume fällen. Waldemar ist Waldarbeiter. Bestimmt ist er das geworden, weil sein Name so klingt: Waldemarbeiter. Was man wohl wird, wenn man Max heißt? Irgendwie passt da nichts so gut wie bei Waldemar. Wenn es da einfach gar nichts gibt, mit Max? Das wäre blöd, aber vielleicht wissen es die dämlichen Vögel vom Arbeitsamt, wenn es so weit ist.
Hoffentlich sind wir bald an dieser bescheuerten Hütte, dem einzigen Lichtblick bei der Aktion hier. Punsch, Willi, Jagertee – irgendwas wird es dort ja geben. Muss.
Na logo, jetzt fängt es auch noch an zu regnen.
Waldemar meint es wirklich ernst, der gibt sich total Mühe, das ist schön, irgendwie.
Wenn ich dran denke, wie er da mit seiner Tussi auf der Bühne gestanden hat, wie sie versucht haben, Something Stupid im Duett zu singen – what the fuck, so grottenschlecht, dass die Tussi kichernd weggerannt ist mitten im Lied. Und Waldemar alleine da oben mit seinen Riesenohren, oh je, und wie dann einfach ich da hoch bin, blau wie ein verdammter Wal, will gar nicht dran denken … Klang garantiert noch schräger jetzt, das Scheißlied, aber wir haben das durchgezogen bis zum Schluss. Haben uns gegenseitig die Lachtränen weggeknutscht und aus feuchten Augenwinkeln beobachtet, wie die Tussi ihre Jacke geschnappt hat …
„ … und der Chef verlangt tatsächlich, dass wir nächste Woche fertig werden, aber erst sollen wir noch warten, bis der Boden trocken ist“, sagt Waldemar. Seine Segelohren leuchten rot, und jetzt hat er wieder diesen ernsten Hundeblick aufgesetzt, skurril irgendwie und gleichzeitig sexy.
Klar ist es anders mit ihm, ich weiß … Wenn er nicht so nerven würde: Hast du mal überlegt, willst du nicht und bla und bla, immer wieder. Aber egal, zu Waldemar gehört eine taffe Outdoor-Frau mit geröteten Wangen, in Bergschuhen und The-North-Face-Jacke. Eine, die Aufi! sagt und Proteinriegel dabei hat, und kein elendes Eisblümchen mit Zitterfingern.
Da drüben auf dem Gipfel liegt jetzt tatsächlich Schnee, der war vorhin noch nicht da. Schlimm genug, dass ich bei diesem Scheißwetter durch die Botanik stiefle wie ein verfickter Förster, aber wenn Waldemar glaubt, ich mache das, um hier oben eine Abstinenzlerorgie zu feiern, dann sorry.
Es ist ganz kalt jetzt und regnet ein bisschen, oder schneit es sogar – so genau kann Max das nicht sagen. Jedenfalls ist es hier nass und matschig, weil der ganze richtige Schnee auf den großen Eisberg dort vorne fällt.
Waldemar hat seine Jacke ausgezogen und ihm übergehängt. Unter der Eskimokapuze ist es warm und gemütlich. Wie bei einem umgedrehten Känguru – vielleicht gibt es das ja, denkt Max: Nordpolkängurus, bei denen die Kinder von ihren Papas auf dem Rücken getragen werden, eingehüllt in riesige Kapuzen.
„Gibt es Kängurus am Nordpol, Mama?“
„Was?“ Der Kleine kommt auf Ideen, da fällt einem nichts mehr ein.
Und Waldemar, der meint das tatsächlich ernst mit seiner Jacke: Tut, als wäre er eine Art Sankt Martin, oberheiliger Typ mit sinnlosem Halbmantel. Selbst schuld, er ist schon ganz nass auf der Brust –, und es ist ja nicht so, dass der Junge zu wenig anhätte. Aber, wenn er denkt … Und wie lange will er jetzt eigentlich noch von seiner Arbeit erzählen? Von seinem verrückten Chef, der immer dies und gleichzeitig das will, der am liebsten die eierlegende Wollmilchsau hätte, aber das geht eben nicht, weil, wenn er die Baumstämme dort herausziehen muss, dann kann er nicht gleichzeitig – und überhaupt: die Holzernte, die Seilwinde ... Sterbenslangweiliges Zeug, was Waldemar die ganze Zeit erzählt, ich hab jetzt schon gar nicht mehr richtig zugehört, aber ich mag seine Stimme.
