Zeit
Die Uhren tickten.
Mein Herz schlug in meinen Ohren. Ein Geräusch, so laut, wie ein einfahrender Zug.
Die Erde drehte sich und mit ihr, alle Wesen, die sie bewohnten.
Das Licht des Krankenwagens erleuchtete die Straße vor meinem Haus. Tauchte die Szene in ein skurriles Farbenchaos.
Um mich herum standen meine Nachbarn, die ich kaum kannte.
Eine ältere Frau, etwa 70, mit schmalen Schultern und grau-weißem Haar hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt.
Mir war eiskalt.
Ein Sanitäter fragte mich etwas. Doch die Worte drangen nicht zu mir durch. Ich starrte auf einen Fleck hinter ihm und weigerte mich, das was ich sah zu begreifen, zu realisieren, anzunehmen.
„Können sie mich hören?“
Der Mann, der nicht älter sein konnte als 25, drehte mein Gesicht zu sich. Seine Hand war rau.
„Verstehen Sie mich?“
Ich nickte bloß und blickte in seine blauen Augen, ohne ihn wirklich zu sehen.
„Können Sie mir erklären, was geschehen ist?“
„Sie ist die Treppe herunter gefallen. Ich hab Geräusche gehört…“
Er ließ mein Gesicht los und wandte sich von mir ab. Sein lockiges Haar streifte meine Wange. Ich blieb zusammengesunken auf der Treppe vor dem Haus sitzen, in dem ich lebte. Mit ihr.
„Sally?“
Die Frau, die die ganze Zeit neben mir gestanden hatte, kannte meinen Namen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn ihr gesagt zu haben. Sie ließ sich neben mir in die Hocke sinken. Ihr, mit Rosen bestickter, Morgenrock bauschte sich leicht auf. Sie roch nach Seife.
„Sally?“
Ich nickte.
„Wir sollten Sie rein bringen.“
Ich verstand nicht, was sie meinte.
Ich würde ins Krankenhaus fahren und an ihrem Bett sitzen. Warten bis sie aufwachte.
Ich stand auf. Die Hand der Frau rutschte von meiner Schulter und hinterließ ein merkwürdiges Gefühl, an der Stelle, wo sie gelegen hatte.
Ich stolperte die restlichen Stufen herunter und taumelte an den Polizisten und Sanitätern vorbei, die wie eingefroren schienen.
Keiner hielt mich auf. Keiner nahm meine Hand. Keiner stand mir zur Seite.
Das blaue Licht tanzte einen wilden Tanz, in den Blätterdächern der Birken.
Als ich an der Trage angekommen war streckte ich die Hand aus. Berührte ihre Wange.
Wärme strömte in meine Finger.
Ihre braunen Augen waren geschlossen. Sie schlief. Träumte vielleicht
Warum brachte sie keiner ins Krankenhaus?
Warum rührte sich keiner?
Ich drehte mich um. Alle Blicke ruhten auf mir. Die Frau, die neben mir gehockt hatte, hatte Tränen in den Augen.
Ich wollte schreien.
Sie mussten Sie ins Krankenhaus bringen.
Doch meine Stimme schien zu weit weg.
Mein Herz schlug schneller.
Die Uhren tickten.
Die Lichter tanzten in den Bäumen, auf den Gesichtern.
Ich starrte diese Menschen an.
Die Welt drehte sich weiter.
Nur in mir schien sie still zu stehen.
Ein Mann berührte meinen Arm und sagte etwas. Ich hörte es nicht.
Dann hoben zwei Sanitäter die Barre an, stellten sie in den Wagen und deckten meine Mutter zu.
Zogen die Decke über ihre Schultern – über ihr Kinn – über ihre Nase – ihre Augen – ihren Kopf.
Die Uhren tickten.
Die Erde drehte sich.
Die Türen des Rettungswagens wurden geschlossen. Ein dumpfer Laut.
Die Lichter erloschen.
Der Polizist ließ mich los.
Ich stand da und verstand es nicht.
„Sally? Hören Sie mich?“
Die Frau in dem Morgenmantel stand neben mir. Sie war klein. Zierlich. Zerbrechlich.
„Kommen Sie. Hier draußen ist es eiskalt.“
Keiner sagte ein Wort.
Und ich bewegte mich nicht.
Ich zog den dicken Bademantel enger um meinen Körper und schaute dem Rettungswagen hinterher, der meine Mutter wegbrachte.
Bald würde die Sonne aufgehen.
Die Erde drehte sich.
Nur an diesem Morgen verstand ich nicht warum.