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Yourdina, Prinzessin des Himmels
Yourdina, Prinzessin des Himmels
Das Licht schien an diesem Tag zu müde zu sein, um sich durch die Wolken zu kämpfen, die schon seit Tagen die Sonne verdeckten. Als dichter Teppich mit einem facettenreichen Grau spannte der Himmel sich über die leeren, wie vergessen wirkende Wege, hüllte die Schaukel auf dem Spielplatz in Einsamkeit ein. Doch plötzlich war es da, ganz winzige Strahlen spiegelten sich in den zarten Kristallen, die mit wundervollen weißen Röckchen auf die Erde hernieder fielen.
In der Kinderheilanstalt herrschte reges Treiben. Die Kinder saßen um einen Tisch herum und versuchen mit mehr oder weniger Erfolg zu malen oder kneten, Therapie für die Feinmotorik nannten die Schwestern dies. Manchen Kindern schien es Spaß zu machen, sie lächelten, wenn sie die unbekannte weiche Masse zwischen ihren Fingern zerdrückten, oder die Pinsel in einen Becher mit Wasser tauchten und dann die sich veränderten Farben betrachteten, zu ihnen sprachen die Schwestern und lächelten hin und wieder. Doch einige der Kinder saßen teilnahmslos auf ihren Stühlen, von denen sie nicht alleine herunter konnten, öffneten oder schlossen ihre Hände nicht, die Schwestern ließen sie gewähren.
Yourdina saß auf der Fensterbank. Sie wirkte in sich versunken, ihr Blick in den Himmel gerichtet der Gegenwart weit entfernt.
Wie kam es nur, dass sie den Schnee hörte, der doch lautlos zur Erde fiel?
Sie vernahm das Kichern der zarten Flocken, wenn der Wind sie noch einmal hoch wirbelte, mit ihnen Bilder aus Gedankenfetzen zauberte, bevor sie sich mit einem silberhellen Klang, als ob der Flügel eines Schmetterlings ein Glockenspiel berührte, sanft auf die Erde legten.
Yourdina spürte ihre Freude beim Tanz aus den Wolken, wie das Kribbeln einer Ameisenarmee auf ihrer Haut, fühlte den Schlaf, den sie der Welt zum Geschenk machten.
Doch auch ihr eisiger Tod, der sich dunkel zu ihnen auf die Straße legte, fand seinen Weg zu ihr und machte sie traurig.
Durch die Gitterstäbe des Fensters, in Mauern, die sie von der Welt fernhielten, schickte sie ihre Gedanken hinaus, die wie Hände ihrer Seele, zart und behutsam über die Flocken strichen, sie glatt wie ein Tischtuch werden ließen.
Da entdeckte sie das unsichtbare Wesen, das umgeben von unschuldigem Weiß, mit hängenden Schultern da stand, nun seinen Kopf hob und direkt in ihre Augen sah. Wie die Wärme eines Sonnestrahls traf Yourdina dieser Blick und hinterließ ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Im tiefsten ihres Inneren suchte sie nach liebevollen Gedankenworten ihn zu erwidern, ahnte jedoch nicht, dass ihr Lächeln es längst erreicht hatte.
„Da seid Ihr ja Prinzessin, so lange hab ich nach Euch gesucht.“
Niemand außer Yourdina fühlte diese Worte, während sich das unsichtbare Wesen mit den Schneeflocken vereinte, zu ihr tanzte und sich wie ein Schal an die Fensterscheibe legte. Yourdina schmiegte sich an das kühle Glas und lauschte.
„Wo habt Ihr nur gesteckt?“
„Ach, ich wollte die Liebe sehen, die die Menschen so einmalig macht“, antworteten ihre großen Augen, die nun den Schimmer von Sehnsucht trugen.
„Habt Ihr sie gefunden?“
Das unsichtbare Wesen schien vor Neugierde zu glühen.
Yourdina atmete tief, schloss die Augen, ließ noch einmal jene zauberhaften Momente, von denen sie glaubte der Liebe nahe gewesen zu sein, Revue passieren.
„Ein bisschen, denke ich“, gestand sie schließlich.
„Ein bisschen?“
Das unsichtbare Wesen wirbelte vor dem Fenster auf, so dass die zarten Flocken, die es mit sich trug, wie eine Windhose über die Wege tanzten, es schien fast als würde es sich die Haare raufen. Wenn die Menschen sie angenommen hatten, dann wäre keine Rückkehr mehr möglich, sie würde ihre Fähigkeiten nicht verlieren, aber ihre Erinnerung, und fortan ständig von Zweifeln genagt sein.
„Shalina, warum regst du dich so auf?“
Yourdinas Gedanken ließen das Wesen inne halten.
„Ihr kennt meine Namen, Ihr kennt immer noch meinen Namen, dann haben wir Euch nicht verloren“, triumphierte es nun.
„Verloren, nein wie kommst du nur auf so etwas“, lächelte Yourdina nun, „ich war doch nur spazieren“, erklärte sie wortlos weiter.
Noch einmal vollführte Shalina einen Tanz, der Jubelschrei der Schneeflocken auslöste.
„Du kitzelst in ihren Bäuchen“, lächelten Yourdinas Augen.
