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Zugvögel

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08.11.2004
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Zugvögel

Sonniger Tag. Klarer Himmel.

Eine junge Mutter schob stolz ihr Baby im Kinderwagen vor sich her. Durch die Parks und Wälder. Es war eine so wundervolle Atmosphäre. Die Kronen der Bäume ließen nur vereinzelt ein paar Sonnenstrahlen hindurch. Das Kind schlief.

In dem besten Abteil des Zuges saß eine Dame. Um die fünfzig vielleicht. Sie sah aber schon älter aus. Wie sechzig. Das kam sicherlich vom Stress. Stress mit dem Mann. Er hatte sie nun endlich verlassen. Wegen einer Jüngeren. Es war die Sekretärin gewesen. Ganz klassisch. Es hätte der Dame dennoch nicht besser ergehen können. Sie war auf dem Weg zu ihrem Anwalt. Ihr Mann hatte mit seiner Affäre ganz klar gegen den Ehevertrag verstoßen. Also sollte er dafür bluten. Bis auf den letzten Tropfen. Warum auch nicht? Offiziell war sie darüber zutiefst erschüttert. Inoffiziell wollte sie Geld. Ganz klassisch. Und die Zusicherung auf ihren Nachnamen. Von Gronewald. Ein herrlicher Name. Wundervoller Klang.
Allerdings wusste Frau von Gronewald, dass sie ihren Mann bei einer Klage ruinieren würde. Er würde richtig arbeiten müssen. Das war er nicht gewohnt. Seine Freundin Schrägstrich Angestellte würde ihn verlassen. Davon hätte sie nichts. Vielleicht ein kleines Vergnügen. Aber wirklich nur ein kleines. Schließlich war Frau von Gronewald nicht anders. Sie war einfach nur diskreter. Mit ihrem Freund würde sie sich niemals in der Öffentlichkeit zeigen. Er war ja schließlich Gärtner. Ganz klassisch.
Sie zögerte also ihren Anwalt zu benachrichtigen. Eigentlich wollte sie diese Entscheidung erst bei jenem treffen, doch gab es in ihrem Abteil einfach keine Ablenkung von ihrer „Ehe“.

Herr Selig hatte Schulden. Da konnte der Tag auch noch so rosig sein. Er hatte so viel Selbstachtung wie Frauen. Nämlich keine. Er war ein wirklicher Vorzeigeversager. Unbeliebt. Ungeküsst. Ungeliebt. Sein graues Leben hatte keinen Silberstreifen. Das war auch nie anders gewesen. Und sein Job? Noch grauer als sein Leben selbst. Also etwa dunkelgrau bis fast schon schwarz. So sah auch sein Brillengestell aus.
Mit seinem gestärkten Hemd ging er die Straßen hinunter. Zu dieser Bank im Park. Er ging an einem Pärchen vorbei. An einem Obdachlosen. An einer Frau mit Kinderwagen. Eines der Räder schlackerte etwas hin und her. Herr Selig wollte es erst sagen. Aber sicher wusste die Frau das bereits. An der Bank angekommen nahm er sich wie an jedem Tag ein paar Steine und versuchte Enten damit abzuwerfen. Das war sein Hobby. Ganz klassisch.

Die junge Mutter schob mit dem Kinderwagen zu einem Spielplatz. Die anderen Mütter sollten ihr Kind bestaunen. Schließlich hatte sie dafür auch fast neun Monate ihres Lebens geopfert.

Frau von Gronewald schaute aus dem Fenster. Genoss die Landschaft. Schnell zog sie an ihr vorbei. Das stimmte sie nachdenklich. Mit ihrem Mann hatte sie zwanzig, na ja dreißig, Jahre zusammengelebt und nun war alles aus. Rückblickend war es doch eine kurze Zeit gewesen. Sie seufzte. Aber da sie erkannte, dass diese Jahre genommen waren, wollte sie Entschädigung dafür. Auch wenn sie nichts mehr von ihrem Mann hatte, so konnte sie sich doch wenigstens sein Geld zurückholen.
Sie kramte ihr Handy aus ihrer ledernen Designertasche, dazu einen kleinen Zettel mit der Nummer ihres Anwalts. Sie wählte. Plötzlich vernahm Frau von Gronewald einen dumpfen Aufprall auf dem Zugdach. Vor Schreck ließ sie ihr Handy fallen und eilte zu einem Schaffner.