Eierrrlegende Wollmilchsau: Das klingt schön. Was das wohl wieder für ein Tier ist? Ganz groß bestimmt, dick und zottelig wie der Rand von Waldemars Kapuze, der ihm in den Augen kitzelt. Ein Mischling aus Renntier und Känguru. Fiepende Welpen, die süße Wollmilch aus den pelzigen Brüsten ihrer Mama nuckeln …
„Na, jetzt sind wir bald da, an der Hütte“, sagt Waldemar und reibt sich seine roten Hände, „da können wir einen schönen, heißen Tee trinken.“
Ach, stimmt, wir gehen ja in eine Hütte, denkt Max. Vielleicht sieht die genauso aus wie auf dem Adventskalender, den Waldemar ihm mitgebracht hat: mit Glitzersternen am Himmel und Schnee auf dem Dach und hinter jedem Fenster ein Stück Schokolade …
„Alter, es ist scheißkalt!“, sagt Mama.
Und das ist es wirklich, langsam reicht es mit Natur und Frischluft.
„Tee! Ich glaub’s! Willst du, dass ich erfriere?“ Was für eine absurde Idee überhaupt, hier hoch. Verdammte Kälte, als hätte man eine beschissene Fußfessel an den Knöcheln! Im Bauch, in der Brust, im Kopf – überall die Scheißkälte! Höchste Zeit, was dagegen zu tun!
Vorhin … Vorhin, an diesem Aussichtsfelsen. Wenn ich da wirklich gesprungen wäre. Wie lange würde man fliegen?
Wenn Max nicht da wäre, wüsste ich es vielleicht.
„Ich brauche keinen verfickten Tee, ich brauche Stoff!“
Stoff ist viel zu dünn, denkt Max, Mama braucht ein Fell, einen dicken Pelz, damit sie nicht so friert. Wenn er groß ist und Geld verdient mit seinem Max-Beruf, dann kauft er ihr einen Pelzmantel, der bis über ihre Turnschuhe reicht wie bei einer Eskimokönigin.
„Na, kein Stress, kann ja jeder trinken, was er möchte“, sagt Waldemar und stopft seine Ohren wieder unter die Mütze.
„Wollmilch!“, ruft Max. Eine heiße Wollmilch – das ist eine supergute Idee. „Iiiiiich trink ne Wollmilchwollmilchwollmilch“, singt er, nach der Melodie von Wir haben Hunger und klatscht die nassen Geweihhandschuhe aneinander.
„Blödsinn!“ Wollmilch, na sicher. „Du meinst Milch, du Spinner, stinknormale Milch halt, oder heiße Schokolade – was anderes gibt’s dort nicht. Außer Tee und Schnaps!“
„Doch! Wollmilch! Ich will aber eine Wollmilch trinken!“ Klar, nun fängt der Zwerg auch noch an zu quängeln. Klingt schon wieder so, als wenn er gleich losheult. Was für ein gottverdammtes Baby!
Mein Baby.
Wie sich die Unterlippe jetzt vorschiebt, ganz leicht zu zittert: Genauso hat er ausgesehen als er das erste Mal neben mir lag und ich nicht glauben konnte, sowas beschissen Schönes hingekriegt zu haben.
„Soso, Wollmilch willst du trinken, du Nasenbär. Wir können ja mal fragen, ob sie das haben“, sagt Waldemar. Er schüttelt sich wie ein nasser Hund, stampft ein paarmal mit den Füßen auf und öffnet die schwere Hüttentür. Max verschluckt das ungeweinte Salzwasser, setzt die Kapuze ab und weiß gar nicht, wohin er zuerst schauen, hören oder riechen soll: Warme Vanilleluft bläst ihm entgegen, Gelächter, Musik und Gläserklirren; blinkende Lichterketten – rotes, grünes und blaues Flackern in leuchtenden Augen und auf glänzendem Fell: richtige Tiere an der Wand; Geweihe und Hundegebell; Gewehre und Babygeschrei, Knusperkrustengeruch, Kerzenschein und prasselndes Kaminfeuer, Tannenzweige und Christbaumkugeln auf rotkarierten Tischdecken, dampfende Tassen und ein Mädchen mit dunkler Haut und ganz viel Puderzucker über ihrem Essen: winzige Schneeberge, die zwischen den Zähnen einer afrikanischen Riesin verschwinden.
„Sucht schon mal einen Platz, ich hole uns was zu trinken“, sagt Waldemar, und Max und Mama setzen sich an einen Tisch, der gerade frei geworden ist.
