Was ist neu

Zwei Zimmer, Küche, Bad

Mitglied
Beitritt
12.02.2020
Beiträge
439
Zuletzt bearbeitet:

Zwei Zimmer, Küche, Bad

Ich wache auf und bin hellwach. Die Hexe hockt auf meiner Brust, presst ihre spindeldürren Finger um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab.
„Du wirst nirgendwohin gehen“, sagt sie.
Ich nicke und sie lockert ihren Griff. „Hier sind wir sicher. In dieser Wohnung.“
Ich weiß das. Ich hatte geglaubt, dass ich heute nach dem Frühstück die Jacke überwerfen, die Tür öffnen und die Wohnung verlassen würde, dass ich aus dem Haus auf die Straße treten und am Hauptbahnhof in den Zug nach Hannover steigen würde. Allein bei dem Gedanken an die Straße, den Bahnhof, den Zug wird ihr Griff um meinen Hals wieder fester.
„Alles ist gut“, sage ich. „Ruhig atmen!“
Die halbjährlichen Mitarbeitergespräche finden - auch für diejenigen im Home Office - ab sofort wieder in Präsenz statt, hatte vor vier Wochen in der E-Mail gestanden. Habe ich ernsthaft geglaubt, ich würde daran teilnehmen? In Präsenz? Wahrscheinlich habe ich es gehofft. Aber sie wird mich nicht nach Hannover fahren lassen.

Ich muss aufs Klo. Vom Bettende sind es drei Schritte bis zum Flur, vier Schritte über den Flur bis zum Bad, dann drei zur Toilette. Das Bad ist klein, wenn ich will, kann ich gleichzeitig pinkeln, Hände waschen und die Füße duschen. Drei Schritte zum Flur, vier zum Schlafzimmer, noch drei und ich bin wieder im Bett. Die Kastanie vor dem Fenster. Für mich ist es kein Fenster. Es ist ein Bild: dunkle, kahle Äste vor einem asphaltgrauen Himmel. Titel: Kastanie im Herbst. In meiner Wohnung gibt es keine Fenster. Sie hat die Fenster gefressen, wie auch fast alles andere in meinem Leben: meine Freunde, den Sportkurs, lange Spaziergänge im Wald und meine Selbstachtung. Alles, was ich noch habe, ist mein Job. Ohne ihn wäre ich nur ein Ding auf zwei Beinen. Das isst und verdaut und aufs Klo geht. In dieser Wohnung. Ich weiß, es gibt einen Planeten da draußen, ein ganzes, verdammtes Universum. Aber nicht für mich.

Ich stehe auf. Drei Schritte bis zum Flur, zwei zum Wohnraum, fünf bis zum Schreibtisch. Ich setze mich, fahre den Rechner hoch, an der Wand hängt: Häuserzeile. Ich schreibe an Clemens. Lieber Clemens, es tut mir sehr leid, ich muss das Mitarbeitergespräch heute kurzfristig absagen. Offenbar habe ich mir einen MD-Virus eingefangen und ich fühle mich körperlich nicht in der Lage nach Hannover zu kommen, hoffe aber, morgen wieder beim Daily dabei zu sein. Viele Grüße aus Bremen, Sarina. Ich fahre den Rechner wieder runter.
Fünf Schritte vom Schreibtisch zum Flur, vier zur Küche, drei zum Wasserkocher. Während das Wasser kocht, fülle ich losen Darjeeling in einen Teefilter. Vor mir im Türformat: Balkon vor Kastanie. Zwei Schritte und ich kann den ganzen Innenhof sehen, die Rückseiten der Häuser, die ihn umgeben, den Kobel in einer Astgabel ein, zwei Meter unter mir. Kälte dringt durch das Glas der Balkontür. Sie ist aus Holz, einfachverglast, mit einem schönen, alten Metallgriff, dessen Lack an einigen Stellen abgeplatzt ist. Ich lege die Hand auf den Griff. Ein Schritt nur. Die Hexe spannt sich an. Draußen hat es zu regnen begonnen, ich gieße den Tee auf und setzte mich mit der Tasse an den kleinen, quadratischen Küchentisch. Balkon vor Kastanie im Blick.

Der Tee schmeckt nach nichts. Ich schaufle zwei Teelöffel Zucker rein und rühre. Ich frage mich, ob Stillstand eine eigene Art von Bewegung ist, eine in der man weitergetragen wird und trotzdem bleibt. Es klingelt an der Haustür.
Fünf Schritte bis zum Summer. Muss ich die Wohnungstür öffnen, rast mein Herz schon im Flur. Ich schaue durch den Spion. Ein Mann kommt die Treppe hoch. Er ist noch jung und ich würde gerne die Tür öffnen, ihn anlächeln, mich bedanken, sein Aftershave riechen oder seinen Schweiß. Aber durch die geschlossene Tür sage ich: „Stell das Paket einfach vor die Tür!“ Ich warte, bis ich ihn nicht mehr sehe und unten die Haustür zufällt.
Sobald ich die Wohnungstür öffne, bricht der Schweiß aus.
„Zu!“, kreischt die Hexe. „Zu! Zu! Zu!“
Schnell nehme ich das Paket, schließe die Tür, sacke zusammen, direkt hier im Flur, und weine. Ich weiß, wann es angefangen hat, aber nicht, wie es so geworden ist.

