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Zuckerbrot und Peitsche

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13.02.2008
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Zuckerbrot und Peitsche

„Wir machen das hier Zuckerbrot und Peitsche. Du Zuckerbrot, ich Peitsche“, entscheide ich und komme einen Zentimeter vor der Garagentür zum Stehen.
Jule sitzt auf der Beifahrerseite wie ein Dummy vorm Crashtest.
„Kann ich nicht lieber das Auto bewachen?“
„Nein, heute müssen wir zusammenhalten.“
Der Garten hinter dem grünlackierten Eisentor liegt seit Jahren wild, Löwenzahn zwischen den Pflastersteinen und mehrere Kilo Haselnüsse im Gras. Das Plastikkitz mit den roten Augen hat sich einen Moospelz wachsen lassen. Am Wegesrand sammeln wir noch ein paar späte Erdbeeren. Zwei Minuten Aufschub sind besser als nichts.
Vorsichtig steige ich die glatten Stufen hinauf. Sie haben mir schon als Kind Angst eingejagt. Die Vision: offene Brüche und Hirnfetzen am Rauputz der Hauswand. Mittlerweile haben sich einige Steinfliesen gelockert und ich verfluche meine hohen Absätze. Jule schleicht auf rutschsicheren Sneakern hinter mir her.
Er steht schon in der Tür, hat mein Auto gehört und seine Töchter sicher vom Fenster bei der Erdbeerlese beobachtet. Als ich ihn umarme, fühlt er sich noch immer stark an. Nur die Beine werden immer spindeliger, am linken ist der Puls kaum noch messbar. Deshalb sollte ein Stent eingesetzt werden. In letzter Minute entschied Papa sich jedoch um, floh im wehenden OP-Kittel. Er wollte es erstmal mit einer Knoblauchkur probieren. Das Bein habe sich seither deutlich gebessert, hat er schon am Telefon gelogen.
„Schön, dass ihr da seid“, sagt er und stakst voran in die Küche.
Dort schiebe ich ungeöffnete Briefe beiseite, verfrachte Zeitungsstapel und randvolle Aschenbecher auf die Arbeitsplatte, um die Bank frei zu räumen. Jule taucht derweil in die Tiefkühltruhe, bis sie etwas hervorzerrt, das sich wie ein Kuchen ausnimmt. Schwer zu sagen, was sich wirklich unter den Verpackungsschichten verbirgt. Wenn wir Pech haben, ist es nicht Buttercreme mit Streuseln, sondern ein Barren Kopfsülze.
Dann sitzen wir Knie an Knie auf unserem Kinderbänkchen und beobachten Papa beim Kaffeekochen. Unter den Polstern ist die Bank aufklappbar. Als ich zum letzten Mal hineingeguckt habe, auf der Suche nach Schleifen für eins meiner Kostümprojekte, lagen darin Häkeldeckchen, Margarinenbecher und Gummibänder.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches steht der Armlehnenstuhl. Ein verfilztes Strickkissen liegt darauf, jahrelang plattgesessen. Dort hat Oma gewohnt.

Als Kinder stritten Jule und ich uns darum, wer Oma kämmen durfte, während sie auf dem Armlehnenstuhl thronte. Wir fingen unten an, wo ihre arschlangen Haare dünn ausliefen. Dort konnte man sich noch vorstellen, es seien die dunklen Locken einer Prinzessin – bis wir uns weiter nach oben bürsteten, zu den grauen Strähnen und den fleischigen Ohrläppchen, die weich waren und mit viel Flaum daran, wie Pfirsiche, die man im Schulranzen vergessen hatte. Wenn wir am Scheitel angekommen waren, wo das Haar flach und ölig lag, drehte Oma ihren Zopf zu einem überraschend kleinen Knoten und setzte eine Perücke darauf. Sie hatte viele Perücken, alle mit kurzen Locken, aber in unterschiedlichen Brauntönen, je nach Jahreszeit. Wenn Oma die nicht gerade auf ihrem Knötchen trug, saßen sie auf Styroporköpfen ohne Augen vor dem Schlafzimmerspiegel. Manchmal, wenn Mama uns am Sonntagabend abholen kam und sich noch auf einen Kaffee an den Küchentisch setzte, sagte sie, ein echter Kurzhaarschnitt wäre womöglich praktischer als arschlange Haare mit einer Kurzhaarperücke obendrauf. Doch das kam für Oma aus Bibelgründen nicht in Frage, zumindest nicht bis zum ersten Schlaganfall.

Jule versucht, mit dem Käsemesser Scheiben vom gefrorenen Kuchen zu säbeln. Weil ich nicht hinsehen und Jule das Messer auch nicht wegnehmen kann, ohne dass sie es als Entmündigung anprangern würde, gehe ich Sprudel holen. Den Flur zum Wasserkasten in der Stube hat Papa in einen Tunnel mit Wänden aus Computerlaufwerken verwandelt. Hier müsste man auch mal einen Stent einsetzen, oder wenigstens mal eine Knoblauchknolle hindurchwerfen. Doch Papa hat einfach Bettlaken und Teppiche über die Geräte gehängt, damit es schöner aussieht. Als er mit dem Zubauen anfing, habe ich geschimpft, wegen der Oma, die doch seit dem Schlag eh nicht mehr gut laufen konnte. Aber er hatte ihren Rollator ausgemessen, links und rechts sogar noch fünf Zentimeter Manövrierspielraum draufgeschlagen. Auch als er die Laminatfalttür zur Stube zuzog und das angrenzende Esszimmer zum Verkaufsraum für seine auf- und umgerüsteten Schrottcomputer machte, hatte ich keine Chance. Wenn ich mit Oma allein war, klagte sie über den annektierten Empfangsraum, die Unzugänglichkeit des guten Porzellans. Wenn ich Papa vor ihr zur Rede stellte, fand sie ein Esszimmer eigentlich überflüssig und Gäste sowieso eher lästig. Zum Schluss blieben ihr so nur die Küche und die Stube, in der sie schlief und fernsah, wenn sie sich nicht gerade vor Elektrosmog fürchtete.