Herr Selig war wieder aus dem Park gegangen. Zu seiner Lieblingsbrücke. Er hatte noch ein paar Steine übrig gehabt. Er hatte sie von der Brücke geworfen. Dann hatte er sich von der Brücke geworfen. Er war auf einen vorbeifahrenden Zug gefallen. Beinahe wäre er vom Dach des Zuges gefallen. Herr Selig hatte sich aber noch festhalten können. Mit all seiner Kraft. Trotz der Geschwindigkeit. Glück.

Die stolze Mutter hatte sich verlaufen. Der Weg aus dem Park musste der falsche gewesen sein. Nun war sie mit ihrem mittlerweile wachen Kind in einer verlassenen Gegend. Das Kind weinte. Schrie. Es war kaum auszuhalten. Deshalb beschloss die junge Mutter schneller voran zugehen. Sie schob eine Straße entlang. Dann kreuzten irgendwann Gleise die Strecke. Beherzt schob die Mutter den Kinderwagen über die Gleise. Auf einmal sprang eines seiner Räder ab. Der Wagen blieb stecken. Unwissend was sie tun sollte, trat die Mutter gegen einen der Gleise. Sie begann fast zu weinen, doch ging sie lieber ein paar Schritte, fünf etwa, von dem Kinderwagen weg und steckte sich eine Zigarette an. Kaum nahm sie auch nur einen Zug von der Zigarette, drückte sie sie wieder aus. Schließlich konnte sie ihr eigenes Kind nicht auf ein Paar Bahngleisen stehe lassen. Außerdem wollte sie sich das Rauchen abgewöhnen. Wie jeder Raucher. Sie nahm das Kind und ging weg von den Gleisen. Die junge Mutter wollte lieber wieder umkehren.
Plötzlich war ein lautes Geräusch zuhören. Funken sprühten. Ein Funkenmeer. Tonnen von Eisen und Stahl wurden in die Höhe gerissen. Es blieb der Mutter mit ihrem Kind keine Zeit sich auch nur umzudrehen. Die Trümmer begruben sie beide.

Frau von Gronewald war kaum beim Schaffner angelangt. Da entgleiste der Zug. Er prallte mit vollster Wucht auf die Seite. Frau von Gronewald dachte noch kurz an ihren Mann. Dann drückte ein Ruck, einem heftigen Windstoß gleich, sie an eine Wand. Ihr Genick brach. Wie das Fenster in ihrem Abteil.


Als der Zug entgleiste spürte Herr Selig nicht einmal mehr seinen Sturz. Zu tief fiel er.

Man vergaß Mutter und Tochter.
Und Herr von Gronewald vergaß seine Frau.
Aber niemand vergaß Herrn Selig. Denn niemand kannte ihn.

 

Ich hoffe, dass euch die Geschichte etwas gefällt.
Sie ist konstruiert, aber (hoffentlich) nicht unlogisch. ;)

 
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Anubis737,

vielen Dank für die neue Geschichte. Ich habe den Eindruck, du ziehst es neuerdings vor, mehrere Charakterentwicklungen in einer Erzählung zu vereinen, was nicht unbedingt schlecht sein muss. Mein Hauptkritikpunkt diesmal betrifft die Analogie zu deiner Weihnachtsgeschichte. Wieso gibst du dich diesem Klischee hin, alle Figuren sterben zu lassen? Eigentlich gefällt mir deine Geschichte, aber du schreibst diesen Ausgang so oft, dass die Geschichten langsam an Originalität verlieren.
Unlogisch erscheinen mir die Erzählstränge nicht, doch leider etwas verwirrend.