Es war im Frühjahr, vor zweieinhalb Jahren. Im Supermarkt trugen die Menschen Masken über den Gesichtern. Mir war übel und auf dem Weg nach Hause übergab ich mich in einen Vorgarten. Ein paar Tage habe ich in einem Dämmerzustand im Bett verbracht. Seitdem bin ich in keinem Supermarkt mehr gewesen. Die Hexe wollte, dass ich in der Wohnung bleibe und nach einem halben Jahr, in dem jeder Versuch einzukaufen oder spazieren zu gehen, schlimmer war als der davor, habe ich meinen Widerstand aufgegeben. Der Lieferdienst stellt mir die Einkäufe direkt vor die Tür. Ist alles kein Problem, man kann sich wirklich alles liefern lassen. Außer Mitarbeitergespräche in Präsenz. Den Schritt vor die Tür gibt es nicht im Angebot. Er kostet mehr Mut, als ich habe. Ich schlage meinen Hinterkopf gegen die Wand. Mehr Mut, als ich habe. Aus mir kommt ein Laut, den ich nicht kenne. Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Atme ich oder weine ich? Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen! In meinen Ohren nur Rauschen. In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.

Als mein Atem ruhiger wird, denke ich an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben. Seit einem Jahr liegt es irgendwo herum. Ich habe es abgebrochen, nach dem Zitat von Erich Kästner im Vorwort: Leben ist immer lebensgefährlich. Fuck you very much! Ich stehe auf. Fünf Schritte bis zum Bücherregal, wo ich es sofort finde. Es ist viel dünner, als ich es in Erinnerung habe. Ich setze mich aufs Sofa, das Buch auf meinen Knien. Die Hexe hasst es, aber ich bin erschöpft vom Weinen und habe Kopfschmerzen, darum ist es mir egal. Im Treppenhaus höre ich jemanden lachen und denke an Luisa. Wir sind in die gleiche Klasse gegangen. In der Neunten hat sie mir hinter der Sporthalle das Rauchen beigebracht. Keine Ahnung, warum ich in diesem Moment an sie denke, Luisa hat ganz anders gelacht und nach dem Abi habe ich sie nie wieder gesehen. Ich lege das Buch zur Seite und gehe drei Schritte zum Schreibtisch, fahre den Rechner hoch und tippe in die Suchmaschine: Luisa Niemann.

Es gibt einige Luisa Niemanns, aber keine davon ist meine alte Schulfreundin. Ich tippe weitere Namen ein. Thorben Schilling ist Moderator beim Radiosender Bremen Eins. Unerwartet, der war früher immer so still. Von mir dachten alle, dass ich Illustration studiere, aber nach meinem Jahr als Au-pair habe mich für Informatik entschieden. Ich suche nach Julia Bickel, früher ein zierliches Mädchen mit Haaren auf den Zähnen, und während ich mir die Suchergebnisse anschaue, ist auf einmal dieser Gedanke da: Habe ich wirklich vier Wochen lang geglaubt, ich würde heute nach Hannover fahren? Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr draußen gewesen. Natürlich fahre ich heute nicht nach Hannover. Und morgen auch nicht. Oder nächste Woche. Wenn es so weitergeht, fahre ich nie wieder nach Hannover. Der Gedanke macht mir mehr Angst als das, was mein Körper draußen tut.
„So geht es nicht weiter!“, sage ich. Zu der Hexe. Zu mir. Und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich ihr nicht komplett ausgeliefert.

Ich öffne den Mail-Client, klicke auf den Button „Neue E-Mail“ und schreibe: Lieber Clemens, ich möchte meine Mail von heute früh korrigieren und mich dafür entschuldigen. Ich habe nicht wegen eines Virus abgesagt, sondern wegen meiner Agoraphobie. Im Moment kann ich meine Wohnung nicht verlassen. Mir ist heute klar geworden, dass ich es allein nicht schaffe und ich werde mir Hilfe suchen.
Mir ist wichtig, dass du Bescheid weißt. Herzliche Grüße, Sarina.

 

Hallo @Katta,

Ich wache auf und bin hellwach. Die Hexe hockt auf meiner Brust, presst ihre spindeldürren Finger um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab.
„Du wirst nirgendwohin gehen“, sagt sie.
Ich nicke und sie lockert ihren Griff. „Hier sind wir sicher. In dieser Wohnung.“
Ich lese vier Zeilen und bin hellwach.
War da nicht der Alltags-Tag dran? Hexe? Raus und nochmal rein. Ja, war Alltag. Ok, also keine echte Hexe. Aber ein erster Hinweis: es wird kein seichter Text.

Für mich ist es kein Fenster. Es ist ein Bild: dunkle, kahle Äste vor einem asphaltgrauen Himmel. Titel: Kastanie im Herbst. In meiner Wohnung gibt es keine Fenster.
Sehr bedrückend dargestellt. Das genaue Kennen der Schrittanzahl oder diese Realitätsverweigerung mit dem Fenster. Gut in die Geschichte reingezogen.

Vor mir im Türformat: Balkon vor Kastanie. Zwei Schritte und ich kann den ganzen Innenhof sehen, die Rückseiten der Häuser, die ihn umgeben, den Kobel in einer Astgabel ein, zwei Meter unter mir. Kälte dringt durch das Glas der Balkontür. Sie ist aus Holz, einfachverglast, mit einem schönen, alten Metallgriff, dessen Lack an einigen Stellen abgeplatzt ist. Ich lege die Hand auf den Griff. Ein Schritt nur. Die Hexe spannt sich an. Draußen hat es zu regnen begonnen, ich gieße den Tee auf und setzte mich mit der Tasse an den kleinen, quadratischen Küchentisch. Balkon vor Kastanie im Blick.
Ah, die Sehnsucht nach ... Veränderung? Normalität? Einem ersten Schritt in eine Beinahe-Normalität? Beeindruckende Bildsprache.

Es war im Frühjahr, vor zweieinhalb Jahren. Im Supermarkt trugen die Menschen Masken über den Gesichtern. Mir war übel und auf dem Weg nach Hause übergab ich mich in einen Vorgarten. Ein paar Tage habe ich in einem Dämmerzustand im Bett verbracht. Seitdem bin ich in keinem Supermarkt mehr gewesen. Die Hexe wollte, dass ich in der Wohnung bleibe und ich bin geblieben.
Masken? Erst dachte ich an einen Überfall als Auslöser, aber da war mal irgendwas wegen einer Pandemie glaube ich. Verdrängen ist toll! Wenn man es kann...
Aber ohne jetzt die normalen Verläufe oder Auslöser einer Agoraphobie genau zu kennen, kommt es mir sehr schlagartig vor. Kein Unwohlsein vorher? Erste Anzeichen? Einmal Panikattacke und eingeigelt? Ausgerechnet während Covid, als man zwar viel mit Ängsten kämpfte, aber zumindest ein wenig auf Abstand geachtet wurde. (Manchmal).

Ist alles kein Problem, man kann sich wirklich alles liefern lassen. Außer Mitarbeitergespräche in Präsenz. Den Schritt vor die Tür gibt es nicht im Angebot. Er kostet mehr Mut, als ich habe. Ich schlage meinen Hinterkopf gegen die Wand. Mehr Mut, als ich habe. Aus mir kommt ein Laut, den ich nicht kenne. Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Atme ich oder weine ich? Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen! In meinen Ohren nur Rauschen. In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.
Hut ab!

Von mir dachten alle, ich würde Illustrationen zu studieren, aber heute verdiene ich mein Geld als Backend-Entwicklerin und bin zufrieden.
Ich würde Illustrationen zu studieren? Da passt was nicht.
bin zufrieden? Halte ich für ein Gerücht! Oder ist finanzielle Zufriedenheit gemeint?

„So geht es nicht weiter!“, sage ich. Zu der Hexe. Zu mir. Und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich ihr nicht komplett ausgeliefert.
Der Wunsch ist das eine. Das Denken das Nächste, aber das bewusste laut Aussprechen, ist eine Absichtserklärung. Die es umzusetzen gilt.
Klasse!

Ich muss mich ehrlich entschuldigen, weil ich in dem Text wenige Kritikpunkte finde. Die Bildsprache finde ich beeindruckend. Man fühlt mit.
Schließlich hat jeder so seine Ängste, aber zumeist nicht in dieser Größenordnung.
Erst dachte ich: was soll dieses Aufzählen an Klassenkameraden? Bis mir auffiel, klar: Das ist ein erstes Akzeptieren, es gibt ein draussen. Und es hatte was. Und Sarina will das.
Dieses Personifizieren der Phobie finde ich sehr stark. Und auch wenn es mir zum Schluss hin etwas schnell ging, so war doch klar zu erkennen: Der Wunsch Auszubrechen war lange da, aber das Erkennen und dann auch Eingestehen, man braucht dazu Hilfe, finde ich schön beschrieben.

Begeistert gelesen,
Tsunami

 

Hallo Katta,

Als mein Atem ruhiger wird, denke ich an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben. Seit einem Jahr liegt es irgendwo herum. Ich habe es abgebrochen, nach dem Zitat von Erich Kästner im Vorwort: Leben ist immer lebensgefährlich. Fuck you very much! Ich stehe auf. Fünf Schritte bis zum Bücherregal, wo ich es sofort finde. Es ist viel dünner, als ich es in Erinnerung habe. Ich setze mich aufs Sofa, das Buch auf meinen Knien. Die Hexe hasst es, aber ich bin erschöpft vom Weinen und habe Kopfschmerzen, darum ist es mir egal.

Das ist der schwächste Moment in einem sonst sehr starken Text. "Ich denke an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben" - das ist Exposition für Dummies.

Bis zu diesem Punkt arbeitet der Text brilliant mit der Unbestimmtheit. Wir wissen was los ist, aber es bleibt in der Hexe-Metapher gefangen. Die klinische Benennung zerstört die literarische Ambiguität. Es ist, als würde mitten in Kafkas "Die Verwandlung" jemand sagen: "Gregor Samsa leidet an akuter Metamorphose".

Wenn Sarina am Ende zum ersten Mal das Wort "Agoraphobie" ausspricht - gegenüber ihrem Chef, gegenüber sich selbst - wäre das ein kraftvoller Moment des Benennens. Das erste Mal, dass sie der Hexe ihren richtigen Namen gibt. So ist es nur noch bloße Wiederholung.


Ansonsten aber sehr gerne gelesen!

Gruß,
Corwin

 

Hallo @Katta

ich mag die Art, wie du schreibst. Das liest sich sehr angenehm und hat für mich auch ein paar sehr schöne Stellen drin! Insgesamt hat mir deine Geschichte auch gut gefallen. Ich glaube aber, dass da auch noch ein paar Dinge sind, die angepasst werden könnten. Ich finde zB, dass du ruhig noch ein wenig mehr (das machst du ja schon mit den Bildern) auf die Schwere des Raumes eingehen könntest. Ich finde es zB faszinierend, wie sich (je nach Gemütslage) derselbe Raum und die Stimmung komplett verändern können, je nachdem, wie man selbst gerade so vor Ort ist und in welchem Zustand. Selbst das Licht wirkt dann manchmal wie ausgetauscht. Das hat mir noch ein bisschen gefehlt.
Aber ist schon alles Meckern auf recht hohem Niveau. Finde deinen Text gut und habe ihn sehr gerne gelesen. ich glaube nur, dass er mit ein paar kleinen Veränderungen wirklich sehr gut werden könnte!

Ein paar Anmerkungen:

Vom Bettende sind es drei Schritte bis zum Flur, vier Schritte über den Flur bis zum Bad, dann drei zur Toilette. Das Bad ist klein, wenn ich will, kann ich gleichzeitig pinkeln, Hände waschen und die Füße duschen. Drei Schritte zum Flur, vier zum Schlafzimmer, noch drei und ich bin wieder im Bett. Die Kastanie vor dem Fenster. Für mich ist es kein Fenster. Es ist ein Bild: dunkle, kahle Äste vor einem asphaltgrauen Himmel.
Eine tolle Stelle. Hat mir gut gefallen, wie du den Raum quasi nachzeichnest.

wie auch fast alles andere in meinem Leben: meine Freunde, den Sportkurs, lange Spaziergänge im Wald und meine Selbstachtung.
Das ist mir hier zu sehr aufs Auge gedrückt, zu ausformuliert und erklärt, geichzeitig mit einem Satz abgehakt. Da fehlt mir noch mehr zu! Wie sind die Freunde weggebrochen? Wie wirkt sich das aus? Ging es schleichend? War es mit Vorwürfen verbunden? Usw. Da kann ja noch eine ganze Menge mit rein!

Ich frage mich, ob Stillstand eine eigene Art von Bewegung ist, eine in der man weitergetragen wird
Fragt sie sich das auf diese Art und Weise wirklich? Solche tiefschürfenden Gedanken? Hat mich ein wenig herausgerissen.

Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr draußen gewesen.
Das habe ich mich auch die ganze Zeit gefragt: Wie lange dauert denn schon dieser Zustand?Was mir dann, nachdem es ausformuliert wurde, gefehlt hat, war die Antwort auf die Frage, was denn ihr Umfeld damit gemacht hat. Ich meine, wenn eine Freundin von mir plötzlich nicht mehr rausgehen würde, würde ich doch versuchen, da irgendwie Kontakt aufzunehmen, mich zu kümmern, Hilfe anzubieten usw. Ist das passiert? Wenn nicht, warum nicht? Was hat die Hexe in diesem Moment unternommen? Das muss alles ja nicht haarklein ausbuchstabiert werden, aber so ein bisschen mehr dazu fände ich gut!

Ich öffne den Mail-Client, klicke auf den Button „Neue E-Mail“ und schreibe: Lieber Clemens, ich möchte meine Mail von heute früh korrigieren und mich dafür entschuldigen. Ich habe nicht wegen eines Virus abgesagt, sondern wegen meiner Agoraphobie. Im Moment kann ich meine Wohnung nicht verlassen. Mir ist heute klar geworden, dass ich es allein nicht schaffe und ich werde mir Hilfe suchen.
Mir ist wichtig, dass du Bescheid weißt. Herzliche Grüße, Sarina.
Mir ist nicht ganz klar, warum sie ausgerechnet ihrem Chef diese ehrliche Mail schreibt. Das ist ja auch so ein wenig das Offenlegen einer sehr intimen Schwäche. Ist er da tatsächlich Ansprechperson Nummer 1? Was ist denn zB mit der Mutter, die ja offensichtlich Bescheid weiß, sonst hätte sie ja das Buch nicht geschenkt. Oder eben Freundinnen und Freunden? Oder hat sie einen besonderen Bezug zu Clemens? Dann findet das im Text aber noch nicht statt.

Beste Grüße
Habentus

 

Hallo @Tsunami,
vielen Dank dir fürs Lesen und deinen Kommentar.

Ich muss mich ehrlich entschuldigen, weil ich in dem Text wenige Kritikpunkte finde.
och, finde ich jetzt nicht sooo schlimm :lol:, da kommen sicher noch andere Kommentatoren, die bringen dann mehr Kritik mit, aber für jetzt nehm ich das jetzt einfach als Kompliment an und freu mich drüber ... Es gibt ja auch ein paar Punkte, die du angesprochen hast und an zwei Sätzen hab ich auch noch mal geschraubt ...

Ich lese vier Zeilen und bin hellwach.
War da nicht der Alltags-Tag dran? Hexe? Raus und nochmal rein. Ja, war Alltag. Ok, also keine echte Hexe.
Ja, der Anfang ist sicher etwas riskant mit der Hexe ...

Masken? Erst dachte ich an einen Überfall als Auslöser, aber da war mal irgendwas wegen einer Pandemie glaube ich. Verdrängen ist toll! Wenn man es kann...
Aber ohne jetzt die normalen Verläufe oder Auslöser einer Agoraphobie genau zu kennen, kommt es mir sehr schlagartig vor. Kein Unwohlsein vorher? Erste Anzeichen? Einmal Panikattacke und eingeigelt? Ausgerechnet während Covid, als man zwar viel mit Ängsten kämpfte, aber zumindest ein wenig auf Abstand geachtet wurde. (Manchmal).
Ja, der Satz mit den Masken ist noch nicht rund, hatte auch OP-Masken oder FFP2-Masken oder so gedacht. Mal gucken, vielleicht fällt mir da noch was ein, um die Assoziation Maskenball oder Überfall zu umgehen. Zur Entwicklung der Agoraphobie habe ich auch noch einen Satz eingefügt, das ist quasi die größte Schwachstelle für mich im Text und gleichzeitig will ich nicht von diesem Moment oder Tag ablenken, um den es mir eigentlich geht, d.h. ich will da eigentlich nicht szenisch reingehen in die Vergangenheit und zeigen, wie sich was entwickelt hat. Vielleicht fällt mir noch etwas ein, aber im Moment hab ich noch keine richtige Idee, wie ich diese Leerstelle gleichzeitig füllen und offen lassen kann.

Ich würde Illustrationen zu studieren? Da passt was nicht.
bin zufrieden? Halte ich für ein Gerücht! Oder ist finanzielle Zufriedenheit gemeint?
Korrigiert und auch noch mal umformuliert, das ging nicht so richtig in die Richtung, in die ich wollte.

Hallo @Corwin und ganz herzlich willkommen im Forum. Wirklich toll, dass du gleich so ins Kommentieren einsteigst und vielen Dank auch fürs Lesen und deinen Kommentar.

