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Zwei Zimmer, Küche, Bad
Ich wache auf und bin hellwach. Die Hexe hockt auf meiner Brust, presst ihre spindeldürren Finger um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab.
„Du wirst nirgendwohin gehen“, sagt sie.
Ich nicke und sie lockert ihren Griff. „Hier sind wir sicher. In dieser Wohnung.“
Ich weiß das. Ich hatte geglaubt, dass ich heute nach dem Frühstück die Jacke überwerfen, die Tür öffnen und die Wohnung verlassen würde, dass ich aus dem Haus auf die Straße treten und am Hauptbahnhof in den Zug nach Hannover steigen würde. Allein bei dem Gedanken an die Straße, den Bahnhof, den Zug wird ihr Griff um meinen Hals wieder fester.
„Alles ist gut“, sage ich. „Ruhig atmen!“
Die halbjährlichen Mitarbeitergespräche finden - auch für diejenigen im Home Office - ab sofort wieder in Präsenz statt, hatte vor vier Wochen in der E-Mail gestanden. Habe ich ernsthaft geglaubt, ich würde daran teilnehmen? In Präsenz? Wahrscheinlich habe ich es gehofft. Aber sie wird mich nicht nach Hannover fahren lassen.
Ich muss aufs Klo. Vom Bettende sind es drei Schritte bis zum Flur, vier Schritte über den Flur bis zum Bad, dann drei zur Toilette. Das Bad ist klein, wenn ich will, kann ich gleichzeitig pinkeln, Hände waschen und die Füße duschen. Drei Schritte zum Flur, vier zum Schlafzimmer, noch drei und ich bin wieder im Bett. Die Kastanie vor dem Fenster. Für mich ist es kein Fenster. Es ist ein Bild: dunkle, kahle Äste vor einem asphaltgrauen Himmel. Titel: Kastanie im Herbst. In meiner Wohnung gibt es keine Fenster. Sie hat die Fenster gefressen, wie auch fast alles andere in meinem Leben: meine Freunde, den Sportkurs, lange Spaziergänge im Wald und meine Selbstachtung. Alles, was ich noch habe, ist mein Job. Ohne ihn wäre ich nur ein Ding auf zwei Beinen. Das isst und verdaut und aufs Klo geht. In dieser Wohnung. Ich weiß, es gibt einen Planeten da draußen, ein ganzes, verdammtes Universum. Aber nicht für mich.
Ich stehe auf. Drei Schritte bis zum Flur, zwei zum Wohnraum, fünf bis zum Schreibtisch. Ich setze mich, fahre den Rechner hoch, an der Wand hängt: Häuserzeile. Ich schreibe an Clemens. Lieber Clemens, es tut mir sehr leid, ich muss das Mitarbeitergespräch heute kurzfristig absagen. Offenbar habe ich mir einen MD-Virus eingefangen und ich fühle mich körperlich nicht in der Lage nach Hannover zu kommen, hoffe aber, morgen wieder beim Daily dabei zu sein. Viele Grüße aus Bremen, Sarina. Ich fahre den Rechner wieder runter.
Fünf Schritte vom Schreibtisch zum Flur, vier zur Küche, drei zum Wasserkocher. Während das Wasser kocht, fülle ich losen Darjeeling in einen Teefilter. Vor mir im Türformat: Balkon vor Kastanie. Zwei Schritte und ich kann den ganzen Innenhof sehen, die Rückseiten der Häuser, die ihn umgeben, den Kobel in einer Astgabel ein, zwei Meter unter mir. Kälte dringt durch das Glas der Balkontür. Sie ist aus Holz, einfachverglast, mit einem schönen, alten Metallgriff, dessen Lack an einigen Stellen abgeplatzt ist. Ich lege die Hand auf den Griff. Ein Schritt nur. Die Hexe spannt sich an. Draußen hat es zu regnen begonnen, ich gieße den Tee auf und setzte mich mit der Tasse an den kleinen, quadratischen Küchentisch. Balkon vor Kastanie im Blick.
Der Tee schmeckt nach nichts. Ich schaufle zwei Teelöffel Zucker rein und rühre. Ich frage mich, ob Stillstand eine eigene Art von Bewegung ist, eine in der man weitergetragen wird und trotzdem bleibt. Es klingelt an der Haustür.
Fünf Schritte bis zum Summer. Muss ich die Wohnungstür öffnen, rast mein Herz schon im Flur. Ich schaue durch den Spion. Ein Mann kommt die Treppe hoch. Er ist noch jung und ich würde gerne die Tür öffnen, ihn anlächeln, mich bedanken, sein Aftershave riechen oder seinen Schweiß. Aber durch die geschlossene Tür sage ich: „Stellen Sie das Paket einfach vor die Tür.“ Ich warte, bis ich ihn nicht mehr sehe und unten die Haustür zufällt.
