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- Anmerkungen zum Text
Inspiration war ein Text über die angeblich selbst erlebte Geschichte eines New Yorker Taxifahrers, der auf unterschiedlichen Internetseiten verbreitet ist. Bei dem Text (Taxifahrt einer alten Dame zum Hospiz) scheint es sich um die Übersetzung aus dem Englischen zu handeln. Leider konnte ich nicht den Originaltitel oder den Autoren ermitteln, so dass keine präzise Quellenangabe möglich wäre.
Zurückgelassen
Ich traf an der Adresse ein und hupte. Nach wenigen Augenblicken hupte ich erneut, diesmal länger. Kurz überlegte ich, wegzufahren – schließlich hatte ich mich schon für heute bei der Zentrale abgemeldet, – stieg dann aus und klopfte an die Tür.
„Einen Moment noch, bitte“, flüsterte eine Stimme durch die Sprechanlage.
In den letzten Wochen hatte ich schon allerhand Überraschungen erlebt. Halbbekleidete Frauen, die hinter der Tür lugten; junge Menschen, die feierten und mir Schnaps reichen wollten. Oder Liebespaare, die sich minutenlang voneinander verabschiedeten.
Jetzt stand mir eine bucklige Frau in feinster Garderobe gegenüber, etwa Mitte Achtzig. Gemustertes Seidenkleid, goldene Kette mit Kreuzanhänger; ein großer Hut, mit Schleier über dem weißen Haar. Rouge, Lidschatten, rote Lippen. Eine Aufmachung, in der die Dame gut und gerne vor Jahrzehnten ausgegangen sein mochte.
„Guten Abend“, sagte sie mit brüchiger Stimme und deutete auf einen Koffer.
Ich erwiderte den Gruß und hob den Koffer auf.
„Ich brauche noch einen Moment.“ Sie wich zur Seite und betrachtete sich im Wandspiegel, zupfte am Kleid und richtete den Hut.
„Lassen Sie sich Zeit“, sagte ich und schaute mich beim Hinausgehen um.
Die Möbel waren mit großen, weißen Tüchern bedeckt. An den Wänden bemerkte ich helle Stellen, an denen früher wohl Bilder oder Uhren hingen. Sämtliche Türschränke standen offen – die Fächer und Regale leer. Auf dem Boden warteten gepackte Umzugskartons. Klebeetiketten oder ähnliches konnte ich nicht sehen.
Ich verstaute das Gepäck im Kofferraum. Im Vorgarten kam mir die Dame ein paar Schritte entgegen und nahm meinen Arm. Ihr fruchtiges Parfüm stieg mir in die Nase. Gemächlich schritten wir zum Taxi.
„Vielen lieben Dank, junger Mann“, sagte sie, als ich ihr beim Hinsetzen auf die Rückbank behilflich war.
Sie legte den Hut neben sich und gab mir eine Visitenkarte. „Bitte fahren Sie durch die Innenstadt.“
„Das ist aber nicht der kürzeste Weg“, sagte ich.
„Ich habe es nicht eilig. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …“
Im Innenspiegel sah ich ihre glänzenden Augen. „Welche Route soll ich nehmen?“, fragte ich, schaute nochmal auf die Visitenkarte und schaltete das Taxameter ab.
Wir fuhren durch die leeren Straßen der abendlichen Stadt. An der Hauptverkehrsstraße, dort, wo sich ein Handyshop befand, meinte sie: „Da hatte ich eine kleine Wäscherei.“ Später zeigte sie auf ein leerstehendes Gebäude. „Da war früher das Tanzlokal, wo ich als junges Mädchen poussiert habe.“
Als wir am Marktplatz vorbeikamen, sagte sie: „In diesem Viertel habe ich mit meinem Mann gelebt.“
Ich bekam einen Kloß im Hals, überlegte, auch etwas von mir zu erzählen. Von meiner Frau, meiner Tochter und mir.