Früher nähte Oma in der Stube mit uns Stoffschweine und häkelte Ringelschwänze dazu, während Papa in der Garage an den Enten seiner Kunden schraubte. In der Küche kochte sie tolle Sachen: Rindsrouladen mit dicker Soße und Kartoffelknödeln, die elastisch wie Flummis waren, aber nicht so verwendet werden durften. Oft holte sie fünf Hähnchen vom Markt, zerknackte ihre Wirbelsäulen, Beine und Rippen mit der Geflügelschere, um sie dann dicht an dicht auf ein Backblech zu ordnen. Wenn die Hähnchenteile endlich fertig waren, durfte nichts verschwendet werden. Das Bratfett wurde über die Kartoffeln gegossen. Sobald wir aufgegessen hatten, sammelte Oma unsere Knochen auf ihren Teller, nagte Sehnen und Knorpel ab und brach schließlich die Röhren auf, um das Mark herauszusaugen. Wir schüttelten uns, schrien „pfui“ und „bäh“, wenn sie so schmatzte und mit beiden Händen zugriff. Nach dem Abräumen wurden die übriggebliebenen Hähnchenteile in Margarinendosen gelegt, die in Gefrierbeutel gesteckt wurden, die doppelt zugeknotet und ihrerseits in Einkaufstüten verpackt wurden. „Damit die Beinchen nicht davonlaufen“, sagte Oma. Die meisten Beutelpakete wurden eingefroren, damit man bei Gelegenheit Mikrowellenschenkel machen konnte, die innen oft gefroren blieben. Zwei Beutelpakete mussten wir aber mit nachhause nehmen, weil Mama nie anständig kochte.

Jule verteilt Kuchenfetzen auf Kristallteller, und Papa stellt die Kaffeekanne auf die Wachstischdecke. Dann setzt er sich vor Kopf und beginnt, eine Zigarette zu drehen. Früher übernahm Jule das oft für ihn. Ihre Zigaretten waren rund und schön, meine immer platt, mit viel Spucke am Papier. Die mochte er nicht rauchen. Vor ein paar Monaten haben Jule und ich die jahrzehntealte Blümchentapete überstrichen und Nikotinschmier von Fensterrahmen, Hängeschränken und Tür gewaschen. Danach habe ich Papa das Rauchen im Erdgeschoss verboten – der Oma zuliebe, die sich nie traute, etwas zu sagen. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich daran halten würde, aber er tat es. Und jetzt darf er hier meinetwegen wieder alles zuqualmen.
Jule hustet ein paar Mal und wedelt die Schwaden weg. Ich muss sie unter dem Tisch kneifen, damit sie aufhört mit ihrem Getue. Darum geht es uns heute nicht.
Früher war es Jule, die mich unter dem Tisch kniff und piekte, bis ich ihr über dem Tisch an den Haaren zog und dafür von Papa ausgeschimpft wurde, der sie nie durchschaute. Bei Oma war das anders, die langte eines Tages über den Tisch und verpasste Jule eine echte Ohrfeige, die uns beide zum Heulen brachte. Als wir Mama die Ohrfeige petzten, sagte Oma, sie habe Jules Wange nur gestreichelt. Wir waren erschüttert: Oma log. Was würde der liebe Herr Jesus dazu sagen?

Oma hatte einen guten Draht zum lieben Herrn Jesus. Er sprach zu ihr, riet ihr etwa aus der evangelischen Kirche auszutreten, weil diese bald von den Katholiken übernommen würde. Einmal platzierte er sogar ein Atkins-Diätbuch so geschickt neben dem Altpapierkontainer, dass sie es finden und damit all ihre Gebrechen heilen konnte. Und nichts war ihm zu gering, darin seine Fürsorge zu offenbaren, und sei es bloß, dass sie den Knopf wiederfand, der ihr beim Bücken von der Bluse gesprungen war. Ein Leben lang hatte der liebe Herr Jesus seine schützende Hand über Oma gehalten.
Als Jule und ich noch in ein Bett passten, las Oma uns immer aus der Bibel vor. Sie versuchte zu erklären, warum Abraham Isaak wie ein Vieh auf den Opfertisch gebunden hatte: aus reiner Liebe und demütigem Gehorsam. Der barmherzige Samariter blieb Jule und mir dennoch lieber, und natürlich der liebe Herr Jesus, der uns von allen Wänden herab gütig anlächelte, weil er Kinder so gern hatte. Über unserem Bett stand er umringt von Schäfchen. Und das Lamm, das er auf dem Arm trug, war Jule, und das etwas größere Lamm, das mit der Nase in seine Tasche stupfte, das war ich. Und wenn Gott vielleicht einmal keine Lust gehabt hätte, uns am Morgen zu wecken, wäre das kein Problem gewesen, weil wir sofort an der Hand des lieben Herrn Jesus in den Himmel aufgefahren wären. Nur Mama würden wir dort nicht treffen. Das tat der Oma selbst schrecklich leid, uns das sagen zu müssen, aber ohne den lieben Herrn Jesus an der Hand konnte man nunmal nicht fliegen. Mama schimpfte sehr mit Oma als sie ihre rotäugigen Kinder am nächsten Morgen in Empfang nahm.

Sehr viel später erfuhr ich von einer entfernten Großtante, dass Oma sich in einem Wandschrank versteckt hielt, als sie noch nicht die Oma war, sondern ein ostpreußisches Mädchen, das Trudchen hieß. Im selben Raum erschossen russische Soldaten währenddessen ihre Mutter und ihren Bruder. Monate später brachte Trudchen ein Kind unbekannten Namens und Geschlechts zur Welt, das von einem unbekannten Russen gezeugt worden war. Die Ankunft im Westen erlebte es nicht mehr. Und so gebar Trudchen dem Fremden, der mit dem Namen ihrer ersten großen Liebe aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte, ihr zweites erstes Kind, meine Tante. Dann folgte Papa und die Familie richtete sich ein. Der Vater auf dem Platz vor dem Fenster, die Mutter auf dem Armlehnenstuhl, die Kinder auf der Bank.
Ein gemeinsames „Kommherrjesusseiduunsergastundsegnewasduunsbescherethast“ über den sonst stillen Mahlzeiten. Als der Vater eines Tages vom Stuhl kippte, änderte sich eigentlich nichts. Nur der Platz am Fenster blieb leer und der Herr Jesus war jetzt nicht mehr Gast sondern Familienoberhaupt. Und er sperrte seine Kinder zu ihrem eigenen Besten in den Spinnenkeller, wenn sie statt der Bibel Westernheftchen lasen.