„Na endlich“, sagt Mama, lehnt sich zurück und schließt die Augen. An der Wand über ihr hängt ein pelziges Tier. Es scheint echt zu sein und trotzdem tot, obwohl es die Augen offen hat. Max schaut lieber weg. Aber dann doch wieder hin. Ein Wachstropfen läuft an der Kerze herunter, die auf ihrem Tisch steht. Wenn ich den abknibble, denkt Max, kann ich ihn zwischen den Fingern hin und her rollen. Sein Gesicht spiegelt sich in einer Weihnachtskugel, komisch sieht er aus: Nasenbär.
„Bitteschön, deine Wollmilch“, sagt Waldemar und stellt eine große Tasse vor ihm ab: Blau, mit einem Schneemann drauf und sogar einer Schleife drumgebunden, ein dicker Wollfaden. Siehste, denkt Max, gibt es ja doch. Aber er sagt nichts, kein Ätschibätsch, weil er Mama nicht ärgern will.
„Hier, damit du nicht erfrierst“, sagt Waldemar. Er setzt sich neben Mama, schiebt ihr einen Becher rüber und umfasst seine eigene Tasse mit beiden Händen.
„Nicht erfrieren, Mama!“, sagt Max, und er will lieber gar nicht daran denken, wie das wäre. Sie sieht schön aus und zufrieden, und Waldemar legt einen Arm um ihre Schultern und sagt: „Keine Angst, da passe ich schon auf!“
Vorsichtig nimmt Max den ersten Schluck, man weiß ja nie; aber er merkt sofort, dass er in seinem ganzen Leben noch nichts Besseres getrunken hat. Wollmilch ist warm, süß und cremig, sie schmeckt ein bisschen nach Zimt, durchströmt den Hals, fließt langsam durch die Ringe im Bauch und die Beine hinunter bis in die Füße, wo sie aufgefangen wird und alles von innen aufheizt.
„Bleibst du bei uns?“, fragt Max; seine Stimme ist von alleine losgegangen, er war das gar nicht.
Waldemar hat nasse Haare. Sein Lächeln sieht aus wie von jemandem, der Ja sagen möchte, aber dann blickt er nach unten, als wäre das Wort heruntergefallen; oder vielleicht ist das so am Pol, dass die Leute nach unten gucken, wenn sie Ja meinen.
Im Radio spielt jemand Klavier; das Lied ist wunderschön. Zuerst singt ein Mann, dann eine Frau, dann beide zusammen, und Max stellt sich vor, es wären Mama und Waldemar, die da singen.
Aus der Lautsprecherbox in der Ecke lallen die Pogues ihr versoffenes Weihnachtslied, Sinatra was swinging, all the drunks they were singing, und wir sitzen hier am Tisch, als wären wir die Heilige Familie höchstpersönlich, mit zufriedenen Kerzenscheingesichtern, die Hände um unsere Becher gelegt und Schmalz im Blick.
Wie das wohl wäre, wenn ich tatsächlich so eine Funktionsjackenfrau sein könnte für Waldemar. Vielleicht wäre dann alles ganz einfach, vielleicht wäre dann alles gut – vielleicht glaube ich ja nur, dass ich vor Langeweile sterben würde.
Ich nehme einen tiefen Schluck, lege meinen Kopf an Waldemars Schulter, summe ein bisschen und singe dann leise mit, and the bells are ringing out for Christmas day.
Die Sonne strahlt und der Himmel leuchtet, nur zwei breite Wolkenstreifen führen nebeneinander her wie Fahrzeugspuren im Schnee.
„Mach dich fertig, du Bummelfritze! Setz die Mütze auf, nimm deinen Ranzen, wir müssen los!“, ruft Oma aus dem Flur. Max sitzt immer noch am Tisch vor seinem Müsli und dreht den Milchkarton hin und her. Er hält den Kopf schräg und dann wieder gerade, doch die Buchstaben bleiben so, wie sie sind. Gestern haben sie das „W“ gelernt: W wie Wald, und davor das „V“, mit dem man Vogel und Vater schreiben kann. Und, wie er gerade gemerkt hat, auch Vollmilch, und eigentlich war das eh klar: Es gibt gar keine Wollmilch.
Waldemar ist nicht geblieben. Mama ist fast erfroren.
Morgen darf er sie wieder besuchen.
Als wäre dort oben ein Traktor langgefahren, denkt Max. Zum Nordpol.
Früher hätte er das bestimmt geglaubt.