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Zaide
Wie so oft in letzter Zeit, gehe ich langsam durch die Straßen meiner Stadt. Die geliebte Kamera um meinen Hals und mein schwarzer Hut auf meinem weißen Haar. Mir ist schon oft aufgefallen, dass ich andere Dinge sehe, als die Menschen um mich herum. Auch jetzt sind viele Blicke auf die große schwarze Kirche oder stur auf den Boden gerichtet. Nur wenige schauen die Menschen an oder die Hunde, die Tauben und ... Was ist das? Ein Meter über dem Boden schwebt ein Luftballon. Himmelblau.
Er gehört offensichtlich nicht in das Bild der Straße mit den grauen Häusern und den dunkel gekleideten Menschen, aber er scheint keinem aufzufallen.
Unauffällig spaziere ich auf ihn zu. Dann stehe ich vor ihm und hebe automatisch die Kamera ans Auge. Blicke durch den Sucher. Fixiere den Ballon. Doch etwas im Hintergrund des Bildes zieht meinen Blick auf sich. Erstaunte, braune Augen. Schön geschwungen. Die Augen eines kleinen Mädchens. Deine Augen.
Du sitzt auf dem schmutzigen, kalten Boden. Du trägst keinen Mantel, wie ich. Deine Füße sind nackt und schwarz.
"Hallo", sage ich überrascht. Doch du schaust mich nur weiter misstrauisch an. Mit einer steilen Falte auf der glatten Stirn. Ich frage mich, was du wohl siehst. Einen alten Mann mit sehr weißen Haaren. Einen dünnen Mund. Blaue, aber trotzdem warme Augen, auf denen der Schatten meiner buschigen Augenbrauen liegt.
"Was machst du hier?", frage ich, doch da fällt mein Blick auf einen roten Hut neben dem hellblauen Luftballon, in dem wenige Münzen liegen. Du folgst meinem Blick. Ich werde rot und frage dich schnell: " Hast du Hunger?" Wieder reagierst du nicht und ich überlege, ob ich lieber gehen sollte, doch da nickst du langsam. Das freut mich so, dass ich spontan deine kalte, kleine Hand ergreife und dich auf die Beine ziehe. Erschrocken entwindest du mir deine Hand. "Entschuldigung!", flüstere ich schnell, "Wie wär's mit Pizza?" Und ich kann es kaum glauben, ein kurzes, feines Lächeln auf deinem Gesicht zu sehen.
Zögernd gehst du neben mir her, die Straße entlang.
"Zaide!", ruft eine schneidende Frauenstimme. Du erstarrst neben mir und drehst dich um. Eine Frau läuft auf uns zu. Mit funkelndem Blick schlägt sie dir mit der flachen Hand ins Gesicht. Du sagst kein Wort und schaust mich nicht an, während die Frau dich mit sich zerrt.
Am nächsten Morgen laufe ich durch die Straßen und halte verzweifelt Ausschau nach einem hellblauen Luftballon. Nach braunen Augen. Nach dir.