An der Fotowand hängt ein Sepiapapa mit kurzen Hosen und knubbeligen Knien. Der aktuelle Papa darunter erscheint kaum farbiger.
„So, was ist der Plan?“
„Welcher Plan?“, fragt er.
Jule setzt sich auf, hat ihren Einsatz erkannt. „Na, wir dachten, du würdest dir jetzt vielleicht eine kleine Wohnung nehmen wollen. Weniger zu putzen, weniger Gartenarbeit, ein Balkon vielleicht. Das könnten wir sicherlich sehr hübsch machen.“
Als ich sehe, wie er Luft schnappt, setze ich nach: „Also hier kannst du wirklich nicht bleiben. Das Haus ist viel zu groß und zu teuer. Da muss so viel gemacht werden. Du musst doch Johannes auch seinen Erbteil auszahlen. Du bekommst ja nicht mal Rente.“
„Ich habe eine bessere Idee“, verkündet Papa.
Jule rollt die Augen, und ich versuche, ein offenes Gesicht zu machen. „Ach ja?“
„Du könntest das Haus kaufen.“
Ich huste ein paar bunte Streusel. „Ich?“
„Du wolltest doch ein Haus kaufen. Du und Josch, ihr habt doch gespart.“
„Ja, aber doch nicht dieses Haus.“
„Jetzt lass mich doch erstmal aussprechen. Das ist eine gute Wohngegend hier, mit vielen jungen Familien. Und es wäre sehr praktisch. Ihr könntet unten einziehen und ich würde oben bleiben. Ich kann auch auf Paul aufpassen, wenn ihr arbeitet. Und wenn ich dann tot bin, hättet ihr das ganze Haus. Jule müsste natürlich unterschreiben, dass sie ihren Erbteil abtritt, wenn ihr schon das ganze Geld reinsteckt.“
„Mach ich sofort“, sagt Jule und lehnt sich zurück.
Jetzt passt es ihr natürlich wunderbar, dass sie von Praktikum zu Volontariat zu Schwangerschaftsvertretung hüpft, von Klappsofa zu Luftmatratze. Mit ihren schmalen Schultern und dem hohen Pferdeschwanz wirkt sie noch immer wie ein zwölfjähriges Mädchen. Dafür sah ich schon mit fünfzehn aus wie die Mutter, die ich heute bin. „Was zum Anpacken“, sagte Papa. „Monstertitte“, riefen die Jungs auf der Straße.
„Paul geht aber am anderen Ende der Stadt zur Schule“, sage ich, „das liegt jetzt fünf Minuten von zuhause und genau auf dem Weg zur Arbeit.“
„Der kommt doch nächstes Jahr eh auf die Weiterführende“, wirft Jule ein und versenkt den fünften Zuckerwürfel in ihrer Kaffeetasse.
Ich will ihr unterm Tisch vors Knie treten und überm Tisch an den Haaren ziehen. Stattdessen überlege ich angestrengt, lasse es aussehen, als ließe ich mir die Sache ernsthaft durch den Kopf gehen, als suchte ich nur noch die richtigen Wandfarben aus. Doch weil mir keine gute Lüge einfällt, sage ich schließlich die halbe Wahrheit: „Aber das Haus ist ... schlimm. Das müsste man doch quasi abreißen und neu bauen. Die Heizung ist hundert Jahre alt, die Bäder ... Ich will nicht hier wohnen.“
Papa schüttelt den Kopf und macht böse Schlitzaugen. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, was passiert, wenn du mir Stress machst.“

Manchmal ging Papa mit uns zum Bärenloch, wo wir Stichlinge und Kaulquappen fingen, um sie zuhause ins Aquarium zu setzten. Wenn die Stichlinge es nicht schafften, alle Kaulquappen rechtzeitig zu fressen, ließen die sich Beinchen wachsen, mit denen sie aus dem Aquarium heraussprangen. Dann fanden wir sie Wochen später als knistrige Lederfrösche hinter der Heizung.
Manchmal machten wir auch Radtouren zur Burg und kochten dort Hühnersuppe auf einem wackeligen Gasbrenner, die gute mit den Muschelnudeln, die sich von unten an den Löffel und an den Gaumen napften. Abends zeigte Papa uns dann, wie er die Hühneraugen auf seinen Zehen mit Gift einpinselte, und wir grausten uns freudig.
Aber es gab auch andere Wochenenden, Wochenenden, an denen wir von morgens bis abends vor dem Fernseher saßen und Zöpfe in den Flokati flochten, an denen wir uns bis aufs Blut stritten, während Papa tage- und nächtelang Siedlungen auf seinem Computer baute. Nur zu den Mahlzeiten in Omas Küche machte er Pause: um neun, um halb eins, um drei und um sechs.
Als ich dreizehn und Jule zehn war, fuhren wir das letzte Mal mit ihm in den Urlaub. Dort angelten wir Sardellen, die vor Schreck starben, noch bevor man ihnen mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf hauen konnte. Aber es war eine schwierige Zeit. Papa hatte Angst, dass ihm die deutsche Polizei wegen der schwarzen Entenbastelei über die Grenze gefolgt sein könnte, Jule hatte eine hysterische Phase, und ich schwieg mich in eine perfekte Einsamkeit hinein. Da lernte Papa die Frau im Nebenzelt kennen, die weder schwieg noch kreischte. Um mit ihr im Zelt allein zu sein, halste er uns ihr fünfjähriges Kind auf, „zum Spielen“, wie er sagte. Also spielten Jule und ich zum ersten Mal in diesem Sommer einträchtig, vergruben den bleichen Jungen bis zum Hals im Sand und ließen ihn so allein am Strand zurück. Als andere Camper das verrotzte Kind zum Platz zurückbrachten, heulte Papa laut und nass vor allen Leuten, weil er Töchter wie uns nicht verdient hatte.
Auf der Rückreise, als wir im heißen, verqualmten Auto saßen und die Fenster nicht öffnen durften, wegen der Aerodynamik und weil Papa sonst Zug im Nacken bekam, fragte er uns freundlich: „Und? Wie fandet ihr den Urlaub?“
„Saudoof!“, schrie Jule und trat von hinten gegen seinen Sitz.
Da tat Papa mir leid, weil er doch mit teurem Benzin so weit gefahren war und sich Mühe gegeben hatte. Und so log ich: „Also ich fand’s schön.“
Er drehte sich nicht zu uns um, als er antwortete: „Also ich fand’s auch richtig scheiße. Mir geht’s eh nicht gut im Moment, da habe ich euch mitgenommen, um mich aufzumuntern. Jetzt geht’s mir dank euch noch viel beschissener. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so egoistisch sein könnt.“
Eine Woche später besuchten wir ihn im Krankenhaus, wo er zur Erholung hingegangen war. Er konnte nicht richtig sprechen und als er über dem Nachtisch einschlief, aß Jule seinen Milchreis auf.