Das ist der schwächste Moment in einem sonst sehr starken Text. "Ich denke an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben" - das ist Exposition für Dummies. Bis zu diesem Punkt arbeitet der Text brilliant mit der Unbestimmtheit. Wir wissen was los ist, aber es bleibt in der Hexe-Metapher gefangen. Die klinische Benennung zerstört die literarische Ambiguität. Es ist, als würde mitten in Kafkas "Die Verwandlung" jemand sagen: "Gregor Samsa leidet an akuter Metamorphose". Wenn Sarina am Ende zum ersten Mal das Wort "Agoraphobie" ausspricht - gegenüber ihrem Chef, gegenüber sich selbst - wäre das ein kraftvoller Moment des Benennens. Das erste Mal, dass sie der Hexe ihren richtigen Namen gibt. So ist es nur noch bloße Wiederholung.
Interessante Sichtweise, kann ich nachvollziehen, wobei es aber nicht als Exposition gedacht war, sondern als logische oder organische Fortführung eines Prozesses. Ich finde deine Idee, das am Ende erstmals zu benennen gut, mir fällt im Moment allerdings nur ein, beim Benennen des Buchtitels auf das Wort Agoraphobie zu vermeiden oder wahrscheinlich noch besser, auf den Buchtitel insgesamt. Andererseits bin ich nicht sicher, ob es sich dann nicht sehr wie auf einen Effekt hingeschrieben anfühlt. Und dieser Moment, ich nehme das Buch wieder heraus, ist ja auch ein wichtiger, auf den kann ich nicht einfach verzichten ohne dass die ganze Story an rotem Faden verliert. Jedenfalls danke für deine Anmerkung, ich werde auf jeden Fall drüber nachdenken und natürlich freut mich, dass du es ansonsten gerne gelesen hast.

Hallo @Habentus,
auch dir lieben Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Ich finde zB, dass du ruhig noch ein wenig mehr (das machst du ja schon mit den Bildern) auf die Schwere des Raumes eingehen könntest. Ich finde es zB faszinierend, wie sich (je nach Gemütslage) derselbe Raum und die Stimmung komplett verändern können, je nachdem, wie man selbst gerade so vor Ort ist und in welchem Zustand. Selbst das Licht wirkt dann manchmal wie ausgetauscht. Das hat mir noch ein bisschen gefehlt.
Das muss ich noch mal etwas sacken lassen und überlegen, was sich für diesen Moment daraus noch ergeben könnte. Denn das Licht ändert sich da zb nicht, es ist halt bedeckt, aber ich denke, ich weiß was du so grundsätzlich meinst.

Finde deinen Text gut und habe ihn sehr gerne gelesen. ich glaube nur, dass er mit ein paar kleinen Veränderungen wirklich sehr gut werden könnte!
1. freut mich und 2. da bin ich nicht sicher, weil wie du ja dann weiter unten schreibst, fehlt dir noch was im Text und ich weiß nicht, ob ich das, was dir fehlt in dem Text wirklich drin haben will. Für mich soll das eine Momentaufnahme sein und die größte herausforderung für mich ist oder war quasi die Vergangenheit mit einzubinden und gleichzeitig offen zu lassen. Kann aber sein, dass das am Ende nicht aufgeht bzw dass genau das eben Leser:innen fehlt.

wie auch fast alles andere in meinem Leben: meine Freunde, den Sportkurs, lange Spaziergänge im Wald und meine Selbstachtung.
Das ist mir hier zu sehr aufs Auge gedrückt, zu ausformuliert und erklärt, geichzeitig mit einem Satz abgehakt. Da fehlt mir noch mehr zu! Wie sind die Freunde weggebrochen? Wie wirkt sich das aus? Ging es schleichend? War es mit Vorwürfen verbunden? Usw. Da kann ja noch eine ganze Menge mit rein!
Okay, ist notiert. Ich warte mal ab, was andere noch so sagen oder wie sich meine eigene Lesart dazu entwickelt. Ja, Behauptung und du willst sehen, wie genau es war, willst dir dein eigenes Bild dazu machen ... keine Ahnung, ob ich das lösen kann, ich überlege jedoch ...

Ich frage mich, ob Stillstand eine eigene Art von Bewegung ist, eine in der man weitergetragen wird
Fragt sie sich das auf diese Art und Weise wirklich? Solche tiefschürfenden Gedanken? Hat mich ein wenig herausgerissen.
Die tiefschürfenden Gedanken find ich nicht falsch, also für mich passt das zur Figur und zur Situation, aber vielleicht werd ich hier noch mal genauer schreiben, was sie denkt, es nicht so sehr auf diesen einen Gedanken fixieren, sondern den etwas ausführen. Ich wollte aber auch nicht zu "essayistisch" werden, darum hab ich es bei einem Satz belassen, bin aber mit der Stelle auch noch nicht so richtig zufrieden.

Das habe ich mich auch die ganze Zeit gefragt: Wie lange dauert denn schon dieser Zustand?Was mir dann, nachdem es ausformuliert wurde, gefehlt hat, war die Antwort auf die Frage, was denn ihr Umfeld damit gemacht hat. Ich meine, wenn eine Freundin von mir plötzlich nicht mehr rausgehen würde, würde ich doch versuchen, da irgendwie Kontakt aufzunehmen, mich zu kümmern, Hilfe anzubieten usw. Ist das passiert? Wenn nicht, warum nicht? Was hat die Hexe in diesem Moment unternommen? Das muss alles ja nicht haarklein ausbuchstabiert werden, aber so ein bisschen mehr dazu fände ich gut!
Ja, könnte ich alles beschreiben, will ich aber nicht. Ich verstehe, dass da was fehlt, dass da eine Leerstelle bleibt und ich überlege auch noch, aber ich glaube fast, dass ich die nicht werde füllen können, wenn der Text diese Momentaufnahme bleiben soll. Das alles zu beschreiben, würde ja einen ganzen Rattenschwanz nach sich ziehen, aber vielleicht fällt mir noch etwas ein, ein, zwei Sätze, die Klärung bringen ... ich überlege.

