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Zaide

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06.12.2006
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Zaide

Wie so oft in letzter Zeit, gehe ich langsam durch die Straßen meiner Stadt. Die geliebte Kamera um meinen Hals und mein schwarzer Hut auf meinem weißen Haar. Mir ist schon oft aufgefallen, dass ich andere Dinge sehe, als die Menschen um mich herum. Auch jetzt sind viele Blicke auf die große schwarze Kirche oder stur auf den Boden gerichtet. Nur wenige schauen die Menschen an oder die Hunde, die Tauben und ... Was ist das? Ein Meter über dem Boden schwebt ein Luftballon. Himmelblau.
Er gehört offensichtlich nicht in das Bild der Straße mit den grauen Häusern und den dunkel gekleideten Menschen, aber er scheint keinem aufzufallen.
Unauffällig spaziere ich auf ihn zu. Dann stehe ich vor ihm und hebe automatisch die Kamera ans Auge. Blicke durch den Sucher. Fixiere den Ballon. Doch etwas im Hintergrund des Bildes zieht meinen Blick auf sich. Erstaunte, braune Augen. Schön geschwungen. Die Augen eines kleinen Mädchens. Deine Augen.

Du sitzt auf dem schmutzigen, kalten Boden. Du trägst keinen Mantel, wie ich. Deine Füße sind nackt und schwarz.
"Hallo", sage ich überrascht. Doch du schaust mich nur weiter misstrauisch an. Mit einer steilen Falte auf der glatten Stirn. Ich frage mich, was du wohl siehst. Einen alten Mann mit sehr weißen Haaren. Einen dünnen Mund. Blaue, aber trotzdem warme Augen, auf denen der Schatten meiner buschigen Augenbrauen liegt.

"Was machst du hier?", frage ich, doch da fällt mein Blick auf einen roten Hut neben dem hellblauen Luftballon, in dem wenige Münzen liegen. Du folgst meinem Blick. Ich werde rot und frage dich schnell: " Hast du Hunger?" Wieder reagierst du nicht und ich überlege, ob ich lieber gehen sollte, doch da nickst du langsam. Das freut mich so, dass ich spontan deine kalte, kleine Hand ergreife und dich auf die Beine ziehe. Erschrocken entwindest du mir deine Hand. "Entschuldigung!", flüstere ich schnell, "Wie wär's mit Pizza?" Und ich kann es kaum glauben, ein kurzes, feines Lächeln auf deinem Gesicht zu sehen.
Zögernd gehst du neben mir her, die Straße entlang.
"Zaide!", ruft eine schneidende Frauenstimme. Du erstarrst neben mir und drehst dich um. Eine Frau läuft auf uns zu. Mit funkelndem Blick schlägt sie dir mit der flachen Hand ins Gesicht. Du sagst kein Wort und schaust mich nicht an, während die Frau dich mit sich zerrt.

Am nächsten Morgen laufe ich durch die Straßen und halte verzweifelt Ausschau nach einem hellblauen Luftballon. Nach braunen Augen. Nach dir.

 

Hallo isatoo!

Eine schöne, stimmungsvolle Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Obwohl ich das Verhalten der Mutter nicht so richtig nachvollziehen kann: Ich hätte dem Mann eine runtergehauen, nicht meiner Tochter. Oder war es vielleicht gar nicht die Mutter?
Okay, das sind jetzt wilde Spekulationen, aber ich erlaube mir das einfach mal. :D Der Mann ist der Vater des Kindes, er erkennt es auf der Straße wieder.

Die Augen eines kleinen Mädchens. Deine Augen.
Also die Augen einer Verflossenen?
Die Frau, die Zaide dann wegzerrt, ist aber nicht die Mutter, sondern irgendwer, der das Mädchen großzieht. Schlussfolgerung: Die Mutter ist tot?

Normalerweise finde ich es schrecklich, wenn so wahnsinnig viele Fragen offen bleiben, die den Leser ratlos zurücklassen, aber hier war das irgendwie nicht der Fall. Es sind ja Ansätze zum Interpretieren da, viele mögen das sicherlich nicht, aber mir hats gefallen.
(Ich hoffe, meine Deutung war nicht kompletter Schwachsinn ... ;))

Eine winzige Kleinigkeit ist mir nur aufgefallen:

Mit funkelndem Blick schägt sie dir mit der flachen Hand ins Gesicht.
schlägt

Sehr gern gelesen!
apfelstrudel

PS: Schauplatz war für mich irgendwie Venedig, wahrscheinlich wegen der Tauben. Die gibts zwar überall, aber trotzdem ... :)

 

Hallo isatoo,

du hast da eine stimmungsvolle Miniatur geschrieben. Bewundernswert in ihrer Vielschichtigkeit und deutlich besser, als das Alter in deinem Profil vermuten lässt.