Ich versuche, nicht zu klingen, als säße mir ein Lederfrosch in der Kehle. „Papa, es geht nicht um mich. Es geht um dich. Ich mache mir Sorgen. Was ist denn so schlimm daran, in eine perfekt renovierte Wohnung zu ziehen? Es ist doch besser, das jetzt alles ruhig und gemütlich zu organisieren, statt auf die Zwangsversteigerung zu warten.“
Er schnaubt. „Eine Wohnung! Du bist witzig. Ich brauche Platz. Wo soll ich denn hin mit meinen Sachen?“
Ich drehe mich zu Jule um, damit sie noch ein bisschen Zuckerbrot nachlegt, doch sie kneift nur Muster ins Wachs der Tischdecke und schweigt.
„Die müssten wir dann halt mal aussortieren“, sage ich. „Das belastet ja auch. So viele Dinge. Die brauchst du doch bestimmt nicht alle.“
Papa schwitzt und zittert. „Ich will aber verdammt nochmal nicht ausziehen!“, brüllt er und haut auf den Tisch, dass das Käsemesser zu Boden fällt. „Begreifst du das nicht? Ist das zu viel verlangt, dass du einmal auf meiner Seite bist? Dass meine eigene Tochter auch mal was für mich tut?“
In mir schnurrt etwas zu einem harten Knoten zusammen, nicht wie eine Schnecke, der man zu oft auf die Fühler getatscht hat, sondern wie ein Staubsaugerkabel, wenn man auf den Einzug tritt und aufpassen muss, dass einem der Stecker nicht ans Schienbein peitscht. Ich muss raus, quetsche mich zwischen Tisch und Bank hindurch und schere mich nicht darum, dass ich dabei Papierstapel vom Beistelltisch fege. „Gut, dann warten wir jetzt einfach noch ne Weile, bis das Bein ab ist, bis du mit dem Rollstuhl nicht mehr die Treppe rauf kommst und in deinem Scheißtunnel steckenbleibst. Dann stopf ich dich in eine Zwangsjacke, roll dich raus und ruf ein Entrümpelungskommando.“
Jule und Papa glotzen mich an. Noch nie sahen sie einander so ähnlich. Vier grüne Augen sehen zu, wie ich meine Jacke vom Garderobenständer rupfe. Mit schweren Omamänteln behängt, beginnt er zu schwanken und ich kann ihn gerade noch abfangen, bevor ich unter Persianern begraben werde. Dann schleudere ich meine Schuhe von den Füßen und stopfe sie in die Handtasche.
„Und wenn du nicht mit dem Taxi nach Hause fahren willst, würde ich dir empfehlen, jetzt deinen Arsch zu bewegen“, rufe ich Jule noch zu und verlasse das Haus.
Was ich bei meinem Abgang nicht bedacht habe, ist, dass die Außentreppe auf Feinstrumpfhosen tatsächlich noch glitschiger ist als auf hohen Hacken. Ich eile über die erste Stufe, fitsche über die zweite und stürze über die dritte. Vor allem habe ich überraschend viel Zeit, meine Vision auszubauen: offene Brüche, Hirnfetzen am Rauputz, Josch wirft eine weiße Lilie in mein Grab, obwohl er wissen müsste, dass ich die nicht leiden kann. Dann lande ich auf allen Vieren und erinnere mich daran, wie fies Schürfwunden wirklich brennen. Doch was mich aufheulen lässt wie einen Cartoonkojoten, ist nicht der Schmerz, sondern die Demütigung. Hilflos rolle ich mich auf die Seite und sehe nach, ob Knochensplitter aus Handflächen und Knien ragen. Aber so viel Drama ist mir dann auch nicht vergönnt.
Papa und Jule stehen in der Haustür und starren vieräugig auf mich hinab.
„Hilfe“, sage ich gereizt.
Da setzen sie sich in Bewegung, krallen sich am Geländer fest und hoppeln in einer ungelenken Mischung aus Eile und Vorsicht zu mir hinunter.
„Kannst du deine Beine bewegen?“, fragt Jule.
„Du bist aber auch immer ungeschickt“, sagt Papa. Dann kratzt er mich zu einem handlichen Menschenpaket zusammen und hebt mich hoch.
„Lass mich runter! Du bringst uns beide um!“, zetere ich, während er mich die heimtückische Treppe hinaufträgt. Aber sein Griff und sein Schritt sind fest.
„Wo willst du hin?“, frage ich, als er versucht, sich mit mir durch den Computertunnel zu fädeln.
„Na, in die Stube, aufs Sofa“, antwortet er zwischen zwei Schnaufern.
Da trommele ich mit den Fäusten auf seinen Rücken. „Bist du bescheuert? Die Oma lag da sechs Stunden, bevor du sie gefunden hast. Lass mich jetzt runter! Ich kann selber laufen, verdammt nochmal!“
„Dann leg dich oben auf die Couch. Ich hab den Verbandkasten in meinem Zimmer.“
Die Treppe in die erste Etage ist tatsächlich kein Problem. Das wird erst kommen, wenn sich Krustenpanzer um meine Knie geschlossen haben. Doch zur Sicherheit läuft Jule hinter mir her. Oben wischt sie sich ein bisschen Wasser aus den Augen. „Ich hab mich nur erschreckt.“
Wir bahnen uns einen Weg durch Angelruten, Sportbögen und Waschmaschinenkartons, auf die Papa Zielscheiben geklebt hat. Jule zieht den Flokati auf der Couch glatt, bevor ich mich hinlege. Über mir an der Schräge hängt die Jutepinnwand, darauf unsere Kinderkunst: das Bild mit dem Haus, in dessen Fenster Jule zehn ihrer hundert selbstklebenden Schulporträtfotos gepappt hat, mein Origamikrokodil, eine Maus aus versteinerten Marshmallows. Jule hockt an meiner Seite und streicht mir das Haar aus der Stirn, während Papa im Zimmer nebenan offenbar ein paar Schränke umwirft.
Ich schließe die Augen und denke an das rotäugige Kitz, das im Garten auf der Nase liegt, an die Häkeldecken im Kinderbänkchen und den lieben Herrn Jesus mit seinen Schäfchen über dem Bett. Und ich weiß, dass Papa nicht ausziehen kann, weil er an noch viel mehr Dinge denkt. An die Ententeile, die im Keller bis zur Decke gestapelt sind und für jeden Sammler ein echter Schatz wären: Rückbänke, Kotflügel und Stoßstangen. An die 95er Computer und Röhrenbildschirme, die nicht nur im Erdgeschoss, sondern auch in unserem ehemaligen Gästezimmer darauf warten, dass er sie irgendwann zusammenbastelt und verkauft. Er denkt an den großen Zeichentisch in seinem eigenen Kinderzimmer, den er zu Beginn seines Ingenieurstudiums gebraucht kaufte, und daran, wie erst Oma, dann Mama, dann Jule und ich, dann eine lange Reihe stressiger Freundinnen ihn vom Studieren abhielten, bis er außer dem anonymen Prüfungsamt niemanden mehr fand, der schuld sein konnte, und sich mit fünfzig im sechzigsten Fachsemester exmatrikulieren ließ. Und er denkt an die Bastelarbeiten seiner Schwester Christel: Makrameeeulen und staubige Blumengestecke, die Bilder, die sie malte, bevor sie den einjährigen Johannes bei ihrer Schwiegermutter absetzte und selbst vor einen Lastwagen sprang, weil sie spürte, dass eine neue Welle auf sie zurollte. Es waren die gleichen Wellen, die ihn selbst wieder und wieder von den Füßen rissen. Manchmal gelang es ihm, auf ihnen zu reiten, mit Gischt im Vollbart durch ein Leben voller Möglichkeiten zu surfen. Da spielte er spanische Gitarre, züchtete Cannabis unter Infrarotlampen, reiste im Entenkonvoi nach Italien, liebte meine Mutter und gründete Initiativen, die eines Tages die Waffenindustrie, das Militär und die Polizei abschaffen würden. Doch dann schlugen die Wellen über ihm zusammen, wirbelten ihn im Kreis und spuckten ihn schließlich mit zerschundener Seele in sein Elternhaus zurück. Wieder und wieder entkam er. Wieder und wieder fand er sich an der Wachstischdecke, die Füße unter dem mütterlichen Tisch, das gebeugte Haupt unter den wachsamen Augen des lieben Herrn Jesus.
Mama erzählte mir von seinem letzten Ausbruchsversuch: An diesem Tag kurz nach Jules Geburt stach er Oma das Käsemesser mit der Doppelspitze in den Rücken. Er wollte nachsehen, ob sie ihr Herz wirklich am rechten Fleck trug, wie sie immer behauptete. Da rief sie den lieben Herrn Jesus an: „Nimm mich zu dir, Herr, ich bin bereit zu sterben!“ Doch so sollte es nicht sein. Sie hatte eine dicke Haut und blutete nur ein paar Tropfen. Und so lebten Papa und Oma fortan unter einem Dach und er begann, sich dort mit ihr einzumauern.

Papa rumort noch immer in seinem Zimmer und ich muss ein bisschen heulen. Da hakt Jule ihren kleinen Finger in meinen. „Wir machen das schon.“

 

Hey Feirefiz,

In letzter Minute entschied Papa sich jedoch um, floh im wehenden OP-Kittel.
:D
Sonntagabend abholen kam und sich noch auf einen Kaffee an den Küchentisch setzte, sagte sie, ein echter Kurzhaarschnitt wäre womöglich praktischer als arschlange Haare mit einer Kurzhaarperücke obendrauf. Doch das kam für Oma aus Bibelgründen nicht in Frage, zumindest nicht bis zum ersten Schlaganfall.
Tatsächlich. Bei den orthodoxen Juden dürfen die Frauen auch ihre Haare nicht zeigen, deswegen rasieren sie sich die Schädel und tragen dann Perücken. Die Perücken sind dabei aufreizender als ihre echten Haare - so pervertiert man den Sinn.
Jule versucht, mit dem Käsemesser Scheiben vom gefrorenen Kuchen zu säbeln. Weil ich nicht hinsehen und Jule das Messer auch nicht wegnehmen kann, ohne dass sie es als Entmündigung anprangern würde
Ach wie geil. Ich glaube, ich wäre da Jule.
Doch Papa hat einfach Bettlaken und Teppiche über die Geräte gehängt, damit es schöner aussieht.
Was Eltern denken, was alles schön aussieht. Das ist für Leute, deren Eltern nicht so sind wahrscheinlich zum Kreischen komisch. Aber hier, da kann ich nicht lachen, weil ich das furchtbar finde, wenn den Eltern so Sinn für Ästhetik fehlt.
Oma hatte einen guten Draht zum lieben Herrn Jesus. Er sprach zu ihr, riet ihr etwa aus der evangelischen Kirche auszutreten, weil diese bald von den Katholiken übernommen würde. Einmal platzierte er sogar ein Atkins-Diätbuch so geschickt neben dem Altpapierkontainer, dass sie es finden und damit all ihre Gebrechen heilen konnte
Es gibt soviele Zeichen vom Herrn, man muss sie nur erkennen! Es gibt wohl auch unter den ganzen evangelischen Gruppierungen in den Staaten so ein komisches Bibel-Orakelspiel, wo die zu allen möglichen Fragen einfach die Bibel auf eine beliebe Seite aufschlagen, die Augen zuhalten und den Finger auf eine bestimmte Stelle legen und DAS ist dann die Antwort! Genial.
Das tat der Oma selbst schrecklich leid, uns das sagen zu müssen, aber ohne den lieben Herrn Jesus an der Hand konnte man nunmal nicht fliegen. Mama schimpfte sehr mit Oma als sie ihre rotäugigen Kinder am nächsten Morgen in Empfang nahm.
Ich mag die Oma total - also als literarische Figur, die ist toll gemacht, mit ihrem blinden Glauben, ihr kann alles passieren, das ist egal, sie ist der festen Überzeugung, dass sie in den Himmel fahren wird. Und die Mutter tut mir auch ein wenig leid, weil sie gegen diese irrationale Welt keine Chance hat - die ist so der Gegenpol zu Oma, aber die ist auch nur an Wochenenden da und das reicht dann nicht, um die Kinder auf ihre Seite zu kriegen. Höchstens wenn sie erwachsen sind.

Du wirst ja sowieso nix an dieser Geschichte ändern, daher trifft es sich sehr gut, dass ich auch nix zu bemängeln habe. :P

Ernsthaft, das ist eine Geschichte, die ich perfekt finde. Da stimmt einfach alles - die ist auch so dicht geschrieben, mit den ganzen Details und den Nebenhandlungen, man könnte da ewig mit beschäftigt sein, das ist wie so ein Wimmelbild. Das ist genau nach meinem Geschmack, ich liebe diese Wimmelbild-Geschichten. Da wurde einfach an alles gedacht, jeder hat seinen Platz in dieser Geschichte - das ist wirklich toll gemacht und am Ende das mit dem Vater. Der war immer so bisschen undurchschaubar, ich konnte ihn nicht einordnen, aber das Ende klärt ja, wie er an seinen Träumen und Illusionen zerbricht. Es gibt ja diese Menschen, die ihre Träume verwirklichen und man bewundert sie und die erzählen dann auch immer wieder ihre Erfolgsgeschichten und der Rest geht genau daran kaputt, weil er sich da einfach zu viel vorgenommen hat und er hatte jetzt mit der Art von Mutter auch nicht die richtige Stütze. Dann kommen da noch die Frau und die Freundinnen und die Töchter und jeder will ein Stück von ihm haben, dabei ist er schon ausgezehrt. Er leidet richtig. Und er ist da auch dramatisch genug, das zur Schau zu tragen, der schweigt nicht, er sagt auch, dass er leidet. Aber das interessiert irgendwie keinen. Seine Mutter würde ihm vorschlagen zu Jesus zu beten, die Frau sagt wahrscheinlich du musst da aus dem Haus raus und die Tochter sagt, schmeiß das Gerümpel da weg, sie weiß aber nicht, dass das Gerümpel sein Leben ist.
Das Schwesternpaar auch sehr schön gezeichnet, die immer junge Schwester, die noch jünger ist, wenn sie in der Familie ist, die ältere musste gezwungnermaßen die Mutter spielen - es ist auch süß, wenn sie im Auto merkt, dass sie eigentlich scheiße gebaut haben und da lügt sie den Urlaub schön. Die ist da extrem sensibel und einfühlsam, das fehlt Jule total.

Eine außerordentliche Geschichte, aber das weißt du ja.
Ich lese mir jetzt durch, was die anderen dazu gesagt haben.


JoBlack

 

Hey Jo,

das freut mich sehr, dass Du die Geschichte so gut findest, vor allem das Ende, das war ja umstritten.

Bei den orthodoxen Juden dürfen die Frauen auch ihre Haare nicht zeigen, deswegen rasieren sie sich die Schädel und tragen dann Perücken. Die Perücken sind dabei aufreizender als ihre echten Haare - so pervertiert man den Sinn.
Das hab ich auch erst vor ein paar Jahren erfahren. Und ich dachte mir, wie absurd. Der Gedanke ist ja, dass sie keinem Fremden ihr sexy Haar zeigen sollen. Die Umsetzung sieht aber so aus, dass sie draußen mit sexy Perücken und vor ihrem eigenen Ehemann mit Glatze dastehen.

Es gibt soviele Zeichen vom Herrn, man muss sie nur erkennen! Es gibt wohl auch unter den ganzen evangelischen Gruppierungen in den Staaten so ein komisches Bibel-Orakelspiel, wo die zu allen möglichen Fragen einfach die Bibel auf eine beliebe Seite aufschlagen, die Augen zuhalten und den Finger auf eine bestimmte Stelle legen und DAS ist dann die Antwort! Genial.
Meine Oma hat immer Losungsbücher. Da gibt es für jeden Tag im Jahr einen Bibelspruch als Motto. Schätze mal, das wird wirklich ausgelost, welcher, also von Got bestimmt, mein ich.
Man hat schon ein ziemlich gemütliches Leben, wenn Gott immer so auf einen aufpasst.

