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Zum tollen Hirsch

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08.02.2006
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Zum tollen Hirsch

Zum tollen Hirsch


Als ich eines Abends frohen Mutes und offener Jacke so über den Gehsteig flanierte und voll einfacher Glückseeligkeit dem Klacken meiner Schuhe auf dem Beton lauschte, wurde ich roh von einem Platzregen mit monsunartigem Ausmaß überrascht. Die Jacke musste geschlossen werden, meine Tasche hielt ich mir über den Kopf, aber es half nicht. Meine Schuhe platschten platt auf die Wasseroberfläche einer Pfütze und Kater flüchtete straßenaufwärts über eine Hecke. Der Regen zwang mich, Zuflucht zu suchen im nächstliegenden Gebäude und das, ja das, war eine Lokalität, eine Art Bar, besser mit dem Wort „Pinte“ zu beschreiben. Sie hieß „Zum tollen Hirsch“, hätte ihrem äußeren Erscheinungsbild nach aber durchaus auch „ Meyers Sause“, „Handballtreff“, „Molle 100“ oder „Bernd’s Sportklause“ heißen können, mit falschem Apostroph versteht sich. Was sollte ich anderes tun, als einzutreten?
An die zerkratzte Massivholztheke setzte ich mich, neben einen Rotzöpfigen mit Bratpfannengesicht im blau-schwarz-karierten Flanellhemd, der gerade tief über eine BZ gebeugt irgendetwas von „verdammte Pottsäue“ murmelte, neben ihm eine Packung Katzenstreu. Sonst einige Tische, wackelige Holzstühle gemischten Stils, ein geblümtes Sofa, darauf Menschen in Lederjacken und an der Wand ein großer, ausgestopfter Hirschkopf, wie in der Jägermeisterwerbung, nur das der hier trauriger dreinschaute. Meine hose war durchnässt, mir kalt und ich wünschte mich sehnlichst unter meine bettdecke. Rauch stand dicht, die Augen brannten mir ein wenig, ich bestellte mir ein Pils. Ich wollte anrufen, dass ich später käme, aber der Akku meines Handys war alle. Arbeiten konnte ich auch nicht, weil mein Laptop plus Zubehör daheim auf dem Schreibtisch weilte. Ich würde zu spät zum Workshop kommen. Die Barfrau war nicht mehr ganz jung und ganz offensichtlich äußerst dickbusig, was sie auf keinste Weise zu verstecken gedachte, besonders nicht beim übergebeugten Bierservieren. Der Flanellhemdmensch starrte apathisch abwechselnd auf seine Zeitung, sein fast leeres Bier und nun, das sie mir mein Bier servierte, ungezügelt gierig auf die Wirtin. Zügig trinkend ließ ich mich in die Brabbelgeräuschkulisse fallen, folgte mal dieser, mal jener Unterhaltung halb und fragte mich, wieso alle Kneipen dieser Art ausnahmslos die gleichen mehr oder weniger weißen, halbdurchsichtigen Vorhänge mit gesticktem Blumenmuster haben. Ich sah rote Nasen, verquollene Gesichter, verzerrte Münder und das alles kam mir vor wie ein Bild von Modigliani. Man sagt, er habe nur getrunken, um die Hässlichkeit der Menschen zu sehen. Dann kam Georgi.
Das erste, was ich von Georgi wahrnahm war, dass er mein Bier umstieß und es sah so aus, als hätte er das nicht sonderlich unwillig getan. Georgi entschuldigte sich nicht, sondern setzte sich neben mich, winkte der Kellnerin und sagte mit bieratemunterlegt: „Ick bin der Georgi, wer bist du?“ Nachdem ich mich schüchtern vorgestellt hatte, sagte er auf die seine lila Bommelmütze tippend: „In Fachkreisen nennt man mich Bommel. Ick hab ma dit Klavier meiner Tante gegen ne Bommelmütze eingetauscht.“ Ich zentriete mein Glas auf dem Bierdeckel, an wen erinnerte mich dieser koboldhafte Typ? Georgi, der im übrigen mit seiner Trillerpfeife um den krummen Hals und seinem grünen, befleckten Trainingsanzug ein äußerst interessantes Bild abgab, meinte, weil er mein Bier verschüttet hätte, wäre ich sein Gast und nötigte mich viele Schnäpse zu trinken. Die Zeit wurde gerafft, der Raum wurde enger und wärmer und nach einer Weile begann ich Georgi zu mögen, er kam mir auf noch immer bekannt vor. „Früher“, verkündete Georgi zwischen zwei Schnäpsen, „habe ick Kontaklinsensets verkoft. So als Vertreter praktüsch. Dit hat n bombigen Absatzmarkt. Und noch früher, wo ick vielleischt in dir dein Alter war, da hab ick hauptberuflisch Robbenlebertran an Hundebestizer verkoft und freizeitlisch hab ick alle Schnecken im Bezirk geknackt.“ Georgi orderte mehr Schnaps. Der Flanellhemdmann hörte uns chipsessend zu. Mir war warm, ich sah nur auf Georgis Mund. Dann erzählte Georgi, er wäre lange im Knast gewesen. Wieso? „Na damals hatte ick öftas nackt uffe Straße jestanden, nur mit einem Notenblatt vorne und einem kleinen Bleistift hinten, HB, unangespitzt.“ Dann mehr Schnaps. Ich wollte nicht, aber Georgi ließ nicht nach und bot an, mir seinen roten Ersatzschnürsenkel zu schenken, falls ich weiter mittränke, ein nicht abzulehnendes Angebot.
Warum „zum tollen Hirsch“ so hieße? „Na weil der Hirsch da oben so spütze aussieht.“ Das war einleuchtend, erschien plausibel. Und dann, als Georgi gerade von seiner Zeit als Katzentherapeut erzählte, wusste ich es wieder: In den Märchen und Geschichten, die meine Mutter mir früher immer erzählt hatte, gab es einen Kobold, der immer dann auftauchte, wenn es brenzlig wurde und mit irgendeinem Zaubertrank die Situation rettete. Und so wie dieser Kobold, exakt so, sah Georgi aus. Georgi orderte mehr Schnaps, die Theke schien wellenhaft zu schwanken, ich auch.
Doch was war meine Situation? Ich war idiotischerweise, von einem Regen überrascht, in diese Kaschemme getreten und, der Poetry Slam Workshop war sicher längst vorüber, dann wurde ich von einem Kobold abgefüllt. In meinem verschwommenen Sichtfeld tauchte ein Schild an der Wand auf, es stand darauf in altdeutschen Lettern, ich konnte es kaum lesen: Das Leben ist wie ein Hirschgeweih, endlich und seltsam verzweigt.