LG,

AE

 

Hallo Isatoo,

ein kleiner und gut geschriebener Text. Mir hat gefallen, wie du die Innenwelt dieses Mannes mit wenigen, treffsicheren Worten dargestellt hast. Eine gelungene Momentaufnahme. Ich habe beim Lesen Bilder eines Kurzfilms gesehen.
Deine Geschichte enthält auch einen doppelten Boden: Wer weiß, vielleicht ist ja dieser Alte darauf aus, das Kind zu entführen? Oder will er tatsächlich nur helfen?

Schön geschrieben.
Viele Grüße
Hawowi

 

Hallo isatoo,
ich schließe mich meinen Vorrednern an, mir hat die Geschichte auch sehr gut gefallen, du hast alles so anschaulich beschrieben, dass ich es vor meinen Augen sehen könnte und doch so rätselhaft, dass der Geschichte etwas Geheimnisvolles bleibt.

Einen hundertprozentigen Lösungsansatz zu deinem Rätsel habe ich auch nicht parat, aber das macht überhaupt nichts, ich finde es immer schön, wenn am Ende etwas zum Grübeln überbleibt.
Dass der Mann der Vater des Mädchens ist, glaube ich nicht, sonst hätte er meiner Meinung nach anderes reagiert als er plötzlich seine Tochter bettelnd auf dem Boden sitzen sieht. Vielmehr vermute ich, dass der Mann das Kind auf der Straße entdeckt hat und es ihn an seine eigene (vielleicht verstorbene) Tochter (oder auch Frau) erinnert hat und er das Mädchen deshalb auf eine Pizza einladen will. Nicht ganz ins Bild passt mir die Sache mit der Kamera, wobei das schon fast wieder ein wenig was von Tourist hat, d.h. der Mann ist in einer fremden Stadt und entdeckt da plötzlich ein bettelndes Mädchen, das ihn an jemanden erinnert...
Die Frau kann ich mir auch nicht ganz erklären, da gibt mir meine Phantasie auch mehrere Möglichkeiten vor, die ich jetzt aber nicht auch noch ausführen möchte.

Insgesamt auf jeden Fall ein dickes Lob, wenn das mal kein gelungener Einstand auf Kurzgeschichten.de ist ;)
(Korrektur: Oh, ich sehe gerade, dass das gar kein Einstand ist, du warst nur schon ziemlich lange nicht mehr aktiv. Am Lob ändert das trotzdem nichts.:D)

Viele liebe Grüße,
Sebastian

PS: Eine Kleinigkeit ist mir noch aufgefallen. In der direkten Rede verwendest du die englischen Anführungszeichen (" ") an Stelle der deutschen („ “) oder französischen (das sind die Doppelpfeile, kann ich gerade nicht darstellen...). Vielleicht setzt dein Schreibprogramm die auch automatisch so, ist aber nicht ganz korrekt ;)

 

Hallo Isatoo, ich muss sagen, dass mir auch gleich derselbe Gedanke durch den Kopf ging wie im Vorkommentar: was will der alte Perversling mit dem Kind?
Denn seltsam ist es schon, in der heutigen Zeit, ein fremdes Maedchen von der Strasse aufzulesen und sie zur Pizza einzuladen, findest du nicht?
Sollen es Zigeuner sein und die erwachsene Frau nicht ihre Mutter, sondern eine Art Bettel- Zuhaelterin?
Hmmm. Auf jeden Falll bringt dein kleiner Text ins Gruebeln und schoen geschrieben ist es auch.
Viele Gruesse, sammamish

 

Ich bin die schwester von isa(too) ich weiß, dass ihr die Gescichte falsch verstanden habt. Der Mann will dem Mädchen nichts Böses. Er weiß nich was er will.
Liebe Grüße,
Clarissa=)

 

ich weiß, dass ihr die Gescichte falsch verstanden habt.
Bitte versteh es nicht als Trotzreaktion, aber was verstehst du denn unter "falsch verstanden"?