Mir ist nicht ganz klar, warum sie ausgerechnet ihrem Chef diese ehrliche Mail schreibt. Das ist ja auch so ein wenig das Offenlegen einer sehr intimen Schwäche. Ist er da tatsächlich Ansprechperson Nummer 1? Was ist denn zB mit der Mutter, die ja offensichtlich Bescheid weiß, sonst hätte sie ja das Buch nicht geschenkt. Oder eben Freundinnen und Freunden? Oder hat sie einen besonderen Bezug zu Clemens? Dann findet das im Text aber noch nicht statt.
Okay, nehm ich jetzt auch mal so zur Kenntnis und schaue mal, wie vielen anderen das noch so geht. Für mich passt das (klar, hätte es ja sonst nicht geschrieben). Sie hat keinen besonderen Bezug zu Clemens (darum findet das natürlich auch im Text nicht statt), aber er ist halt ihr dirketer Vorgesetzter und ich stelle mir vor, dass sie eine vertrauensvolle Beziehung haben ...


Vielen Dank euch allen für eure Kommentare und bis bald zum Gegenbesuch bei euren Challengetexten.
Viele Grüße
von Katta

 

Hallo Katta,

Interessante Sichtweise, kann ich nachvollziehen, wobei es aber nicht als Exposition gedacht war, sondern als logische oder organische Fortführung eines Prozesses. Ich finde deine Idee, das am Ende erstmals zu benennen gut, mir fällt im Moment allerdings nur ein, beim Benennen des Buchtitels auf das Wort Agoraphobie zu vermeiden oder wahrscheinlich noch besser, auf den Buchtitel insgesamt. Andererseits bin ich nicht sicher, ob es sich dann nicht sehr wie auf einen Effekt hingeschrieben anfühlt. Und dieser Moment, ich nehme das Buch wieder heraus, ist ja auch ein wichtiger, auf den kann ich nicht einfach verzichten ohne dass die ganze Story an rotem Faden verliert. Jedenfalls danke für deine Anmerkung, ich werde auf jeden Fall drüber nachdenken und natürlich freut mich, dass du es ansonsten gerne gelesen hast.

Ich würde die Buchszene auch keineswegs streichen – im Gegenteil, ich mag sie.
Dass es ein Geschenk der Mutter ist und dass die Hexe es hasst, funktioniert wirklich gut. Ich meinte in meinem Kommentar eher etwas anderes:

Warum muss es überhaupt ein „Lebensratgeber“ sein?

Da Sarinas Mutter ohnehin weiß, was los ist, hätte das Buch ja auch etwas ganz anderes sein können – etwas, das sie subtil oder literarisch stärkt, statt ihr Diagnosewissen zu vermitteln.
Zum Beispiel ein Roman, mit einer Figur, in der Sarina sich erkennt. Etwas, das sie emotional abholt statt „HASHTAG Krieg dein Leben in Ordnung“-Vibes zu erzeugen (überspitzt gesagt). Es würde dann auch mehr über die Beziehung zur Mutter aussagen.

Aber das ist nur eine Idee - letztlich ist es dein Text und der funktioniert auch so schon sehr stark!

Gruß,
Corwin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Katta,

dein Text lässt sich gut runterlesen und vermittelt ein klares Bild der Protagonistin und der Situation. Leider ist das für mich auch das Problem: der Text enthüllt wirklich alles und nimmt dem an sich spannenden Thema alles an Spannung. Ich finde, du gehst viel zu beflissen mit dem Stoff um, sodass er zumindest mich emotional überhaupt nicht erreicht.

Die Hexe

Eigentlich ist es egal, ob die Hexe eine Allegorie oder eine psychotische Vorstellung ist – es ist in beiden Fällen einfach sonnenklar, wofür sie steht. Dadurch entwickelt dieses Stilmittel in meinen Augen keine Kraft.

Weil ich es zufällig unter dem Text von @Sturek gelesen habe, greife ich diese Beobachtung hier gerne auf: Surreale Elemente müssen reale Reaktionen auslösen, damit man sie nicht schnell als surreale Zierde abqualifiziert. In Ansätzen erscheint deine Hexe als so ein reales Subjekt, zum Beispiel hier am Anfang:

Ich wache auf und bin hellwach. Die Hexe hockt auf meiner Brust, presst ihre spindeldürren Finger um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab.
„Du wirst nirgendwohin gehen“, sagt sie.
Ich nicke und sie lockert ihren Griff. „Hier sind wir sicher. In dieser Wohnung.“
Ich weiß das. Ich hatte geglaubt, dass ich heute nach dem Frühstück die Jacke überwerfen, die Tür öffnen und die Wohnung verlassen würde, dass ich aus dem Haus auf die Straße treten und am Hauptbahnhof in den Zug nach Hannover steigen würde. Allein bei dem Gedanken an die Straße, den Bahnhof, den Zug wird ihr Griff um meinen Hals wieder fester.
„Alles ist gut“, sage ich. „Ruhig atmen!“

Aber dann kassierst du das selbst direkt ein:

Die halbjährlichen Mitarbeitergespräche finden - auch für diejenigen im Home Office - ab sofort wieder in Präsenz statt, hatte vor vier Wochen in der E-Mail gestanden. Habe ich ernsthaft geglaubt, ich würde daran teilnehmen? In Präsenz? Wahrscheinlich habe ich es gehofft. Aber sie wird mich nicht nach Hannover fahren lassen.

