Zeitlöcher
Die Zeitlöcher
"Lena! Ja, träumst du denn?" Das Gesicht von Lenas Mutter erschien ziemlich verärgert im Türrahmen des Badezimmers. "Immer diese Trödelei! Vor zehn Minuten solltest du dir schon deine Zähne putzen!"
Lena schaute erschreckt auf die Uhr neben dem Spiegel. Tatsächlich, schon halb acht, wie war denn das nun wieder passiert!
"Das war eins dieser Zeitlöcher, Mama!", rief sie zurück ins Esszimmer und schmierte schnell einen hellblau leuchtenden Zahnpastastreifen auf ihre Zahnbürste.
"Zeitlöcher?! Dass ich nicht lache!" Lenas Mutter schnaubte ärgerlich. Sobald Lena sich auf den Schulweg machte, musste auch sie ins Büro und wenn Lena nicht rechtzeitig loskam, hieß das, dass auch sie zu spät kommen würde. Deshalb war sie auch morgens immer so ungeduldig.
"Nichts als Trödelei ist das!", schimpfte sie.
Lena zog sich schnell Hose und Pulli an. "Klar gibt es Zeitlöcher!", flüsterte sie dabei trotzig vor sich hin. Das wusste doch jedes Kind! Man machte etwas, dann fiel einem zum Beispiel etwas Tolles ein, was man gestern erlebt hatte, und schon war es eine Viertelstunde später!
Manchmal passierte das auch, wenn sie unterwegs war: Auf dem Weg zum Klavierunterricht letzte Woche hatte Lena an einem Zweig eine dicke grüne Raupe an einem wie aus Seide gesponnenen Faden hängen sehen. Dass aus Raupen Puppen werden und aus Puppen Schmetterlinge, lernten sie gerade in der Schule. Ohje, und während sie noch darüber nachdachte, welch ein schöner Falter bald aus dieser Raupe entstehen würde und ob er wohl blaue Flügel oder vielleicht ein Augen-Muster haben würde, schwupp, da war der Klavierunterricht in das Zeitloch gefallen. Das hatte wieder Ärger gegeben!
Lena fragte sich, ob das mit den Zeitlöchern wohl aufhören würde, wenn sie einmal erwachsen war. Oder ob sie sie dann auch so völlig vergessen würde wie ihre Mutter?
Vielleicht kamen die Zeitlöcher erst wieder, wenn man alt wurde? Lena sah ihren Opa oft ganz selbstvergessen, manchmal ganz leicht lächelnd, lange aus dem Fenster sehen, selbst dann, wenn die ganze Familie zu Besuch da war und alle sich so laut unterhielten, dass die Kaffeetassen klirrten.
Als sie jetzt darüber nachdachte, war sie plötzlich ganz sicher, dass Opa die Zeitlöcher auch kannte. Vielleicht hatte sie sie ja auch von ihm geerbt wie die braunen Augen?
Sie freute sich schon auf den nächsten Besuch beim Opa. Sie würde ihn an die Hand nehmen, sich mit ihm auf die Gartenbank setzen und ihn fragen ...