In dem besten Abteil des Zuges saß eine Dame. Um die fünfzig vielleicht. Sie sah aber schon älter aus. Wie sechzig. Das kam sicherlich vom Stress. Stress mit dem Mann. Er hatte sie nun endlich verlassen. Wegen einer Jüngeren. Es war die Sekretärin gewesen. Ganz klassisch. Es hätte der Dame dennoch nicht besser ergehen können. Sie war auf dem Weg zu ihrem Anwalt. Ihr Mann hatte mit seiner Affäre ganz klar gegen den Ehevertrag verstoßen. Also sollte er dafür bluten.
Wieder abgehakter Stil, aber hast du es hier nicht etwas übertrieben? Dieser Teil wirkt etwas zu hart. Mir gefällt die Wiederholung der Phrase: "Ganz klassisch."
Übrigens: Statt "in dem besten Abteil" würde ich schreiben "im besten Abteil".
Das war er nicht gewohnt. Seine Freundin Schrägstrich Angestellte würde ihn verlassen.
Genauso sollte es immer sein. Originell mit einem Spritzer Sarkasmus.
Herr Selig hatte Schulden. Da konnte der Tag auch noch so rosig sein. Er hatte so viel Selbstachtung wie Frauen. Nämlich keine. Er war ein wirklicher Vorzeigeversager. Unbeliebt. Ungeküsst. Ungeliebt. Sein graues Leben hatte keinen Silberstreifen. Das war auch nie anders gewesen. Und sein Job? Noch grauer als sein Leben selbst. Also etwa dunkelgrau bis fast schon schwarz. So sah auch sein Brillengestell aus.
Mit seinem gestärkten Hemd ging er die Straßen hinunter. Zu dieser Bank im Park. Er ging an einem Pärchen vorbei. An einem Obdachlosen. An einer Frau mit Kinderwagen. Eines der Räder schlackerte etwas hin und her. Herr Selig wollte es erst sagen. Aber sicher wusste die Frau das bereits. An der Bank angekommen nahm er sich wie an jedem Tag ein paar Stein und versuchte Enten damit abzuwerfen. Das war sein Hobby. Ganz klassisch.
Steine
Dieser Teil ist ebenfalls gut strukturiert. Du verwendest hier wieder den für dich so typischen, abgehakten Stil, aber im Gegensatz zum oberen Abschnitt bleibt der Fluss der Erzählung hier erhalten.
Die junge Mutter schob mit dem Kinderwagen zu einem Spielplatz. Die anderen Mütter sollten ihr Kind bestaunen. Schließlich hatte sie dafür auch fast neun Monate ihres Lebens geopfert.
Beeindruckend. Wirklich gut.

Bevor ich weiter Dinge zitiere, die mir besonders gefallen haben, fasse ich zusammen, dass es sehr, sehr viele sind. Diese ist vermutlich formal betrachtet deine beste Geschichte. Die Sprache ist gut ausgefeilt und oft sehr bildlich und wirkungvoll. Du hast die Erzählstränge zielstrebig zusammengeführt. Das Ende ist wie immer schlagkräftig und überzeugend.
Wie gesagt, ich finde es etwas klischeehaft, alle Figuren sterben zu lassen, aber wenn man davon absieht, ist die Gesichte wirklich gut geworden. Weiter so!

Gruß, Saffron.

 

Saffron,

das Sterben-Lassen ist bei mir eine (manchmal) dumme Angewohnheit. Ich werde es aber bei Gelegnheit ändern und die Charaktere verschonen. ;)

 

Hallo anubis,

im Gegensatz zu deiner Weihnachtsgeschichte finde ich den Zusammenschnitt der Episoden hier nicht so zwingend. Komischerweise harmonisiert es bei diesem Text weniger, obgleich die Todesursache hier sogar identisch ist.
Ich finde es von der Idee her auch gut, die verschiedenen Leben, die einer Zugkatastrophe zum Opfer fallen, in ihren letzten Minuten zu portraitieren.
Aber da setzt auch gleichzeitig meine Kritik ein. Das Schicksal von hernn Selig, der auf das Dach des Zuges fällt, ist mir nicht alltäglich genug. An der Stelle greift deine Bemerkung, es wäre "konstruiert".
Für meinen Geschmack leidet die Struktur der Geschichte darunter, es zieht die plausibleren Teile über Frau von Gronevold und die junge Mutter mit herab.
An dem Teil mit der jungen Mutter habe ich zu beanstanden, in welcher Reihenfolge sie vorgeht. Vielleicht lässt du sie erst ihr Kind aus dem Wagen holen, dann die die Zigarette anzünden und diese gleich wieder austreten, als sie bemerkt, dass der Rauch in das Gesicht ihres Kindes zieht. Dass eine Mutter ihr Kind erst mal auf den Gleisen lässt, würde ich nicht gernerell für unmöglich halten, dass eine liebende und stolze Mutter es aber tut, schon.