Hier habe zumindest ich direkt gedacht: Ok, es geht nicht um eine Person im Griff einer Hexe, sondern um ein "Alltagsproblem" – die Hexe wird das symbolisieren.

Später machst du es noch schlimmer, indem die Story vollends auf einem therapeutischen Teppich landet:

Als mein Atem ruhiger wird, denke ich an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben. Seit einem Jahr liegt es irgendwo herum. Ich habe es abgebrochen, nach dem Zitat von Erich Kästner im Vorwort: Leben ist immer lebensgefährlich. Fuck you very much! Ich stehe auf. Fünf Schritte bis zum Bücherregal, wo ich es sofort finde. Es ist viel dünner, als ich es in Erinnerung habe. Ich setze mich aufs Sofa, das Buch auf meinen Knien. Die Hexe hasst es, aber ich bin erschöpft vom Weinen und habe Kopfschmerzen, darum ist es mir egal.

Ich öffne den Mail-Client, klicke auf den Button „Neue E-Mail“ und schreibe: Lieber Clemens, ich möchte meine Mail von heute früh korrigieren und mich dafür entschuldigen. Ich habe nicht wegen eines Virus abgesagt, sondern wegen meiner Agoraphobie. Im Moment kann ich meine Wohnung nicht verlassen. Mir ist heute klar geworden, dass ich es allein nicht schaffe und ich werde mir Hilfe suchen.
Mir ist wichtig, dass du Bescheid weißt. Herzliche Grüße, Sarina.

Es ist zu durchsichtig, was der Text hier aussagen will: Mit der Krankheitseinsicht, der Objektivierung eines bislang rein subjektiven Gefühls wird die Hexe, die dieses subjektive Gefühl symbolisiert, geschwächt oder sogar schon vertrieben.

Es klingt hart, aber das ist aus literarischer Sicht irgendwie nur "eine nette Idee", aber das hat keine Drastik. Ich meine, da war man ja wirklich vor über hundert Jahren schon weiter: Bei E. T. A. Hoffmann, Hanns Heinz Ewers oder Georg Büchner sind die Ängste absolut und werden eben nicht in klinische Begriffe gekleidet – dadurch wirkt das so stark.

Die Moral von der Geschicht und der fehlende Spannungsbogen

Deine Geschichte endet mit einer klaren Moral, mit dieser Krankheitseinsicht, die uns eine Lehre sein soll – so wirkt das auf mich. "Sieh her, Leser, dort liegt die Heilung!"

Ich weiß nicht, mir ist das zu direkt und moralinsauer-therapeutisch, vor allem, weil der Umschwung überhaupt nicht durch Handlung motiviert ist. Das ist die strukturelle Enttäuschung:

Die Protagonistin hat ein Problem (ihre Phobie), bekommt noch ein größeres Problem (die Präsenzpflicht), sie löst dieses Problem, hat einen Heureka-Moment und löst das zweite Problem noch einmal und das erste gleich mit.

Erzähltechnisch funktioniert das nicht, finde ich, hier wird letztlich nur von einem Tropfen erzählt, der das Fass zum Überlaufen bringt, vom Moment, in dem der Leidensdruck zu groß wird.

Es wäre viel spannender, wenn sich dieser Moment aus einer Steigerung des Drucks im Text und aus Wendepunkten ableiten würde. Zum Beispiel:

Sie antwortet, dass sie Kopfschmerzen hat und an diesem einen Tag nicht kann, der Chef verlegt das Gespräch auf morgen und sie kann nicht noch einmal dieselbe Ausrede bringen. Sie weiß, sie muss dahin und versucht es, aber scheitert. Sie schreibt eine andere Ausrede und wieder Erwarten kauft der Chef auch sie. Aber nur, weil er im nächsten Satz offenlegt, dass es in sofern keine Rolle spielt, als er entschieden hat, dass ab der nächsten Woche wieder volle Präsenzpflicht herrscht für alle ...

Irgendwas in so eine Richtung, sodass sich der Druck auf die Protagonistin ständig real und nachvollziehbar erhöht, wäre hier viel packender, denke ich. (Auf die Hexe würde ich dann natürlich verzichten, denn die braucht es doch gar nicht. Realistischer Druck ist am Ende doch viel nachvollziehbarer für den Leser, als ein nicht wirklich genau gezeichnetes Märchenmotiv).

Die Erzählstimme

Auch hier finde ich, gäbe es Optimierungspotenzial. Die Erzählerin klingt für mich einfach nicht richtig angstgetrieben, weil sie einen viel zu guten Überblick über alles hat. Sie ordnet in einer Tour die Erzählung für uns, was in meinen Augen mit einem psychischen Ausnahmezustand kollidiert. Hier ist eine Kluft zwischen Form und Inhalt.

Beispiele:

Habe ich ernsthaft geglaubt, ich würde daran teilnehmen? In Präsenz? Wahrscheinlich habe ich es gehofft. Aber sie wird mich nicht nach Hannover fahren lassen.

Das ist reines Tell für den Leser geschrieben, kein authentischer innerer Monolog.

Fünf Schritte bis zum Summer. Muss ich die Wohnungstür öffnen, rast mein Herz schon im Flur. Ich schaue durch den Spion. Ein Mann kommt die Treppe hoch. Er ist noch jung und ich würde gerne die Tür öffnen, ihn anlächeln, mich bedanken, sein Aftershave riechen oder seinen Schweiß.

Es ist doch Unsinn, dass sie ihm in dem Moment gerne begegnen würde. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Sie hat Angst und versteckt sich. Warum sollte sie – sie erzählt ja im Präsens – im Moment der Angst über ein "Eigentlich" nachdenken? Der Kern eines Panikmoments ist gerade das Aussetzen von Vernunft und den Gedanken, die man eigentlich hätte.