Es gibt ja diese Menschen, die ihre Träume verwirklichen und man bewundert sie und die erzählen dann auch immer wieder ihre Erfolgsgeschichten und der Rest geht genau daran kaputt, weil er sich da einfach zu viel vorgenommen hat
Von denen erzählt ja auch niemand Geschichten. Deshalb denke ich immer, wenn so erfolgreiche Menschen nach Erfolgstips interviewt werden und sagen "nie aufgeben", "immer wieder aufstehen", ist ja eigentlich Quatsch, denn wer weiß, ob die vielleicht nur Glück hatten. Die die immer wieder aufgestanden und trotzdem immer wieder auf die Fresse gefallen sind, fragt ja niemand.

er hatte jetzt mit der Art von Mutter auch nicht die richtige Stütze. Dann kommen da noch die Frau und die Freundinnen und die Töchter und jeder will ein Stück von ihm haben, dabei ist er schon ausgezehrt. Er leidet richtig. Und er ist da auch dramatisch genug, das zur Schau zu tragen, der schweigt nicht, er sagt auch, dass er leidet. Aber das interessiert irgendwie keinen.
Ich find das interessant wie unterschiedlich der Vater gesehen wird. Ich seh den viel härter, als jemand, der für sein persönliches Unglück immer einen Schuldigen sucht, damit er selbst nichts damit zu tun hat. Aber ich find's gut, wenn auch ein paar Leute auf seiner Seite sind, das zeigt mir, dass ich es irgendwie fair dargestellt habe.

Da stimmt einfach alles - die ist auch so dicht geschrieben, mit den ganzen Details und den Nebenhandlungen, man könnte da ewig mit beschäftigt sein, das ist wie so ein Wimmelbild. Das ist genau nach meinem Geschmack, ich liebe diese Wimmelbild-Geschichten.
Darüber hab ich mich besonders gefreut. ich find das auch cool, wenn man eine Geschichte mehrmals, mit immer neuem Fokus lesen kann und immer wieder neues entdeckt.

Danke für Deinen Kommentar.

lg,
fiz

 

Liebe feirefiz,

puh, da steckt aber ganz schön viel „Peitsche“ in Deinem Text. Dennoch ist sie irgendwie rührend. Deine Geschichte steht ja schon länger in diesem Forum, aber ich noch nicht. ;) Es sind etliche Kommentare geflossen, die ich mir jedoch nicht durchgelesen habe.

Diese bittersüße Kurzgeschichte ist so authentisch geschrieben. Ich kann mir jede Szene gut vorstellen – nicht zuletzt auch, weil Du eine schöne Art hast, mit Worten umzugehen, Bilder in Worte zu fassen, Bilder in Köpfen zu erzeugen. Die letzte Erzählung fand ich sehr … wie soll ich es sagen? Vielleicht: krass!? Wahrscheinlich weil ich nicht ausschließen kann, dass so etwas tatsächlich passiert, meine Vorstellungskraft aber so weit nicht reicht.

Ich kann den Vater so gut verstehen. Und ich kann auch Jule und ihre Schwester gut verstehen. Das ist nicht nur eine Frage der Generationen, sondern ein, so denke ich, ganz normaler Lauf des Lebens.
Wobei der Vater schon etwas sehr hart manchmal ist… ;)

Alles in allem: eine schöne Geschichte mit tollem Titel.

Lieber Gruß,
Meraviglia

P.S.: Meine Lieblingsstellen:

Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches steht der Armlehnstuhl. Ein verfilztes Strickkissen liegt darauf, jahrelang plattgesessen. Dort hat Oma gewohnt.
--> für mich hat mein Opa auch in seinem Sessel gewohnt ;)

Also spielten Jule und ich zum ersten Mal in diesem Sommer einträchtig, vergruben den bleichen Jungen bis zum Hals im Sand und ließen ihn so allein am Strand zurück.
:D

In mir schnurrt etwas zu einem harten Knoten zusammen, nicht wie eine Schnecke, der man zu oft auf die Fühler getatscht hat, sondern wie ein Staubsaugerkabel, wenn man auf den Einzug tritt und aufpassen muss, dass einem der peitschende Stecker nicht ans Schienbein knallt.
--> Da ist sie wieder, die Peitsche. ;) So ein schöner Vergleich, um mich vorstellen zu lassen, wie sie sich fühlt.

 

Hallo Meraviglia,

puh, da steckt aber ganz schön viel „Peitsche“ in Deinem Text. Dennoch ist sie irgendwie rührend.
Ich kann den Vater so gut verstehen. Und ich kann auch Jule und ihre Schwester gut verstehen.
Ja, das kommt glaube ich auch auf die Lesestimmung an, welchen Aspekt man da grade im Vordergrund sieht, das Zuckerbrot oder die Peitsche. Aber genau dieses komische Gemisch wollte ich darstellen, weil es für mich typisch für Familie ist: so viel Liebe, aber auch so viel Schweres. Aber das hebt einander eben nicht auf, sondern potenziert sich durch den Kontrast irgendwie gegenseitig. Und auch bei den Interessen der unterschiedlichen Familienmitglieder ist es halt schwer zu hierarchisieren. Für sich genommen haben die halt alle ihre Berechtigung und sind trotzdem unvereinbar miteinander. Das scheint auch echt was zu sein, mit dem viele Leser was verbinden können. Und natürlich mit den Details der Omaatmosphäre :)

Also danke Dir für Deinen Kommentar. Auch für die Lieblingsstellen, vor allem die letzte, weil mir da nämlich eingefallen ist, dass ich an der Stelle noch was ändern wollte. Der Stecker muss nämlich nicht peitschen und knallen. Peitschen reicht.

Die letzte Erzählung fand ich sehr … wie soll ich es sagen? Vielleicht: krass!? Wahrscheinlich weil ich nicht ausschließen kann, dass so etwas tatsächlich passiert, meine Vorstellungskraft aber so weit nicht reicht.
Welche meinst Du? Hippiekacke? Da muss ich jetzt mal überlegen, welcher Aspekt davon so unglaublich sein könnte. Ist ja eigentlich eine sehr alltägliche Geschichte, ganz ohne Action oder übernatürliche Fügung. Bis auf den Prinzen, der ist vielleicht unrealistisch prinzig :D

lg,
fiz

 

Hallo feirefiz,

da habe ich mich sehr unglücklich ausgedrückt. :shy:

Mit "die letzte Erzählung" meine ich die letzte Szene in "Zuckerbrot und Peitsche", in der das Käsemesser in Omas Rücken landet...

Lieber Gruß von
Meraviglia

 

Hey fiz,

ich bin ja nicht oft hier. Und jetzt, wo alles anders ist, weil alle Krieger sind, dachte ich, lese ich doch mal wieder was.