 

Hallo Sander,

in Tonfall und Ambiente finde ich deine Geschichte recht gut, allerdings noch nicht rund.
Zum Beispiel könntest du leicht einen dramatischen Bogen schaffen, indem du schon zu Beginn erzählst, dass dein Erzähler auf dem Weg zu einem Poetryslamworkshop ist, denn dann haben die Erzählungen des Kobolds gleich einen Kontext, der ihnen so fehlt. Sie gleichen den entgangenen Workshop deutlicher aus. Auch finde ich, er könnte gern die eine oder andere Geschichte zu Ende erzählen, zum beispiel die Reaktionen der Menschen, wenn er mit Noenblatt und HB bekleidet auf der Straße gestanden hat. So hängen seine Erzählungen für mich immer ein bisschen luftleer in der Kneipe (von Bar würde ich da weniger reden).
Warum es in der aktuellen Situation brenzlig geworden sein soll, leuchtet mir nicht ein, damir entfiele der Grund für den Auftritt des Kobolds.

Details:

voll einfacher Glückseeligkeit
Glückseligkeit
Meine hose war durchnässt, mir kalt und ich wünschte mich sehnlichst unter meine bettdecke.
Hose und Bettdecke groß
und nun, das sie mir mein Bier servierte, ungezügelt gierig auf die Wirtin.
und nun, da sie ...
alles kam mir vor wie ein Bild von Modigliani. Man sagt, er habe nur getrunken, um die Hässlichkeit der Menschen zu sehen.
Nicht ganz korrekt. Man sagt über Modigliani, er habe getrunken, um die Hässlichkeit der Dinge zu sehen. Kneipen kamen in seinen Bildern trotzdem so wenig vor wie "rote Nasen, verquollene Gesichter, verzerrte Münder".
und sagte mit bieratemunterlegt
entweder: und sagte bieratemunterlegt
oder
und sagte mit Bieratem unterlegt (obwohl es mE immer Bieratem unterlegt heißen müsste, aber "mit" macht es eindeutig zum Substantiv).
Ich zentriete mein Glas auf dem Bierdeckel
zentrierte
er kam mir auf noch immer bekannt vor
auf=auch?

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sander,
mir hat die Gaststätten-Atmosphäre sehr gut gefallen, wenn auch nichts Nennenswertes passiert ist. Der Schlusssatz war lustig und treffend für den Hirschen, der mit dem Geweih das aussagt, was es wohl übersetzt heißen soll:

Das Leben ist wie ein Hirschgeweih, endlich und seltsam verzweigt.
:D
... und stimmt auch.

Der Georgi war so eine Art Märchenerscheinung, zumindest sah es Dein Erzähler so. Ein Warnhinweis, er solle jetzt Schluss machen mit dem Hineinschütten der Prozente, abgefüllt sei er ja nun. Ist das so?

Gern gelesen.
KaLima

 

Vielen Dank ersteinmal für die Antworten. ICh stimme allen verbesserungen zu. Doppelt Dank dafür. DaLimas Vermutung ist nicht ganz falsch. Werde mich bei Gelegenheit ans Verbesern machen.
Gruß Sander

 

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