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Zurück bleiben, bitte
Zurück bleiben, bitte
„Zurück bleiben, bitte“, tönte die Stimme durch den Lautsprecher. Die Türen schlossen sich mit einem lauten Knall. Ein letzter Blick zurück, dann setzte sich der Zug ruckelnd in Bewegung.
Die Landschaft zog erst langsam, dann immer schneller an ihr vorbei. Sie schaute aus dem Fenster, beobachtete das Farbenspiel der Natur. Gegenüber saß ein Mann im Anzug. Seine Nase steckte tief in der aktuellen Tageszeitung und er schien nichts um sich herum wahr zu nehmen. Hauptsache informiert sein. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zur Arbeit. Was er wohl machte? Bestimmt ein hohes Tier in irgendeiner Bank. Ein Reihenhaus, eine Frau zwei Kinder. Ein Leben nur für die Arbeit, das Geld und den Ruhm. Ob das glücklich machte?
Die nächste Station, ein schneller Wechsel, neue Gesichter. „Zurück bleiben, bitte“. Als sie wieder aufschaute hatte eine alte Frau den Platz belegt. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen, die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Das Leben fast vorbei. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg zu ihren Enkeln. Enkel, die lieber mit Freunden spielen würden, anstatt die Dame zu sehen und eigentlich nur auf einen Geldschein warteten. Ob das glücklich machte?
Auch sie blieb nicht lange sitzen. Ruhelos verließ sie den Platz nach zwei Stationen. Zwei Jugendliche sprangen in letzter Sekunde in den Wagon. „Zurück bleiben, bitte“, wieder ruhte ihr Blick nur für kurze Zeiten auf den Häuserschluchten am Schienenrand. Lautstark holten die Jugendlichen eine Flasche billigen Wodka aus dem Rucksack, redeten lärmend über irgendwelche Proletenpartys und tranken sich ihr Leben schön. Wahrscheinlich nur um dazu zu gehören. Ob das glücklich machte?
Als ihre Freunde dazu stießen setzten sie sich weg und gaben den Blick auf eine Frau mit Kinderwagen frei. „Zurück bleiben, bitte“. Das Baby schrie, die Frau rollte genervt mit den Augen und seufzte. Lustlos schob sie den Wagen vor und zurück. Sie war noch recht jung. Wahrscheinlich war ihr Mann schon lange fort. Was ihr blieb war das Kind, die Verantwortung, bestimmt überfordert. Ob das glücklich machte?
Alle in Hektik, dauernd ein Ein- und Aussteigen. Nur noch wenige Stationen. „Zurück bleiben, bitte“. Ein junges Mädchen drängelte sich an dem Kinderwagen vorbei, ließ sich auf die Sitzbank fallen. Sie war so schön, bestimmt war sie glücklich. Einige Minuten vergingen, sie drückte an ihrem Handy herum. Plötzlich eine verdächtige Handbewegung. Sie wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Was sie wohl traurig machte? Wahrscheinlich eine SMS, eine gescheiterte Beziehung. Nein, sie war nicht glücklich. Wegen der Liebe. Ob das glücklich machte?
„Zurück bleiben, bitte.“ Der Zug fuhr wieder an, sie war draußen. Beobachtete die träge anfahrenden Wagons. Ihr Rollstuhl glitt über die Rampe. Sie war zurückgeblieben. Allein am Rande der Gesellschaft. Still stehend, für immer. Ob sie glücklich war?