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Zu den Wurzeln
Ich will keine Gemüsekiste. Ich habe mir schon Plastiktüten abgewöhnt und Coffee to go, ich fahre mit dem Rad zur Arbeit und fliege nicht in den Urlaub. Aber irgendwann muss auch mal Schluss sein.
Als ich zur Schule ging, hatten meine Eltern eine Kiste abonniert. Einmal war Blumenkohl dabei, und mein Vater kochte Suppe daraus, die war voller brauner Punkte. Ich war ja kein besonders mäkliges Kind, aber der Anblick machte mich dann doch skeptisch. Und wie bei einem Vexierbild, das man lange genug anstarrt, stellte sich raus, dass sich hinter den Punkten etwas anderes verbarg als angegammelter Blumenkohl. Immer wenn ich das Wort Gemüsekiste höre, muss ich wieder an die vielen totgekochten Maden und ihre kleinen braunen Köpfchen denken. Mittlerweile sagen die Experten, dass Insekten vielleicht die Proteinquelle der Zukunft sind, aber für mich als Vegetarierkind war die Geschichte ein bisschen traumatisch.
„Aber wenn du Bio-Gemüse im Supermarkt kaufst“, sagt Conny, „da schmeißen sie die Hälfte weg, weil es zu groß ist oder zu klein oder die Möhren ein paar Auswüchse haben. Das ist doch Wahnsinn, da nützen diese ganzen Siegel auch nichts.“
Conny ist ein besserer Mensch als ich und schon längst fest entschlossen, eine Kiste zu bestellen.
Ja, aber die liefern grundsätzlich nur, wenn man nicht zuhause ist, und im Winter gibt es monatelang nur Wurzelgemüse und Grünkohl, und es ist immer ein Haufen Dreck dran, sage ich. Conny ist zu nett, um „first world problems“ zu sagen, aber ich weiß trotzdem, dass sie recht hat. Die Lebensmittelindustrie ist mittlerweile echt ein einziger perverser Alptraum, und wenn man Klimawandel und Antibiotikaresistenzen und geschredderte Küken nicht einfach in Kauf nehmen will, dann muss man vielleicht seine verwöhnten Ansprüche ein bisschen runterschrauben. Also muss ich wohl doch in den madigen Apfel beißen und mir auch eine Kiste bestellen.
„Ich werd’ mal schauen, was es so für Angebote gibt“, sage ich.
„Ich habe mir schon was rausgesucht“, sagt Conny. Sie zeigt mir ein Faltblatt. Genossenschaft Rübezahl steht auf dem Deckblatt.
Es ist nicht viel Text, aber trotzdem entsteht eine lange Pause, während ich lese.
„Conny“, sage ich. Mehr fällt mir fürs Erste nicht ein.
Die meiste Zeit bin ich fest davon überzeugt, dass die Welt mehr Menschen braucht wie Conny. Leute, die sich Gedanken machen und auch bereit sind, auf etwas zu verzichten, um der Umwelt und ihren Mitmenschen nicht zu schaden. Aber immer wenn ich Conny gerade in besonders positivem Licht sehe, dann kommt sie mit so was an. Gedächtnis des Wassers, Mondkalender, Kristalle, war alles schon dabei. Zum Glück hat sie keinen Fernseher, sie würde auf jeden Mist reinfallen, den dieser beknackte Astro-Sender verkauft.
Diesmal ist es also ein Füllhorn. Das steht wirklich so im Faltblatt. Abgesehen von dem Zeug über Respekt vor der Natur und ursprüngliche Anbaumethoden steht da: Die bauen ein Füllhorn in der Küche ein, und da durch kommt das Gemüse direkt zum Kunden.
„Wie soll denn das funktionieren?“ frage ich endlich.
Sie sieht mich nur mit großen Augen an und zuckt die Schultern.
Mir wird klar, dass ich nicht genug Physik im Kopf habe, um ihr zu erklären, warum das nicht gehen kann, und selbst wenn ich es könnte, würde es auch nichts nützen.
„Du kannst das jederzeit kündigen, ja?“, frage ich.
„Ich glaub schon“, sagt sie. „Aber das brauche ich bestimmt nicht.“
Ein paar Wochen darauf habe ich das Ganze schon fast wieder vergessen. Ich kaufe weiter im Supermarkt ein, weil ich keine Zeit habe für die Kistenbestellung. Ich muss Überstunden machen, esse unterwegs und lasse die Hälfte von meinem Gemüse verschimmeln. Das schlechte Gewissen lässt mich an Conny denken.
Normalerweise ist sie diejenige, die sich zuerst meldet. Aber jetzt habe ich wirklich schon lange nichts mehr von ihr gehört. Es dauert nur noch ein paar Tage, bis ich mich dazu aufraffe, sie anzurufen.
„Geht’s dir gut?“, frage ich, und höre sofort, dass mit ihrem „ja“ etwas nicht stimmt.
„Soll ich mal wieder vorbeikommen?“ frage ich.
„Ist grade ungünstig“, sagt sie. „Ich rufe dich wieder an.“
Sie legt auf und meldet sich eine Woche lang nicht. Das ist dermaßen überhaupt nicht ihre Art, dass ich mir Sorgen mache.
Am Wochenende fahre ich zu ihr und behaupte, ich wäre grade in der Gegend gewesen. Conny hat tiefe Schatten unter den Augen und sieht noch dünner aus als sonst. Sie hätte mir doch einfach sagen können, dass sie krank war, denke ich, aber vielleicht wollte sie es nicht zugeben, weil sie ja immer behauptet, durch ihre ganzen Kräutertees wäre ihr Immunsystem so gut wie unfehlbar.
Für einen Moment sieht es aus, also ob sie mich nicht hereinlassen wollte. Dann sagt sie „Komm, ich mache Tee“, und führt mich ins Wohnzimmer.
Eigentlich sitzen wir immer in der Küche, weil es dort heller ist.
Wir unterhalten uns ein bisschen über Connys Lieblingsbücher und meine Kollegen und unsere alten WG-Zeiten und gerade als ich denke, dass Conny ein bisschen besser aussieht, donnert es.
„Für heute war doch gar kein Gewitter …“, sage ich, und werde vom Blick aus dem Fenster unterbrochen, hinter dem weiter friedlich die Sonne scheint.
Conny ist aufgesprungen.
„Bleib hier“, sagt sie, und verschwindet in der Küche.
Ich bleibe sitzen und trinke meinen Tee aus, aber dann wird es mir zu blöd, und ich folge ihr.
Ich sehe, dass aus Connys Küchenwand ein Füllhorn ragt, und dass darunter ein großer Erdhaufen liegt. Ich sehe, dass Conny am offenen Fenster steht und wie verrückt mit einem Geschirrtuch wedelt. Und ich sehe etwas, für das mein Gehirn verzweifelt nach einer rationalen Erklärung sucht, bis ich aufgebe und akzeptiere, dass es sich wirklich um winzige geflügelte Babys handelt.
„Was war in dem Tee?“, frage ich.
Conny schlägt weiter nach den schwirrenden Dingern und antwortet nicht. Mir ist ein bisschen schwindlig.
„Conny! Was war in dem Scheiß-Tee?“
„Verbene glaube ich. Keine Sorge, sie sind wirklich da. Aber das sind bloß Parasiten, die braucht man nur rauszuscheuchen“, sagt Conny. Sie vertreibt das letzte der kleinen Wesen und schließt das Fenster, greift sich den Handfeger und wendet sich dem Erdhaufen zu, der ihr bis zum Knie reicht.
„Sind die immer da drin?“, frage ich.
Da fängt Conny an zu weinen.
Wir reden lange.
„Du musst das abbestellen“, sage ich immer wieder.
Conny hat sich inzwischen halbwegs beruhigt, aber jedes Mal, wenn ich das sage, zuckt sie zusammen und wirft einen ängstlichen Blick auf das Füllhorn. „Ich kann nicht.“
„Na klar kannst du. Das ist auch nur ein Vertrag, den kann man kündigen“, sage ich.
„Den Leuten, die es abbestellen, passiert etwas“, sagt sie. „Die Frau, die mir das Faltblatt gegeben hat, ist weg. Und der Jan Schneider, erinnerst du dich? Der ist schon seit Monaten verschwunden.“
Ich würde gern darüber lachen, so wie über ihre Mondkalenderphase. Leider habe ich die fliegenden Babys mit eigenen Augen gesehen. Und wer sich nicht an die Naturgesetze hält, wird wahrscheinlich auch andere brechen. Aber so kann es auf keinen Fall weiter gehen. Früher oder später wird es Conny kaputt machen.
„Bestell es ab“, sage ich. „Du hast selbst gesagt, sie sind böse. So was kannst du doch nicht unterstützen.“
Das Argument zieht natürlich bei ihr. Ethischer Konsum.
Ich rufe sie jeden Tag an, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht. Und es scheint so, als würde sie sich nach der Entscheidung viel besser fühlen. Aber es kommt der Tag, an dem sie nicht abnimmt.
Ich habe noch den Schlüssel, weil ich immer ihre Pflanzen gieße, wenn sie mal weg fährt.
Ihre Wohnung ist leer und riecht seltsam. Also, seltsamer als sonst.
In der Küchenwand ist ein Loch.
Ich will das nicht tun. Ich will mich nicht mit etwas anlegen, das ich nicht verstehe. Aber was soll ich denn sonst machen? Irgendwas vor das Loch stellen und so tun, als wäre nichts passiert?
Zu meiner Erleichterung passe ich nicht durch die Öffnung. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als einen anderen Weg zu suchen.
Ich klappe Connys Laptop auf, ihr Passwort ist zum Glück noch dasselbe wie früher. Die Rübezahlgenossenschaft hat tatsächlich eine Internetseite. Hauptsächlich dasselbe Zeug wie auf dem Faltblatt, Respekt vor der Natur, zurück zu den Wurzeln und den Wurzelgemüsen. Ein paar Rezepte, ein paar verschwommene Fotos, kein richtiges Impressum. Aber es gibt eine Karte. Also gibt es auch einen anderen Weg.
Als ich gerade die Wohnung verlassen will, fällt mein Blick auf etwas in Connys Regal. Sie hat beinahe mehr Krimskrams als Bücher da drin. Dieses rostige alte Ding ist wahrscheinlich ihr ältestes Sammelobjekt, das hatte sie schon zu unseren WG-Zeiten. Nicht einmal Conny hat wirklich dran geglaubt, dass es Glück bringt, aber aufgehoben hat sie es trotzdem. Ich stecke es ein, obwohl es meine Tasche ausbeult.
Es ist eine lange Strecke. Käme ich schneller voran, wären es gut zwei Stunden, aber das würde voraussetzen, dass nicht ständig einer dieser verdammten Trecker vor mir herfährt, und immer so, dass ich nicht überholen kann. Es wird wohl eher eine Vierstundenfahrt. Regionaler Anbau am Arsch.
Endlich biegt der Trecker ab, aber ganz allein auf der Landstraße fühle ich mich erst recht nicht wohl. Es ist auf einmal so neblig, das gehört sich für diese Jahreszeit gar nicht.
Im Nebel könnten die Bäume am Straßenrand alles Mögliche sein. Aber das handgemalte Holzschild, das den Weg zum Rübezahl weist, ist ganz klar zu erkennen.
Ich folge einem staubigen, holprigen Feldweg, bis ich nach ein paar Minuten das Auto stehen lassen muss, weil es kaum noch vorwärts kommt.
Unsicher bewege ich mich auf etwas zu, das vielleicht ein Hof ist. Und plötzlich ist jemand hinter mir.
„Du gehörst nicht hierher“, sagt eine hohe, melodische Stimme.
Ich drehe mich um.
Mein Gegenüber ist zwei Köpfe kleiner als ich, aber sie macht mir eine Scheißangst. Alles in ihrem Gesicht ist so zugespitzt – Kinn, Ohren, Augenbrauen.
Und Zähne nicht zu vergessen.
„Ich will auch gar nicht hier sein“, sage ich. „Ich hole nur jemanden ab.“
„Wen denn?“, fragt sie mit schief gelegtem Kopf. Die Idee scheint sie zu amüsieren.
„Meine Freundin, Cornelia Seidel.“
Jetzt verschwindet der Nebel, so schnell wie er aufgetaucht ist. Ich sehe ein Feld, und etwa zwanzig Menschen, die darauf arbeiten. Sie sind bleich und hohlwangig und haben den Blick starr auf den Boden gerichtet. Anscheinend bemerken sie gar nicht, dass ich hier bin. Sie ist dabei, ganz hinten in der Reihe.
