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Zivilcourage
Lena war froh, daß sie endlich diese Lehrstelle als Arzthelferin gefunden hatte. Die Kolleginnen, der Arzt und auch die Patienten waren alle freundlich und hilfsbereit und hatten Geduld, auch wenn einmal etwas nicht auf Anhieb klappte. Die Arbeit machte ihr viel Freude und war abwechslungsreich. Das einzige, was Lena ein wenig störte, waren die Arbeitszeiten. Die lange Mittagspause von 3 Stunden konnte sie zwar zu Hause verbringen, aber abends musste sie oft bis 19.30 Uhr in der Praxis bleiben.
Danach hatte sie noch eine dreiviertel Stunde Fahrt in der U-Bahn vor sich, so daß sie meist nicht vor 20.30 zu Hause war.
Um sich die lange Zeit zu vertreiben, nahm sie oft ein Buch mit, in dem sie während der Fahrt lesen konnte.
An diesem Abend, es war ein kalter und feuchter Dezemberabend, hatte Lena besonders lange in der Praxis bleiben müssen, denn die Abrechnungen mit den Krankenkassen sollte erledigt werden. Es war das erste Mal, daß Lena dabei mithelfen sollte und die Kolleginnen mussten ihr vieles erklären, wodurch natürlich eine ziemliche Verzögerung eintrat.
Als sie sich schließlich auf den Weg zur U-Bahn-Haltestelle machte, hatte es angefangen zu schneien und Lena war froh, als sie auf dem Bahnsteig stand, denn hier war es wenigstens trocken. Nur noch wenige Menschen warteten außer ihr auf den Zug.
Lena setzte sich auf eine Bank, neben eine alte Frau mit einem Gehstock. Sie sah auf die Anzeige, auf der aufleuchtete, daß der nächste Zug in sechs Minuten hier halten würde.
Als die Bahn schließlich einfuhr, stieg Lena in einen Waggon, in dem ein paar jüngere Männer saßen, die Bücher und Zeitungen lasen und sie nicht beachteten. Die alte Dame stieg hinter ihr ein und setzte sich so hin, daß sie Blickkontakt mit Lena hatte.
Lena holte ihr Buch heraus, begann zu lesen und hatte bald schon ihre Umgebung völlig vergessen.
Ein paar Haltestellen weiter stieg eine Gruppe von 10 Jugendlichen ein. Nachdem die Türen der Bahn sich geschlossen hatten und der Zug weiterfuhr, begannen diese Jungen, die anderen Fahrgäste zu beschimpfen, die Sitzpolster mit mitgebrachten Messern aufzuschlitzen und die Scheiben anzukratzen.
Als ihnen das zu langweilig wurde, sahen sie sich suchend um und entdeckten Lena. Sie gingen auf sie zu und setzten sich so hin, daß Lena völlig eingekeilt war.
In ihr kroch die Angst hoch. Sie tat zwar so, als hätte sie die Gruppe nicht bemerkt und tat so als würde sie völlig ungerührt weiterlesen, aber ihre Hände begannen zu schwitzen und die Wörter vor ihren Augen zu verschwimmen.
Ein Junge fing an, ihr Fragen zu stellen. "Wie heißt Du? Wie alt bist Du? Wo fährst Du hin?"
Lena beantwortete keine dieser Fragen und starrte immer noch in ihr Buch.
Aber davon ließ sich keiner der Jungen entmutigen, im Gegenteil, sie rückten alle noch näher an Lena heran. Ein Entkommen war völlig unmöglich.
Nun sah Lena von ihrem Buch auf und blickte hilfesuchend der Reihe nach alle anderen Mitreisenden an. Alle beobachteten die Szene schweigend und sahen auch Lenas verzweifelten Blick, aber keiner machte Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen. Lena traten die Tränen in die Augen und ihre Hände zitterten.
Schließlich rückte einer der Jugendlichen so dicht an sie heran, daß Lena seinen Atem riechen konnte. Er hatte Alkohol getrunken. Lena ekelte sich vor ihm, als sein Mund immer näher kam; offensichtlich wollte er sie küssen.
Lena schloß die Augen und erwartete dieses widerliche Gefühl; die Lippen dieses fremden Jungen auf ihren.
Da plötzlich hörte sie die Stimme der alten Dame. "Laßt doch das Mädchen in Ruhe", sagte sie ziemlich laut. Lena öffnete die Augen und sah die alte Frau näherkommen. Dabei hatte sie ihren Gehstock erhoben, so als wolle sie ihn als Waffe gegen diese Jugendlichen einsetzen.
Die Gruppe wandte sich von Lena ab und der alten Frau zu. Zunächst waren sie alle fassungslos aber dann standen sie auf und gingen nun drohend auf die Frau zu.
Lena nutzte ihre Chance: Sie drückte den Notrufknopf und sofort meldete sich der Fahrer. Mit zitternder Stimme erzählte Lena dem Fahrer, was hier vor sich ging.
Die Gruppe hatte das natürlich mitbekommen, ließen von der Frau ab, die nunmehr auf dem Boden lag und wollten sich wieder Lena zuwenden. Aber nun waren die anderen Fahrgäste aufgestanden und traten gemeinsam der Gruppe entgegen, um Lena vor einem weiteren Angriff zu schützen.
Der Fahrer hatte unterdessen aus seinem Fahrerhäuschen heraus die Polizei alarmiert, die auch prompt reagierte und schon zwei Haltestellen weiter wurden die Jugendlichen erwartet und von den Beamten in Gewahrsam genommen.
Für die alte Dame wurde ein Krankenwagen gerufen. Lena erkundigte sich bei den Sanitätern, in welches Krankenhaus man die Frau bringen würde, bevor sie selber von einem Streifenwagen nach Hause gebracht wurde.
Schon am nächsten Tag machte sie sich auf, die alte Frau zu besuchen. Sie hatte einen Riesen-Blumenstrauß besorgt.
Die Frau lag blaß in ihrem Krankenbett, war aber zum Glück nicht allzu schwer verletzt.
Lena bedankte sich sehr herzlich bei der Frau für ihr mutiges Eingreifen. Dann bat sie sie noch um ihre Adresse, damit sie auch weiterhin in Kontakt bleiben konnten.
Lena fand, daß sie tief in der Schuld dieser Frau stand, denn sie wollte sich nicht ausmalen, was noch alles mit ihr passiert wäre, wenn diese Frau nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre.