- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Zwölf Jahre zuvor
Es ist Wahljahr. Du hast nichts zu tun, bist arbeitslos, bist auf der Suche nach einem Job, eine Perspektive, für deine Kinder, für dich, für deine Familie. Die Tochter gerade mal Anderthalb. Kleiner Hosenschisser, wächst sehr schnell, wird immer größer. Vor anderthalb Jahren genau eine Elle lang. Das Köpfchen in der Hand, die Füßchen bis zur Elle. Wie klein das Leben anfangen kann? Und nun ... schon lange die ersten Gehversuche hinter sich, standfest geworden ... die ersten Laute „Deidei, deidei!“ lauthals gerufend, wenn sie etwas in die Hand gegeben haben möchte, um es untersuchen zu können ... und ... unbeschreiblich ... diese pure Lust am Leben. Unschuldig, kindlich. Unschuldig auch, wenn sie still und klammheimlich abends in ihrem Kinderschlafsack noch einmal aus dem Gitterbett klettert, um mit unsagbarer Wonne und schmierender Haarglanzspülung das Klo einseift. Der Sohn! Geschlechtlich noch unerkannt im Mutterleib, kurz vor seiner Geburt. Vaterstolzgeschwellte Brust!
Es ist Wahljahr! Auf dem Arbeitsmarkt passiert nichts. Neue Zahlen über die Arbeitslosigkeit werden wahr. Kein Ende in Sicht. Die Politiker, sie streiten sich. Es ist ja auch Wahljahr. Du gehst zum Arbeitsamt und sprichst mit deinem Berater, dem Mann vom Arbeitsamt. Der Mann vom Arbeitsamt stellt fest, das du ein schlaues Kerlchen bist, der schon einige Sachen schaffen kann, wenn man ihn mal lassen würde. Er schaut noch einmal auf das Zeugnis, um sich zu vergewissern: Bestens, dieser Kandidat! Auch ist er in einem Alter, in dem er noch Selbstbestätigung sucht, etwas schaffen will, sein Leben selbständig in den Griff kriegen will, um seinen Kindern etwas zu bieten. Familienförderung, denkt er sich noch. Eine Entscheidung für das Leben ist gefallen! Es ist Wahljahr, ein Jahrmarkt der Parteien, ein buhlen um die Stimmen. Ich gebe dir etwas und du stimmst mir zu.
Du bekommst einen Termin für einen psychologischen Test angeordnet, bei dem deine Leistungsfähigkeit wie logisches Denken und so weiter und so fort getestet wird. Denken erwünscht! Es ist ja auch Wahljahr. Post vom psychologischen Dienst. Du öffnest mit mulmigem Gefühl im Bauch. Unsicherheit kriecht aus dem Umschlag. Doch du liest: Testergebnisse erfüllen die Erfordernisse. Hürde genommen! Du freust dich und denkst: Hast ja doch alle Tassen im Schrank. Doch dein wichtigster Gedanke: Es geht weiter! Und du liest weiter: Einladung zu einem Gespräch, sehr schnell, bitte. Es ist Wahljahr!
Man trifft sich wieder. Die Probanden vom psychologischen Test. Erkennt einander. „Hallo! Du hast es auch geschafft?“ Keine Erinnerung an jene, welche den Test nicht geschafft haben, schon längst verblichene Gestalten. Ein Hauch von Selbstbestätigung erhebt sich über die Gruppe der Probanden, welche für eine Umschulung vorgesehen sind, als eine Versammlung, ein Kollektiv, in den Schulungsräumen der IHK, einberufen, von dem Mann vom Arbeitsamt. Man traf sich im erlauchten Kreis der psychologisch Ausgesuchten. Alle haben ein Ziel vor Augen: Es geht weiter! Es ist ja auch Wahljahr!
Nun kam eine kurze Ansprache, in den Seminarräumen, in der IHK, von dem Mann des Arbeitsamtes, der verspätet und hektisch herein brach: „Sehr geehrte Teilnehmer, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Schlechte zuerst. Die geplante Umschulung findet nicht statt.“ Der Hauch von Selbstbestätigung, zerschlagen wie ein rohes Ei. Es folgt das erste Gefühl der Empörung, ausgedrückt durch ein spontanes kollektives Raunen. Nach kurzem gemeinsamen Verdauen dieser schlechten Nachricht, schwappten die ersten Fragen der Probanden, erst als kleine Brandung, jedoch drohend sich aufzubäumen zu einer Welle der Empörung. Rufe, wie: „Das kann doch wohl nicht war sein, warum werden wir denn dann erst eingeladen und getestet?“ oder „Konnte man das nicht früher erfahren?“ oder „Erst testen und dann nichts ...?“ Die Gruppe der Probanden zersprengt, die Hoffnungen des „Es geht weiter“-Gefühls zerquetscht, mit nur einem Satz. Darauf folgte Unruhe, viele Fragen, erboste Gefühle. Es ist doch Wahljahr!
Alle hatten ihr bestes gegeben, postalisch bestätigt! Den Brief zur Einladung noch in der Hand haltend, in der Gewissheit, das dieser nun nicht mehr das Porto wert war, welches für die Zustellung ausgegeben wurde. In der Hand haltend die neue berufliche Chance in Sicht gehabt zu haben, mit den Erwartungen eines besseren Lebens, einer besseren Qualität oder wie unterschiedlich Erwartungen auch sein können. Alle Erwartungen ronnen in diesem Augenblick unhaltbar wie feinster Sand zwischen den Fingern aus der Hand. Durch einen einzigen Satz, der wie ein unbändiger Fluch ausgesprochen wurde. Alle packte ein Höhentief. Ja! Es ist Wahljahr.