Lieben Gruß, sim

 

sim,

die Mutter in meiner Geschichte ist nicht wirklich auf ihr Kind stolz. Sie ist ziemlich in erster Linie egoistisch und oberflächlich, was in der Geschichte auch oft angedeutet wird.
Außerdem darf die Handlung ruhig konstruiert sein...das sind die meistens Episodengeschichten(-filme), die ich kenne...

 

Anubis737,

zu der Antwort, die du sim gegeben hast: Handlung darf sehrwohl konstruiert sein, doch das darf dem Leser nicht auffallen. Selbst wenn das, was du schreibst, absolut realitätsfern wäre, müsste es doch realistisch wirken.

Gruß, Saffron.

 

Saffron,

dann wirkt die Geschichte also gar nicht realistisch?
Das muss dann wohl ein wenig geändert werden...

Bei Geschichten mit trister Handlung muss man sich um fehlende Realität nicht fürchten... ;)

 

Anubis737,

wie gesagt, die Tatsache, dass alle Charaktere am Ende sterben, macht die Geschichte leider nicht realistisch. Ich will damit nicht sagen, dass eine Geschichte immer ein exaktes Abbild der Wirklichkeit darstellen muss, ich finde nur, sie sollte real wirken. Wenn du alle Figuren sterben lässt, wirkt das nicht real, sondern konstruiert.
Die besten Geschichten sind jene, welche zwar einen eindeutig realistischen Bezug haben, denen aber über künstlerische Mittel wie Übertreibung oder Ironie der letzte Schliff verliehen wird.

Gruß, Saffron.

 

Mensch, du musst ja deine Protagonisten staendig sterben lassen. Hat das einen besonderen Grund?
Ich musste waehrend des Lesens dieser Geschichte immer wieder daran denken, wie gut man auch diese Episodengeschichte verfilmen lassen koennte. Ich finde diese hier wundervoll. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet und die Handlung verstaendlich. Ich finde hier vor allem das Ende sehr intelligent:

Man vergaß Mutter und Tochter.
Und Herr von Gronewald vergaß seine Frau.
Aber niemand vergaß Herrn Selig. Denn niemand kannte ihn.

So laeuft deine Geschichte doch eigentlich auf das Schicksal des Herrn Seligs hinaus. Nach dem Tod vergessen wir also die uns vertrauten Menschen. Doch koennen wir jene nicht vergessen, die wir nicht kennen. Nun laesst du sehr schoen offen, ob das Schicksal des Herrn Seligs nun eigentlich ein besseres ist als das der anderen Protagonisten. Er wird schliesslich nicht vergessen - weil ihn niemand kannte. Du laesst, um das auf den Punkt zu bringen, offen, ob man das Vergessen oder nach Nicht-Kennen als schlimmer erachten sollte. Sehr schoen, sehr poetisch. Finde ich ausserordentlich gut. Generell finde ich Geschichten wundervoll, die auf eine einzige Pointe hinauslaufen.

 

Hallo!
Die Phrase "ganz klassisch" fand ich wie einige meiner Vorredner auch sehr gut, aber leider etwas zu inkonsequent. Während du bei der Frau von Gronewald ständig alles mit "ganz klassisch" kommentierst und herrlich klicheehafte/sarakastische Bemerkungen mit einwirfst, verwendest diese bei Hernn Selling (?) nur hin und wieder, bei der jungen Mutter selten.
Da die Geschichte von drei Personen begleitet wird, muss ich hier wieder etwas anmerken. Frau von Grönewald charakterisierst du gut, bei dem Mann wird es schwächer während die junge Mutter ganz unter dem Tisch fällt.
Vielleicht könntest du ein Gleichgewicht herstellen, was die Geschichte auf jeden Fall lesensweter machen würde, obwohl sie mir auch schon so sehr gut gefällt.
MFG
Yulivee

 

Ja, beim nochmaligen Lesen, sehe ich, dass du absolut Recht hast. An einem der folgenden Wochenende werde ich mir die Geschichte noch einmal zu Gemüte führen.
Danke für die Kritik.

 

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