Bald darauf stießen wir auf eine verschmutzte, durch Fahrbahnmarkierungen verengte Straße. Das Baugelände rechts war umzäunt, ein großes Schild pries die Errichtung eines neuen Einkaufszentrum an, am Ort des alten Schlachthofes. Ich warf einen Blick auf die zusammengefallenen Gebäude, das eingestürzte Mauerwerk. Alles in Schutt und Asche – wie nach einem Bombenhagel. Ich hielt mir die Nase zu und stellte die Klimaanlage auf Umluft. Als das Tempolimit aufgehoben war, gab ich Vollgas und überfuhr eine Ampel, die gerade auf Rot umgesprungen war.
„Alles in Ordnung?“, fragte die Dame.
„Entschuldigung.“
Die Stunden vergingen. Oft starrte die Dame bloß in die Dunkelheit. Manchmal bat sie mich, langsamer zu fahren; das Viertel mit den Geldinstituten sollte ich weiträumig umkurven.
Die Treibstoffanzeige blinkte auf und ich fuhr die nächste Tankstelle an. „Wenn Sie möchten, können Sie sich die Beine vertreten“, schlug ich vor und stoppte an einer Säule.
„Gerne.“
Ich hielt ihr die Tür auf und sie stieg aus. Nachdem ich einen voreingestellten Betrag gewählt hatte, sah ich der Dame hinterher, wie sie mit kleinen Schritten das Tankstellenhäuschen ansteuerte.
Ich verzog die Nase, als mir Benzingeruch entgegenströmte. Er vermischte sich mit dem Geruch nach Blut und Schweiß, Feuer und Asche, Granatdampf und verbranntem Fleisch, der mir seit langem in der Nase hing.
Ich steckte den Tankrüssel zurück und putzte mir auf dem Weg zum Häuschen die Nase.
Die Dame kam mir entgegen und ich blieb stehen. „Keine Umstände“, sagte sie. „Ich steige allein ein.“
Als ich mich ins Auto setzte, reichte sie mir schmunzelnd eine Dose Cola. „Hier bitte! Sie sehen müde aus.“
„Danke“, sagte ich. „Und danke für das Übernehmen der Rechnung. Das wäre nicht nötig gewesen.“
Die … Oma hat schon bezahlt, hatte der Tankwart gemeint. Wohin sind Sie so spät noch unterwegs?, wollte er wissen.
Ich trank die Cola in einem Zug, schnallte mich an und startete den Motor.
„Erzählen Sie mir doch bitte von sich, wenn Sie möchten“, forderte sie mich auf, während sie sich mit zitternden Händen die Haare glättete. „Wie sind Sie Taxifahrer geworden?“
„Es … es ist nur vorübergehend.“
„Lassen Sie sich Zeit.“
„Meine Tochter … meine Frau …“, sagte ich.
„Was ist mit ihnen?“
„Ich musste beide zurücklassen. Vorerst.“
Für einen Moment herrschte Stille.
„Aisha ist jetzt vier Jahre alt. Sie kennt nichts anderes als den Krieg.“
Später stoppten wir an einem Park, der auf einen Hügel am Rande der Stadt lag. Sie stieg aus und setzte sich auf eine Bank, den Hut auf dem Schoß gelegt. Da saß sie, blickte in die Ferne, blickte auf die Stadt, die Straßen, die Gebäude, während ich vor dem Auto stand und gedankenversunken rauchte.
„Es ist Zeit“, sagte sie unvermittelt und winkte mir zu.
Stillschweigend fuhren wir über bergige Landstraßen zu der Adresse, die sie mir gegeben hatte. Es war ein alleinstehendes Anwesen mit angrenzender Grünanlage. In der Mitte ein Weiher, ringsherum einige Parkbänke. Am Rand eine kleine Konzertmuschel mit Bestuhlung. Wenn man es nicht anders wusste, hätte man „Haus Erholung“ für ein Seniorenheim oder Kurhotel halten können.
Ich hielt in der Einfahrt. Zwei Pflegerinnen kamen heraus und auf uns zu. Ihre Besorgtheit stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Ich öffnete den Kofferraum und nahm das Gepäck heraus.