Tja. Was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Das bist ja eindeutig du, diese Erzählstimme des vielleicht noch nicht ganz erwachsen gewordenen Kindes, ein bisschen Häme, ein bisschen Ironie, und ein Auge fürs Absurde. Ich mag das voll.

Ich war dabei. In dem Haus, im Garten, im Tunnel, im Keller. Sogar dort, wo Oma gewohnt hat, da war ich. Und in der Truhe unter der Bank. (In der man sich übrigens gut verstecken kann.)

Und jetzt habe ich was zum Nachdenken, ein paar Erinnerungen und Gedanken. Danke dafür! Du hast mich auf jeden Fall erreicht.

Kritik? Hmm. Die letzten zwanzig Prozent, ganz kurz war mir, als hättest du abgekürzt. Das hätte ich gerne szenisch gesehen, wäre gern selber drauf gekommen, was denn jetzt hinter Papa steckt. Dass mir die Stimme das erklärt, ist fein, aber den restlichen Text davor macht sie das ja auch nicht.

Ansonsten, dieser Absatz, in dem es um die Frösche geht, da ist ein kleiner Bruch drin. Weil er so langsam ist im Kontrast zu dem Absatz davor. Was passiert denn jetzt, wenn sie ihm Stress macht?

So, das wars jetzt auch schon. Schönes Wochenende!

yours

 

Hallo Meraviglia,

danke für die Klarstellung.

Mit "die letzte Erzählung" meine ich die letzte Szene in "Zuckerbrot und Peitsche", in der das Käsemesser in Omas Rücken landet...
Manchmal sind die Szenen, die am direktesten von der Realität inspiriert sind, die unglaubwürdigsten. Hätte ich mir das ausgedacht, wäre es mir selbst übertrieben vorgekommen.

Hallo yours,

das ist aber schön, dass Du hier mal wieder reinschwirrst :gelb:

Tja. Was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Das bist ja eindeutig du, diese Erzählstimme des vielleicht noch nicht ganz erwachsen gewordenen Kindes, ein bisschen Häme, ein bisschen Ironie, und ein Auge fürs Absurde. Ich mag das voll.
Danke. Das war ja ursprünglich ein Maskenballtext und ich hatte mir eingebildet, mich total unkenntlich verkleidet zu haben. Ich weiß nicht, ich müsste nochmal alle Maskenballtextkommentare durchgehen, aber ich denke, ich habe Chancen auf die lausigste Maske aller Zeiten.

Ich war dabei. In dem Haus, im Garten, im Tunnel, im Keller. Sogar dort, wo Oma gewohnt hat, da war ich. Und in der Truhe unter der Bank. (In der man sich übrigens gut verstecken kann.)
Nein, da kann man sich gar nicht drin verstecken, nicht mal als Maus. Die geht kaum zu, soviel Ramsch steckt da drin. :D Aber schön, dass Du es trotzdem hinein geschafft hast und dass es Dich ein bisschen mitnehmen konnte. Ich glaub, der Text kommt deshalb so gut an, weil die meisten Leser da viel Eigenes dran knüpfen können.

Kritik? Hmm. Die letzten zwanzig Prozent, ganz kurz war mir, als hättest du abgekürzt. Das hätte ich gerne szenisch gesehen, wäre gern selber drauf gekommen, was denn jetzt hinter Papa steckt. Dass mir die Stimme das erklärt, ist fein, aber den restlichen Text davor macht sie das ja auch nicht.
Ja, das stimmt. Da gibt es einen Bruch und es wird so ein bisschen unglatt. Abgesehen davon, dass ich keinen Roman schreiben wollte, den das Thema wahrscheinlich fordert, hab ich mir das so erklärt, dass sie das Thema einfach mit einem ganz anderen Hirnarreal bearbeitet. Es sind ja auch nicht ihre persönlichen Kindheitserinnerungen, sondern das, was sie im Nachhinein als Erwachsene erfahren hat. Das sollte als theoretisches Wissen schon auch im Kontrast stehen zu diesem sehr unmittelbaren Kinderblick, der noch nicht versteht, was wirklich passiert. Das ist zumindest das Konzept, mag aber sein, dass das ästhetisch trotzdem unbefriedigend gelöst ist. Ist halt auch einer dieser schwierigen Texte, die ich in letzter Zeit geschrieben habe, wo sich keine Struktur so als Idealösung aufdrängt. Also Struktur ist im Moment echt so meine Hauptbaustelle beim Schreiben, denke ich. Da bleib ich dran.

Ansonsten, dieser Absatz, in dem es um die Frösche geht, da ist ein kleiner Bruch drin. Weil er so langsam ist im Kontrast zu dem Absatz davor. Was passiert denn jetzt, wenn sie ihm Stress macht?
Und das ist meine Nebenbaustelle: Was darf anbgedeutet werden, was muss explizit gemacht werden. Gehört halt zu Geschichten mit so kurzer Strecke und so viel Stoff, dass man überlegen muss, was man wie erklärt. In diesem Fall steckt da halt ne ganze Krankheitsgeschichte drin, die so komprimiert ist, dass wahrscheinlich nur Insider die in Gänze identifizieren können. Der Vater ist manisch-depressiv und wenn er zu viel Stress hat, besteht die Gefahr, dass er buchstäblich verrückt wird. Er benutzt das allerdings auch als Waffe und/oder Schutzschild gegen alles und jeden, der ihm unbequem ist. Da die Grenze zwischen berechtigter Prophylaxe und Ausrede zu ziehen ist schwierig bis unmöglich.
Also wenn ich das so erklär, merk ich schon, wie viel ich da voraussetze, was ein Leser da unter Umständen gar nicht drin finden kann. Aber ich tu mich halt extrem schwer mit dem Erklärbär, weil das für mich so aus dem eher stream of consciousness-artigen Erzählen rausführt, das ich mag. Hat glaub ich auch mehr mit Ästhetik zu tun als mit Logik. Ich arbeite dran.

Vielen Dank für Deinen Kommentar!

lg,
fiz

 

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