Die Geschichte ist offen für viele Denkansätze und genau das ist es, was wir alle so interessant an ihr fanden. Es kann also durchaus sein, dass wir sie anders verstanden haben als deine Schwester es beabsichtigte, falsch sind unsere Gedanken deshalb noch lange nicht. ;)

Liebe Grüße,
Sebastian

 

Hallo!
Vielen Dank für eure Kritik und eure interessanten Interpretationen.
Es tut mir leid, dass meine schwester einfach so unter meinem namen schreibt. Es war zwar wirklich nicht meine absicht, dass der alte Mann als Perversling rüberkommt, aber ich habe beabsichtigt, dass jeder etwas anderes in den Personen sieht.
Es freut mich, dass euch die Geschichte gefallen hat, obwohl so viele Fragen bleiben.
Danke,
isa

 

Ich finde den Ansatz von sammamish in Verbindung mit dieser Geschichte sehr interessant. Es passt, dass sicherlich die breite Masse nicht so reagiert wie dieser Mann. In was für einer Gesellschaft leben wir? Überwiegen Misstrauen und im wesentlichen vielmehr Vorsicht und Sicherheit, emotionalen Hingebungen und Aufmerksamkeit einem Gegenüber im Alltag?

In der Kategorie Gesellschaft scheint mir die Geschichte goldrichtig.

 

Salü isatoo,

eine gute, nachdenklich stimmende Geschichte. Flüssig geschrieben und spannend aufgebaut. Mir wäre nicht in den Sinn gekommen, den alten Mann gleich als 'Perversling' abzustempeln, dafür beschreibst Du ihn am Anfang zu sorglos, wie er mit der Kamera durch die Stadt schlendert.
Wie Benjamin P. frage ich mich: Wie sollen wir noch spontanen, freundlichen Eingebungen folgen, wenn immer gleich dieses: "Huch, was will der denn ... der ist ja pervers ...", gerufen wird. Auf der anderen Seite gründet dieser Ruf natürlich auch auf schrecklichen Ereignissen und hat damit durchaus seine Berechtigung.
Du hast also eine Geschichte geschrieben, die mich dazu anhält, genau abzuwägen, was ich tue oder auch lasse.

Herzlich,
Gisanne

 

Hallo Gisanne
Deine Kritik hat mich sehr gefreut, weil ich genau diese Gedanken bei den Lesern hervorrufen wollte. Und du hast auch erkannt, warum ich den alten Mann am Anfang für meine verhältnisse genau und ein wenig zärtlich beschrieben habe:
damit man eher nicht auf den Gedanken kommt, dass er etwas Schlimmes mit em Mädchen vor hat. Vielen Dank,
isa

 

Hallo isatoo,

ich habe die Geschichte etwas anders wahrgenommen als meine Vorkritiker - die Tatsache, dass unterschiedliche Interpretationen möglich sind, spricht natürlich eher für als gegen deine Geschichte.

Aufgrund der Beschreibung des alten Mannes (auch kein Mantel, anderer Blickwinkel als der Rest) hatte ich einen obdachlosen Mann vor mir, den das bettelnde Mädchen erschüttert, so dass er ihr helfen möchte. Die Frau habe ich als Aufpasserin, möglicherweise Anführerin einer Bettelbande wahrgenommen.

Grundsätzlich kann ich mir vorstellen, dass eine längere Geschichte diesem anspruchsvollen Thema gut getan hätte. Hat mir als kleines Stimmungsbild aber ganz gut gefallen.

Ein kleiner Fehler:

" Hast du Hunger?"
Korrigier doch die Anführungs- und das Leerzeichen.

Liebe Grüße
Juschi

 

...man könnte Zaide auch als Personifikation der Sehnsucht des Mannes nach verlorener Jugend, nach dem Jung-sein, auffassen. Immerhin fragt er sich, was das Mädchen ihn ihm sieht ("einen alten Mann mit sehr weißen Haaren"), was ja doch eine recht ungewöhnliche Frage ist.

Eine ganz nette Geschichte, die mir recht gut gefällt. An deinem Schreibstil solltest du aber noch arbeiten, da merkt man dir dein Alter stellenweise noch an. Was ja auch verständlich ist.

adn

 

Guten Abend!
Danke für die Kritik.
Ich würde meinen Schreibstil sehr gerne verbessern. Wo merkt man mir denn mein Alter an? Aber wahrscheinlich muss ich das selbst rausfinden.
Gruß
isa

 

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