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Zugvögel
Sonniger Tag. Klarer Himmel.
Eine junge Mutter schob stolz ihr Baby im Kinderwagen vor sich her. Durch die Parks und Wälder. Es war eine so wundervolle Atmosphäre. Die Kronen der Bäume ließen nur vereinzelt ein paar Sonnenstrahlen hindurch. Das Kind schlief.
In dem besten Abteil des Zuges saß eine Dame. Um die fünfzig vielleicht. Sie sah aber schon älter aus. Wie sechzig. Das kam sicherlich vom Stress. Stress mit dem Mann. Er hatte sie nun endlich verlassen. Wegen einer Jüngeren. Es war die Sekretärin gewesen. Ganz klassisch. Es hätte der Dame dennoch nicht besser ergehen können. Sie war auf dem Weg zu ihrem Anwalt. Ihr Mann hatte mit seiner Affäre ganz klar gegen den Ehevertrag verstoßen. Also sollte er dafür bluten. Bis auf den letzten Tropfen. Warum auch nicht? Offiziell war sie darüber zutiefst erschüttert. Inoffiziell wollte sie Geld. Ganz klassisch. Und die Zusicherung auf ihren Nachnamen. Von Gronewald. Ein herrlicher Name. Wundervoller Klang.
Allerdings wusste Frau von Gronewald, dass sie ihren Mann bei einer Klage ruinieren würde. Er würde richtig arbeiten müssen. Das war er nicht gewohnt. Seine Freundin Schrägstrich Angestellte würde ihn verlassen. Davon hätte sie nichts. Vielleicht ein kleines Vergnügen. Aber wirklich nur ein kleines. Schließlich war Frau von Gronewald nicht anders. Sie war einfach nur diskreter. Mit ihrem Freund würde sie sich niemals in der Öffentlichkeit zeigen. Er war ja schließlich Gärtner. Ganz klassisch.
Sie zögerte also ihren Anwalt zu benachrichtigen. Eigentlich wollte sie diese Entscheidung erst bei jenem treffen, doch gab es in ihrem Abteil einfach keine Ablenkung von ihrer „Ehe“.
Herr Selig hatte Schulden. Da konnte der Tag auch noch so rosig sein. Er hatte so viel Selbstachtung wie Frauen. Nämlich keine. Er war ein wirklicher Vorzeigeversager. Unbeliebt. Ungeküsst. Ungeliebt. Sein graues Leben hatte keinen Silberstreifen. Das war auch nie anders gewesen. Und sein Job? Noch grauer als sein Leben selbst. Also etwa dunkelgrau bis fast schon schwarz. So sah auch sein Brillengestell aus.
Mit seinem gestärkten Hemd ging er die Straßen hinunter. Zu dieser Bank im Park. Er ging an einem Pärchen vorbei. An einem Obdachlosen. An einer Frau mit Kinderwagen. Eines der Räder schlackerte etwas hin und her. Herr Selig wollte es erst sagen. Aber sicher wusste die Frau das bereits. An der Bank angekommen nahm er sich wie an jedem Tag ein paar Steine und versuchte Enten damit abzuwerfen. Das war sein Hobby. Ganz klassisch.
Die junge Mutter schob mit dem Kinderwagen zu einem Spielplatz. Die anderen Mütter sollten ihr Kind bestaunen. Schließlich hatte sie dafür auch fast neun Monate ihres Lebens geopfert.
Frau von Gronewald schaute aus dem Fenster. Genoss die Landschaft. Schnell zog sie an ihr vorbei. Das stimmte sie nachdenklich. Mit ihrem Mann hatte sie zwanzig, na ja dreißig, Jahre zusammengelebt und nun war alles aus. Rückblickend war es doch eine kurze Zeit gewesen. Sie seufzte. Aber da sie erkannte, dass diese Jahre genommen waren, wollte sie Entschädigung dafür. Auch wenn sie nichts mehr von ihrem Mann hatte, so konnte sie sich doch wenigstens sein Geld zurückholen.
Sie kramte ihr Handy aus ihrer ledernen Designertasche, dazu einen kleinen Zettel mit der Nummer ihres Anwalts. Sie wählte. Plötzlich vernahm Frau von Gronewald einen dumpfen Aufprall auf dem Zugdach. Vor Schreck ließ sie ihr Handy fallen und eilte zu einem Schaffner.
Herr Selig war wieder aus dem Park gegangen. Zu seiner Lieblingsbrücke. Er hatte noch ein paar Steine übrig gehabt. Er hatte sie von der Brücke geworfen. Dann hatte er sich von der Brücke geworfen. Er war auf einen vorbeifahrenden Zug gefallen. Beinahe wäre er vom Dach des Zuges gefallen. Herr Selig hatte sich aber noch festhalten können. Mit all seiner Kraft. Trotz der Geschwindigkeit. Glück.
Die stolze Mutter hatte sich verlaufen. Der Weg aus dem Park musste der falsche gewesen sein. Nun war sie mit ihrem mittlerweile wachen Kind in einer verlassenen Gegend. Das Kind weinte. Schrie. Es war kaum auszuhalten. Deshalb beschloss die junge Mutter schneller voran zugehen. Sie schob eine Straße entlang. Dann kreuzten irgendwann Gleise die Strecke. Beherzt schob die Mutter den Kinderwagen über die Gleise. Auf einmal sprang eines seiner Räder ab. Der Wagen blieb stecken. Unwissend was sie tun sollte, trat die Mutter gegen einen der Gleise. Sie begann fast zu weinen, doch ging sie lieber ein paar Schritte, fünf etwa, von dem Kinderwagen weg und steckte sich eine Zigarette an. Kaum nahm sie auch nur einen Zug von der Zigarette, drückte sie sie wieder aus. Schließlich konnte sie ihr eigenes Kind nicht auf ein Paar Bahngleisen stehe lassen. Außerdem wollte sie sich das Rauchen abgewöhnen. Wie jeder Raucher. Sie nahm das Kind und ging weg von den Gleisen. Die junge Mutter wollte lieber wieder umkehren.
Plötzlich war ein lautes Geräusch zuhören. Funken sprühten. Ein Funkenmeer. Tonnen von Eisen und Stahl wurden in die Höhe gerissen. Es blieb der Mutter mit ihrem Kind keine Zeit sich auch nur umzudrehen. Die Trümmer begruben sie beide.
Frau von Gronewald war kaum beim Schaffner angelangt. Da entgleiste der Zug. Er prallte mit vollster Wucht auf die Seite. Frau von Gronewald dachte noch kurz an ihren Mann. Dann drückte ein Ruck, einem heftigen Windstoß gleich, sie an eine Wand. Ihr Genick brach. Wie das Fenster in ihrem Abteil.
Als der Zug entgleiste spürte Herr Selig nicht einmal mehr seinen Sturz. Zu tief fiel er.
Man vergaß Mutter und Tochter.
Und Herr von Gronewald vergaß seine Frau.
Aber niemand vergaß Herrn Selig. Denn niemand kannte ihn.