Es war im Frühjahr, vor zweieinhalb Jahren. Im Supermarkt trugen die Menschen Masken über den Gesichtern. Mir war übel und auf dem Weg nach Hause übergab ich mich in einen Vorgarten. Ein paar Tage habe ich in einem Dämmerzustand im Bett verbracht. Seitdem bin ich in keinem Supermarkt mehr gewesen. Die Hexe wollte, dass ich in der Wohnung bleibe und nach einem halben Jahr, in dem jeder Versuch einzukaufen oder spazieren zu gehen, schlimmer war als der davor, habe ich meinen Widerstand aufgegeben. Der Lieferdienst stellt mir die Einkäufe direkt vor die Tür. Ist alles kein Problem, man kann sich wirklich alles liefern lassen. Außer Mitarbeitergespräche in Präsenz. Den Schritt vor die Tür gibt es nicht im Angebot. Er kostet mehr Mut, als ich habe. Ich schlage meinen Hinterkopf gegen die Wand. Mehr Mut, als ich habe. Aus mir kommt ein Laut, den ich nicht kenne. Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Atme ich oder weine ich? Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen! In meinen Ohren nur Rauschen. In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.

Als mein Atem ruhiger wird, denke ich an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie


Das funzt nicht, sorry: Sie will drastisch-drängend im Präsens erzählen, im Panikmoment selbst. Aber dann lässt sie kurzerhand einen Bericht über die Ursachen während der Corona-Pandemie einfließen? Was ist das für eine Erzählsituation? – Einerseits sitzt buchstäblich eine Hexe auf ihr und würgt sie, andererseits gibt sie einen detaillierten Bericht über ihre Krankheitsgeschichte ab, in der die Hexe kein grausames Wesen mehr ist, sondern einfach ein Ereigniselement, das sie mitabspult?

Was mir auch nicht so gefällt: Die minutiösen Beschreibungen dessen, was die Erzählerin gerade tut oder empfindet. Beispiele:

Ich stehe auf. Drei Schritte bis zum Flur, zwei zum Wohnraum, fünf bis zum Schreibtisch. Ich setze mich, fahre den Rechner hoch, an der Wand hängt: Häuserzeile. Ich schreibe an Clemens.

Ich stehe auf. Fünf Schritte bis zum Bücherregal, wo ich es sofort finde.

Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Atme ich oder weine ich? Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen! In meinen Ohren nur Rauschen. In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.

Ich finde, das liest sich irgendwie aufgesagt, also unorganisch. Ich weiß nicht genau, wie ich meinen Eindruck über solche Passagen in Worte fassen soll. Vielleicht: Die Erzählerin spricht mehr Dinge aus, als für die Handlung nötig sind. Das bekommt dadurch eben diesen beflissenen Ton, der dieser Art von "innerlichen" Texten oft anhaftet, weil einfach äußerlich eigentlich nichts von Belang passiert.

Das Problem daran ist, dass die Worte damit leer werden. Eine Stelle wie ...

Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen!

... will ja eigentlich den Höhepunkt der Panik packend in Worte fassen.

Oder hier:

In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.

Wieso kommt hier nicht die Hexe ins Spiel, um etwas wirklich Beängstigendes mit der Protagonistin anzustellen? Und wie wirkt sich das Gefängnis auf sie aus? Führ das Bild doch weiter, sodass die Protagonistin mit dem Gefängnis interagieren muss; beschreib das Gefängnis doch genauer, mach es bildlich, konkret, sinnlich!

So, wie du momentan beschreibst, liest man darüber hinweg; so eine schnell getaktete Drastik macht zumindest auf mich wirklich gar keinen emotionalen Eindruck, weil man sich davon erstens keine konkrete Vorstellung machen kann und weil es auch für die Protagonistin keine drastischen Folgen hat, das Kribbeln, der Schwindel, die Übelkeit. Das sind lediglich drei Begriffe, die sie für uns aufsagt. Dann legt sie sich hin und atmet ruhig. Big deal – not! So beschrieben wird doch die Gefahr, die Angst, die sie spürt nicht, gar nicht nachvollziehbar, wenn sie sich nach zwei Sätzen nur hinzulegen braucht, um ruhig zu atmen. Dieses postwendende Hinlegen und Durchatmen zeigt im Gegenteil, wie folgenlos und eingebildet das alles ist. Das ist aber nicht das Erleben der Figur!

Wie du den Zuständen mehr Gewicht verleihen kannst, weiß ich indes auch nicht. Vielleicht mit Vergleichen oder Metaphern, wobei das riskante Fahrwasser sind. Schnell wird das schwülstig oder abgegriffen oder windschief. Aber so abgespult verpufft die Wirkung, das steht fest.

+++++

Es tut mir Leid, das ich so viel zu kritisieren habe. Andererseits ist es auch nicht verwunderlich: Mein eigener Challenge-Text hat ja einen ähnlichen Stoff – Rollenprosa eines psychisch Gebeutelten – und er macht praktisch alles anders als dein Text. Insofern erscheint es ja fast logisch, dass ich mit deinem Ansatz fremdle.

Ich denke indes, dass du den Text gut bearbeiten und stark verbessern kannst. Das ist also mitnichten ein Text, den ich persönlich einfach so abhaken würde. Im Gegenteil, ich sehe darin einen Text, der wie dafür gemacht ist, ihn wieder und wieder anzufassen, bis sich das herauskristallisiert hat, was er eigentlich ausdrücken will. – Das nur hypothetisch in den Raum geworfen, ich weiß ja nicht, was du zu meinem Feedback und dem der anderen sagen wirst, und wie du selbst auf den Text schaust.

Freundliche Grüsse

Henry

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom