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Zeit - Raffer
Er muss verwechselt worden sein: ein dummer Irrtum. Minotaurus stolpert durch ein ihm vollkommen fremdes, fensterloses Haus. Es muss gigantisch sein. Er läuft schon seit Stunden durch Zimmer und endlose Flure ohne eine Außenwand zu erreichen. Manche der Räume sind so voller Plunder, dass er sich kaum durchquetschen kann und ständig mit Hörner und Fell an herausstehenden Spitzen und Ecken hängen bleibt. Andere sind gänzlich leer, dabei riesig; Minotaurus hört das Echo seines Atems.
Vermutlich hat er wieder getrunken und sich irgendwo herumgetrieben, anders kann er sich seinen Aufenthalt hier nicht erklären. Als er in dem dauernden Dämmerlicht der Deckenlampen aufwachte, war es kurz vor Mitternacht, jetzt zeigt ihm seine Uhr Fünf am morgen an. Noch drei Stunden und Minotaurus muss im Büro sein. Er schwitzt beim Gedanken an die Präsentation um zehn.
„So groß kann das gar nicht sein. Planen wir noch eine halbe Stunde für das Finden der Tür ein, dann ist es halb sechs. Taxi nach Hause, noch eine Stunde schlafen, dann schnell Duschen und Frühstücken. So erwische ich sogar noch den zehn-vor-Bus“, denkt er und tritt in den inzwischen dritten Windfang seines Irrgangs (er ist voller Schuhe).
Es ist zwölf Uhr mittags als Minotaurus mittlerweile völlig verzweifelt die letzte Tür erreicht. Ohne dass diese sich im Mindesten von den anderen unterscheidet, weiß er, dass sie es ist, durch die er das Haus verlassen kann. „Gleich bin ich draußen“, denkt er. Als er sich der Tür nähert, vibrieren die Wände ganz leicht. Beim Berühren des Türknaufs glaubt er sich verbrannt zu haben, verdrängt den Gedanken aber sofort und reißt die Tür auf.
Noch in diesem Moment kippt das Haus hinter ihm in eine flüssige Schwärze. Sie dringt ihm sofort in die Lungen und erstickt seinen Schrei noch im Ansatz.