Die Dame saß bereits in einem Rollstuhl. Sie bat eine der Frauen, ihr die Brieftasche zu reichen. „Wie viel schulde ich Ihnen?“
„Ist schon gut.“
„Sie brauchen doch das Geld.“
„Ist in Ordnung. Wirklich.“
Ohne nachzudenken, beugte ich mich zu ihr und schloss sie in die Arme.
Ich spürte, wie sie zitterte. „Sie haben mir ein paar schöne Stunden geschenkt. Danke dafür.“ Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln.
Nachdem ich ihr über die Hand gestreichelt hatte, drehte ich mich um.
„Warten Sie bitte noch!“, hauchte sie. An die Pflegerinnen gerichtet sagte sie: „Lassen Sie uns bitte einen Moment allein, ja?“
Die beiden Frauen entfernten sich wenige Meter. Die alte Dame öffnete ihre Brieftasche und holte aus einem Seitenfach ein kleingefaltetes Stück Papier heraus.
„Den Zeitungsartikel habe ich gestern gefunden. In einem alten Lederkoffer, der im Keller versteckt war.“
Sie deutete auf den Ausschnitt. „Ein paar Wochen danach ist mein Mann verstorben. Er lag einfach tot im Bett. Herzinfarkt. Das ist fünfzehn Jahre her.“
Ich verstaute das gefaltete Papier in der Hosentasche. Die alte Dame streckte sich im Rollstuhl ein wenig hoch und sprach mit leiser Stimme weiter. „Die Kellertür, hinten raus zum Garten, klemmt fürchterlich, ich konnte sie nie abschließen.“ Sie nahm den Kreuzanhänger und schob ihn hinter den Stoff des Kleids. „Beeilen Sie sich! Morgen Mittag kommt die Caritas, um die ganzen Sachen abzuholen, die in der Stube stehen.“
Ich kehrte zurück zum Taxi, fuhr nicht sofort los, sondern betrachtete noch eine Zeit lang die blaugraue Morgendämmerung. Gedanken an die alte Heimat schossen mir durch den Kopf.
Ich höre die schrillen, klagenden Rufe der Steppenkiebitze, das Knacken von Ästen im Unterhalt, spüre Fatimas warme Hand, die ich festhalte, die ich mit nach vorne ziehe, zur Seite, an einem Busch vorbei, wieder geradeaus. Fort. In Fatimas Bauchtrage unser Baby, Aisha. Es schläft. Vor uns die Hügelkette. Etwas durchbricht die Wolken, fällt vom Himmel, es wird laut, gleißend hell. Ich stolpere, schreie auf, lasse Fatimas Hand los.
Ich presste die Lippen zusammen, nahm den Zeitungsartikel und faltete ihn auf. Mit großen Lettern stand dort geschrieben: Banküberfall – Maskierter Räuber entkommt mit Beute.
Eine Stunde später stellte ich das Taxi in der Nähe des Hauses ab. Ich spürte mein Herz klopfen, trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, während ich durch die Scheibe schaute. Es war niemand zu sehen; ich stieg aus.
Von hinten schlich ich mich ans Haus heran, sah mich dabei immer wieder um. Ich stieg über den Jägerzaun; die Kellertür war leicht aufzubekommen. Eine Treppe führte hinauf in die Wohnung.
Den Lederkoffer fand ich hinter den Umzugskartons. Obendrauf klebte ein gelbes Post-it, auf dem "Spende für die Caritas" gekrakelt war. Ich legte den Koffer auf einen Umzugskarton und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Dann betätigte ich die Verschlüsse, die sofort aufsprangen. Als ich den Inhalt sah, verschluckte ich mich und trat einen Schritt zurück.
Ich dachte an meine Tochter. Ich dachte an meine Frau. Ich dachte an alle anderen, die ihre Familie zurücklassen mussten.
- Quellenangaben
- leider nicht ermittelbar, siehe auch Infobox