Der Mann vom Arbeitsamt stand wie ein Fels in der Brandung, von den Wogen der Empörung und der Flut von Fragen tosend umspült. Als das, durch postalische Psychologie entstandene kollektive „Es geht weiter“-Gefühl einfach so mit dem sehr kurzen Satz jedem einzelnen geraubt wurde. Vorbereitet war er darauf, das die Wogen der Empörung und des Unverständnisses dermaßen anwuchs, das das Boot der Gemeinsamkeit zu kentern drohte und er versuchte in dieser Not doch noch ein paar Seelen zu retten mit dem Satz: „Die gute Nachricht!“. Es ist doch Wahljahr.
Mit diesem Satz bändigte er, wie mit einem Bannzauber, sofort den tosenden Sturm. Alles verstummte, um den geworfenen Rettungsring zu sichten. Gute Nachricht also. Und er fuhr wie eine Maschine fort: „Also, der Kurs der hier vor Ort vorgesehen und auch schon komplett durchgeplant war findet definitiv nicht statt. Die zugesagten Mittel waren auch schon vorhandenen, doch jetzt haben wir die Mittel gesperrt bekommen.“ Verschiedene Zwischenrufe ließen Zweifel an der redlichen Aussage des Mannes vom Arbeitsamt aufkommen, denn alle spürten das verzeifelnde „Es geht nicht mehr weiter“-Gefühl. Es ist doch Wahljahr!
Doch dieser versicherte standhaft: „Herrschaften, ich kann ihre Aufregung sehr gut verstehen. Aber verstehen sie auch mich doch mal.“ Bei diesen Worten lüftete er seine Brillen kurz nach vorne, um sie anschließend wieder aufzusetzen und ohne Pause fortzufahren: „Wir planen bereits ein ganzes Jahr an diesem Kurs. Der Bildungsträger und wir haben gewisse Auflagen zu erfüllen, damit der Berufsabschluss vor der Prüfungskommission auch abgenommen werden kann. Der Prüfungsausschuss stellt dermaßen hohe Anforderungen an den Kurs, wie sie in keinem anderen Beruf zuvor gestellt wurden. Seit einem Jahr versuchen wir den Kurs zu ermöglichen und wir haben gewaltige Anstrengungen unternommen, ihnen diesen Kurs zu ermöglichen. Dieser Kurs ist mein Kind! Das die Mittel nun gesperrt wurden, ich kann es nicht erklären ...“, er machte nun spontan eine kurze Pause, um tief Luft zu holen und fuhr mit einem bitteren Unterton fort: „trifft mich in Wahrheit mehr als sie.“ und nach einer weiteren kleinen Pause fuhr er in seiner bekannt hektischen üblicherweise pausenlosen Weise weiter: „Ich habe alles Versucht diesen Kurs doch noch zu veranstalten. Ich habe bis in das Landesministerium hinterher telefoniert und dort nimmt man mich für gewöhnlich auch ernst. Doch, ... es geht nicht mehr. Alle Kurse sind gestrichen aufgrund einer Haushaltssperre. Sie müssen sich das mal überlegen: Was passiert den jetzt mit meinem Arbeitsplatz?“ Der zuletzt gesprochen Satz hinterließ einen bitteren ironischen Geschmack und der zuvor mit Hoffnung gefüllte Raum wurde mit Schweigen erstickt. Es ist Wahljahr.
Nach einer Weile der Erstickung versuchte einer nach Luft zu schnappen, mit der Frage: „Ja, und was ist denn jetzt mit der guten Nachricht.“ Der Mann vom Arbeitsamt fuhr schlagartig und hektisch fort: „Es gibt einen Kurs in der Nachbarstadt. Die ist ja auch in erreichbarer Nähe. Sie können ja Fahrgemeinschaften bilden. Die Fahrtkosten bekommen Sie ja auch ersetzt. Dieser Kurs ist bereits angelaufen. Jedoch nur das sechswöchige Vorpraktikum. Das läuft erst seit drei Wochen. Es ist im Grunde genommen noch gar kein Unterricht gelaufen. Die trinken da im Moment noch eher Kaffee. Ich hatte jetzt bevor ich zu Ihnen kam mich noch einmal telefonisch informiert bei dem Bildungsträger. Die warten schon regelrecht auf weitere Kursteilnehmer, damit sie den Kurs voll haben, weil dieser Kurs unterbesetzt ist. Der ist unter 10 Leuten, das heißt der dürfte gar nicht stattfinden. Wenn wir den jetzt nicht voll kriegen, dann wird dieser Kurs auch aller Voraussicht nach aufgelöst. Das heißt, wenn Sie jetzt daran teilnehmen, dann können wir den Kurs durchführen.“, den letzten Satz betonte er mit wehements, um dann noch einmal zu verdeutlichen: „Herrschaften, der eigentliche Kurs hat noch nicht angefangen. Der Quereinstieg ist überhaupt kein Problem. Dort sind noch ein paar Plätze frei. Es sind nicht genügend Plätze für alle vorhanden und ich denke mal, alle könnten auch nicht sofort dort beginnen, oder?“ Er schweifte mit kurzem Blick über die nun verbal gespaltene postalisch psychologisch kollektiv gebildete „Es geht weiter“-Gefühlsgemeinschaft und fuhr kurzerhand fort: „Daher frage ich erst einmal an, wer von Ihnen denn nun sofort dort anfangen möchte?“ Tja, es ist ja Wahljahr.
Nur sieben hoben den Finger spontan. Die Namen der willigen Probanden wurden unverzüglich aufgenommen in einer Liste. Als ich nach meinem Namen, gefragt wurde, merkte ich erst das auch mein Finger nach oben zeigte und ich hörte mich innerlich hallend: „ Es geht weiter, Deidei, denn es ist Wahljahr.“