Zum tollen Hirsch
Zum tollen Hirsch
Als ich eines Abends frohen Mutes und offener Jacke so über den Gehsteig flanierte und voll einfacher Glückseeligkeit dem Klacken meiner Schuhe auf dem Beton lauschte, wurde ich roh von einem Platzregen mit monsunartigem Ausmaß überrascht. Die Jacke musste geschlossen werden, meine Tasche hielt ich mir über den Kopf, aber es half nicht. Meine Schuhe platschten platt auf die Wasseroberfläche einer Pfütze und Kater flüchtete straßenaufwärts über eine Hecke. Der Regen zwang mich, Zuflucht zu suchen im nächstliegenden Gebäude und das, ja das, war eine Lokalität, eine Art Bar, besser mit dem Wort „Pinte“ zu beschreiben. Sie hieß „Zum tollen Hirsch“, hätte ihrem äußeren Erscheinungsbild nach aber durchaus auch „ Meyers Sause“, „Handballtreff“, „Molle 100“ oder „Bernd’s Sportklause“ heißen können, mit falschem Apostroph versteht sich. Was sollte ich anderes tun, als einzutreten?
An die zerkratzte Massivholztheke setzte ich mich, neben einen Rotzöpfigen mit Bratpfannengesicht im blau-schwarz-karierten Flanellhemd, der gerade tief über eine BZ gebeugt irgendetwas von „verdammte Pottsäue“ murmelte, neben ihm eine Packung Katzenstreu. Sonst einige Tische, wackelige Holzstühle gemischten Stils, ein geblümtes Sofa, darauf Menschen in Lederjacken und an der Wand ein großer, ausgestopfter Hirschkopf, wie in der Jägermeisterwerbung, nur das der hier trauriger dreinschaute. Meine hose war durchnässt, mir kalt und ich wünschte mich sehnlichst unter meine bettdecke. Rauch stand dicht, die Augen brannten mir ein wenig, ich bestellte mir ein Pils. Ich wollte anrufen, dass ich später käme, aber der Akku meines Handys war alle. Arbeiten konnte ich auch nicht, weil mein Laptop plus Zubehör daheim auf dem Schreibtisch weilte. Ich würde zu spät zum Workshop kommen. Die Barfrau war nicht mehr ganz jung und ganz offensichtlich äußerst dickbusig, was sie auf keinste Weise zu verstecken gedachte, besonders nicht beim übergebeugten Bierservieren. Der Flanellhemdmensch starrte apathisch abwechselnd auf seine Zeitung, sein fast leeres Bier und nun, das sie mir mein Bier servierte, ungezügelt gierig auf die Wirtin. Zügig trinkend ließ ich mich in die Brabbelgeräuschkulisse fallen, folgte mal dieser, mal jener Unterhaltung halb und fragte mich, wieso alle Kneipen dieser Art ausnahmslos die gleichen mehr oder weniger weißen, halbdurchsichtigen Vorhänge mit gesticktem Blumenmuster haben. Ich sah rote Nasen, verquollene Gesichter, verzerrte Münder und das alles kam mir vor wie ein Bild von Modigliani. Man sagt, er habe nur getrunken, um die Hässlichkeit der Menschen zu sehen. Dann kam Georgi.
Das erste, was ich von Georgi wahrnahm war, dass er mein Bier umstieß und es sah so aus, als hätte er das nicht sonderlich unwillig getan. Georgi entschuldigte sich nicht, sondern setzte sich neben mich, winkte der Kellnerin und sagte mit bieratemunterlegt: „Ick bin der Georgi, wer bist du?“ Nachdem ich mich schüchtern vorgestellt hatte, sagte er auf die seine lila Bommelmütze tippend: „In Fachkreisen nennt man mich Bommel. Ick hab ma dit Klavier meiner Tante gegen ne Bommelmütze eingetauscht.“ Ich zentriete mein Glas auf dem Bierdeckel, an wen erinnerte mich dieser koboldhafte Typ? Georgi, der im übrigen mit seiner Trillerpfeife um den krummen Hals und seinem grünen, befleckten Trainingsanzug ein äußerst interessantes Bild abgab, meinte, weil er mein Bier verschüttet hätte, wäre ich sein Gast und nötigte mich viele Schnäpse zu trinken. Die Zeit wurde gerafft, der Raum wurde enger und wärmer und nach einer Weile begann ich Georgi zu mögen, er kam mir auf noch immer bekannt vor. „Früher“, verkündete Georgi zwischen zwei Schnäpsen, „habe ick Kontaklinsensets verkoft. So als Vertreter praktüsch. Dit hat n bombigen Absatzmarkt. Und noch früher, wo ick vielleischt in dir dein Alter war, da hab ick hauptberuflisch Robbenlebertran an Hundebestizer verkoft und freizeitlisch hab ick alle Schnecken im Bezirk geknackt.“ Georgi orderte mehr Schnaps. Der Flanellhemdmann hörte uns chipsessend zu. Mir war warm, ich sah nur auf Georgis Mund. Dann erzählte Georgi, er wäre lange im Knast gewesen. Wieso? „Na damals hatte ick öftas nackt uffe Straße jestanden, nur mit einem Notenblatt vorne und einem kleinen Bleistift hinten, HB, unangespitzt.“ Dann mehr Schnaps. Ich wollte nicht, aber Georgi ließ nicht nach und bot an, mir seinen roten Ersatzschnürsenkel zu schenken, falls ich weiter mittränke, ein nicht abzulehnendes Angebot.
Warum „zum tollen Hirsch“ so hieße? „Na weil der Hirsch da oben so spütze aussieht.“ Das war einleuchtend, erschien plausibel. Und dann, als Georgi gerade von seiner Zeit als Katzentherapeut erzählte, wusste ich es wieder: In den Märchen und Geschichten, die meine Mutter mir früher immer erzählt hatte, gab es einen Kobold, der immer dann auftauchte, wenn es brenzlig wurde und mit irgendeinem Zaubertrank die Situation rettete. Und so wie dieser Kobold, exakt so, sah Georgi aus. Georgi orderte mehr Schnaps, die Theke schien wellenhaft zu schwanken, ich auch.
Doch was war meine Situation? Ich war idiotischerweise, von einem Regen überrascht, in diese Kaschemme getreten und, der Poetry Slam Workshop war sicher längst vorüber, dann wurde ich von einem Kobold abgefüllt. In meinem verschwommenen Sichtfeld tauchte ein Schild an der Wand auf, es stand darauf in altdeutschen Lettern, ich konnte es kaum lesen: Das Leben ist wie ein Hirschgeweih, endlich und seltsam verzweigt.