„Warum hast du mich gesucht?“
„Aber Prinzessin, Ihr seit vor langer Zeit fort gegangen und Niemand wusste wohin.“
„Verzeiht, ich dachte nicht, dass es so lange dauern würde.“
Um Vergebung bittend senkte sie den Kopf, dachte noch einmal an den Morgen, als sie ihr Zuhause verließ. Freudige Erwartung kribbelte in ihrem Bauch, beflügelte sie. So viele Geschichten hatte sie von den Menschen gehört, die ihre Neugierde weckten. Nur für einen Augenblick wollte sie sich zu ihnen gesellen, doch man nahm sie mit in dieses Haus.
Für einen Moment herrschte Stille zwischen den Beiden, bis Shalina Eisblumenerinnerungen an die Fensterscheibe hauchte.
„Weißt du, damals als ich fort ging wollte ich die Liebe nicht nur sehen, sondern auch fühlen...“
„Prinzessin“, empörte sich Shalina, „dass war sehr dumm von Euch!“
„Ja, ich weiß, ich darf es nicht, deswegen habe ich auch niemanden etwas gesagt.“
„Aber... wie kommt es dann?“
„Sie halten mich für verrückt“, lächelte Yourdina sich in ihre Gedanken, während ihr Blick schüchtern zu den Schwestern, die mit den anderen Kindern am Tisch saßen wanderte.
„Verrückt?“
„Ja, und einige haben auch Angst vor mir und den anderen Kindern, deshalb halten sie uns von den Menschen da draußen fern.“ Erklärte sie und malte mit den Fingerspitzen die Eisblumen nach, zog nachdenklich eine Augenbraue hoch, von Weiten hörte sie einige Schneeflocken weinen, die gern länger geblieben wären.
“Ich erzählte ihnen von den Kissenschlachten, die die jungen Wolken zum Fest ihres ersten Regens veranstalten, doch sie schüttelten den Kopf, lächelten und nannten es Gewitter.“
„Prinzessin, möchtet Ihr nicht heimkommen?“
Die Frage kam zaghaft, denn Shalina wusste, dass nachdem Yourdina zwar nur Kontakt zu den Menschen hatte, die Entscheidung jedoch nicht mehr in ihren Händen lag.
Die kleine Prinzessin stand auf, ging langsam auf die anderen Kinder zu, doch niemand beachtete sie. Die Schwestern setzten die andern Kinder zurecht, zogen sie zurück, wenn sie sich auf ihren Stühlen drehten oder versuchen aufzustehen. Eins der Kinder stieß einen Becher um und das gräulich blau schimmernde Wasser floss über den Tisch, durchtränkte die auf ihm liegenden Blätter Papier, die Kinder lachten, die Schwester verdrehte leicht die Augen und stöhnte, bevor sich eine Zornesfalte auf ihrer Stirn bildete und sie versuchte das Wasser mit einem Tuch aufzunehmen.
„Nein“, schrie ein kleines Mädchen und grabschte mit ihren Händchen in die Luft, „Nein, nein...“
„Was hast du denn?“
Eine andere Schwester kam dazu, hob das kleine Mädchen aus dem Stühlchen und schaukelte es sanft hin und her, aber die Arme des Kindes zeigten immer noch in Richtung Tisch und versuchen verzweifelte zurück zu gelangen.
„Lassen Sie ihr das Wasser, es trägt ihre Sommererinnerungen“, mischte Yourdina sich ein.
„Jetzt nicht“, wand die Schwester sich an sie.
„Aber sehen Sie denn nicht...“
„Doch“, unterbrach die Schwester sie, „sie hat gemalt und nun ist der Becher umgestürzt und das Wasser zerstört ihr Bild.“
Und zu dem immer noch zappelnden Kind auf ihrem Arm sagte sie, „ Schscht, ganz ruhig wir machen wieder alles trocken, wir helfen dir.“
„Nein“, hauchte Yourdina enttäuscht, „dass tun Sie nicht, sie hatte ihre ganzen Sommerfarben in den Becher gefüllt, jene glitzernde Wärme, die helle Tage ihr geschenkt, und die sie nun durch dunkle begleiteten sollte, die haben Sie ihr genommen.“
Genauso unglücklich, wie dies kleine Mädchen, das nun tief in sich versunken stumm weinte, kamen diese Worte über die Lippen der Prinzessin.
„Sie kommen wieder, die Farben“, tröstend versuchte sie diese Gedanken in die Kleine zu streicheln, doch es gelang ihr nicht.
Yourdina sah Unsicherheit in den Augen der Schwester, aber sie fühlte auch so etwas wie Schmerz. Neigte den Kopf ein wenig zur Seite und betrachtete aufmerksam das Gesicht der erwachsenen Frau.
„Warum seht ihr nie richtig hin?“
Die Frage blieb unbeantwortet, die Schwester streichelte sanft über den Kopf des kleinen Mädchens, das immer noch schluchzte.
„Ihr habt doch Augen.“
Mit diesen Worten drehte die Prinzessin sich um und ging wieder zum Fenster, nachdenkliche Blicke folgten ihr.
„Hast du gesehen Shalina? Sie ist da, die Liebe, doch sie verstehen sie einfach nicht.“ Traurigkeit schrieb diese Worte während sie über Yourdinas Wangen lief.
„Ja, ich möchte heimkommen!“
Erleichtert schloss Shalina die Augen.
Mit lautem Klirren ließ sie, die Fensterscheibe zerspringen, ein Wirbel aus freudig kichernden Schneeflocken, drang ins Zimmer, hüllte die Prinzessin des Himmels sanft in eine Wolke, hob sie empor und trug sie heim.
©Angela Redeker