„Conny!“, rufe ich.
„Sie hat einen Vertrag mit uns geschlossen“, sagt das kleine Miststück neben mir. „Sie kann nicht einfach gehen. Aber du kannst ja hier bleiben und ihr Gesellschaft leisten.“
„Nein danke“, sage ich.
„Wir könnten ein Spiel spielen“, schlägt sie vor. „Wenn du mir sagen kannst, wie viele Rüben auf dem Feld sind, darfst du sie mitnehmen.“
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Pflanzen auf dem Feld keine Rüben sind.
„Lasst sie einfach gehen. Ihr habt kein Recht, sie hier festzuhalten.“
Das kleine Gesicht der anderen verzerrt sich, und ich fühle eine Art elektrisches Knistern in der Luft. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, faucht sie.
„Die neue Elfenbeauftragte“, sage ich, und ziehe ihr das Hufeisen aus Connys Regal über den Schädel.
Einen Moment lang finde ich mich ziemlich toll. Dann wird mir bewusst, dass ich nicht in einem Actionfilm lebe, und dass es hier wahrscheinlich noch mehr von ihnen gibt.
Vielleicht lag es wirklich am Eisen, aber vielleicht auch nur am Überraschungseffekt. Wir müssen hier weg.
„Conny!“ schreie ich noch mal, aber sie reagiert überhaupt nicht, und als ich zu ihr renne und sie hinter mir herziehe, sagt sie: „Ich kenne niemanden, der so heißt, lassen Sie mich in Ruhe.“
Sie folgt mir trotzdem zum Auto. Ich drücke ihr das Hufeisen in die Hand, um starten zu können, und obwohl ich halb damit gerechnet habe, dass der Motor nicht anspringen oder der Auspuff mit fliegenden Babys verstopft sein würde, funktioniert es. Bald fahren wir auf einer ganz gewöhnlichen Straße, vor uns ein ganz gewöhnlicher Trecker.
Conny schweigt, während ich vor mich hin fluche.
Schließlich sagt sie: „Das klingt vielleicht komisch, aber erinnere mich gar nicht, wie ich hierher gekommen bin. Was ist denn passiert?“
Mir fällt keine Antwort ein, die nicht komisch klingen würde. „Du hast das Füllhorn abbestellt“, sage ich.
„Ah“, sagt sie. „Das ist gut, oder?“
Ich lächle sie an. „Ja, das ist gut. Ich fahr dich nach Hause.“
Dort angekommen, steht sie eine Weile herum, als wäre sie noch nie in dieser Wohnung gewesen. Aber das ist kein Wunder, denke ich, ich fühle mich selbst ganz eigenartig. Irgendwie ist alles zu glatt gelaufen.
„Du hast da was“, sage ich, nur um etwas zu sagen, und zupfe ein kleines grünes Blatt aus Connys Haaren.
„Aua“, sagt sie.
„Vielleicht willst du ein Bad nehmen und dich erst mal ausschlafen?“, frage ich.
Sie nickt bloß.
Bestimmt geht es ihr morgen schon viel besser, denke ich, als ich mich verabschiede. Aber am nächsten Tag sieht sie schlimmer aus, richtig eingefallen.
„Morgen schaffe ich es vielleicht nicht, vorbeizukommen“, sage ich. „Da ist ziemlich viel los. Ich rufe aber auf jeden Fall an, okay?“
„Okay“, sagt Conny leise.
„Wir sollten uns darum kümmern, dass das Loch weg kommt“, sage ich.
„Ja“, sagt sie.
Als ich am nächsten Tag anrufe, nimmt sie nicht ab. Verdammt noch mal! Ich weiß, es ist spät geworden, aber sie kann mich doch jetzt nicht einfach hängen lassen, nach allem, was passiert ist.
Ich fahre zu ihr, ist mir egal, wie spät es ist. Mit Klingeln halte ich mich gar nicht erst auf.
Irgendwas sagt mir, dass sie nicht aufmachen wird.
Ich sehe zuerst in der Küche nach. Das Loch ist weg, die Wand sieht aus wie neu. Aber der Boden ist voller Lehm, und etwas, das aussieht wie Glitzerstaub.
Conny ist nirgendwo zu finden.
Aber in ihrem Bett liegt eine kleine, verschrumpelte Rübe mit welken Blättern.