Sobald ich die Wohnungstür öffne, bricht der Schweiß aus.
„Zu!“, kreischt die Hexe. „Zu! Zu! Zu!“
Schnell nehme ich das Paket, schließe die Tür, sacke zusammen, direkt hier im Flur, und weine. Ich weiß, wann es angefangen hat, aber nicht, wie es so geworden ist.
Es war im Frühjahr, vor zweieinhalb Jahren. Im Supermarkt trugen die Menschen Masken über den Gesichtern. Mir war übel und auf dem Weg nach Hause übergab ich mich in einen Vorgarten. Ein paar Tage habe ich in einem Dämmerzustand im Bett verbracht. Seitdem bin ich in keinem Supermarkt mehr gewesen. Die Hexe wollte, dass ich in der Wohnung bleibe und ich bin geblieben. Der Lieferdienst stellt mir die Einkäufe direkt vor die Tür. Ist alles kein Problem, man kann sich wirklich alles liefern lassen. Außer Mitarbeitergespräche in Präsenz. Den Schritt vor die Tür gibt es nicht im Angebot. Er kostet mehr Mut, als ich habe. Ich schlage meinen Hinterkopf gegen die Wand. Mehr Mut, als ich habe. Aus mir kommt ein Laut, den ich nicht kenne. Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Atme ich oder weine ich? Meine Finger kribbeln, mir wird schwindelig, dann übel. Ich lege mich auf den Rücken. Ruhig atmen! In meinen Ohren nur Rauschen. In meinem Kopf nur Angst. Ein Gefängnis, zwei Zimmer, Küche, Bad. Ich will das alles nicht mehr.
Als mein Atem ruhiger wird, denke ich an das Buch meiner Mutter: Agoraphobie - Zurück ins Leben. Seit einem Jahr liegt es irgendwo herum. Ich habe es abgebrochen, nach dem Zitat von Erich Kästner im Vorwort: Leben ist immer lebensgefährlich. Fuck you very much! Ich stehe auf. Fünf Schritte bis zum Bücherregal, wo ich es sofort finde. Es ist viel dünner, als ich es in Erinnerung habe. Ich setze mich aufs Sofa, das Buch auf meinen Knien. Die Hexe hasst es, aber ich bin erschöpft vom Weinen und habe Kopfschmerzen, darum ist es mir egal. Im Treppenhaus höre ich jemanden lachen und denke an Luisa. Wir sind in die gleiche Klasse gegangen. In der Neunten hat sie mir hinter der Sporthalle das Rauchen beigebracht. Keine Ahnung, warum ich in diesem Moment an sie denke, Luisa hat ganz anders gelacht und nach dem Abi habe ich sie nie wieder gesehen. Ich lege das Buch zur Seite und gehe drei Schritte zum Schreibtisch, fahre den Rechner hoch und tippe in die Suchmaschine: Luisa Niemann.
Es gibt einige Luisa Niemanns, aber keine davon ist meine alte Schulfreundin. Ich tippe weitere Namen ein. Thorben Schilling ist Moderator beim Radiosender Bremen Eins. Unerwartet, der war früher immer so still. Von mir dachten alle, ich würde Illustrationen zu studieren, aber heute verdiene ich mein Geld als Backend-Entwicklerin und bin zufrieden. Ich suche nach Julia Bickel, früher ein zierliches Mädchen mit Haaren auf den Zähnen, und während ich mir die Suchergebnisse anschaue, ist auf einmal dieser Gedanke da: Habe ich wirklich vier Wochen lang geglaubt, ich würde heute nach Hannover fahren? Ich bin seit zweieinhalb Jahren nicht draußen gewesen. Natürlich fahre ich heute nicht nach Hannover. Und morgen auch nicht. Oder nächste Woche. Wenn es so weitergeht, fahre ich nie wieder nach Hannover. Der Gedanke macht mir mehr Angst als das, was mein Körper draußen tut.
„So geht es nicht weiter!“, sage ich. Zu der Hexe. Zu mir. Und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich ihr nicht komplett ausgeliefert.
Ich öffne den Mail-Client, klicke auf den Button „Neue E-Mail“ und schreibe: Lieber Clemens, ich möchte meine Mail von heute früh korrigieren und mich dafür entschuldigen. Ich habe nicht wegen eines Virus abgesagt, sondern wegen meiner Agoraphobie. Im Moment kann ich meine Wohnung nicht verlassen. Mir ist heute klar geworden, dass ich es allein nicht schaffe und ich werde mir Hilfe suchen.
Mir ist wichtig, dass du Bescheid weißt. Herzliche Grüße, Sarina.