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Zwei Zitronen, eine Rolle Klopapier und eine HE-Man Figur.
Als Daniel Gertemann an diesem Morgen aufwachte, konnte er unmöglich ahnen, dass im Jahr 2025 die Welt untergehen würde.
Auf dem Weg in sein Badezimmer griff er kurz nach dem Meerschweinchen, das sich an einer Karotte festgeklammert hatte, als würde es erwarten, das angefaulte Ding starte gleich durch wie eine Rakete, und hielt es sich vor sein Gesicht, was das kleine Tier zu einem panischen Fiepsen veranlasste.
"Na, morgen Pucki. Wat is Alter, haste gut gepennt?"
Erwartungsgemäß antwortete das Tier nicht.
Gelangweilt ließ Daniel es zurück in den Käfig fallen und putzte sich anschließend die Zähne.
Wenn man den ganzen Tag über nichts vor hat, beginnt die Planung, was man denn machen könnte, schon sehr früh.
Abstrakte Bilder schwirrten vor seinem geistigen Auge herum, die größtenteils mit umgekippten Kühen und gefesselten Zofen zu tun hatten. Nur manchmal, sehr selten allerdings, war da ein winkender Schlumpf.
Nach dem Duschen wusch er sich unnützerweise die Hände und trocknete sich dann ab.
Was zum Teufel wollte er an diesem Sonntag bloß mit sich anfangen?
Bis auf ein schwarzes T-Shirt und eine Jeans wanderte der Rest der gewaschenen Wäsche in den Trockner, und Daniel griff nach dem Telefon.
Klaus, den er in der 5. Klasse Realschule kennen gelernt, und in der 6. Hauptschulklasse wiedergetroffen hatte, war heute, wie er selbst sagte, irgendwie Retro und wollte in Ruhe Atari 2600 spielen, und die Nummern seiner anderen Freunde kannte Daniel nicht auswendig.
Bevor er die Wohnung verließ, griff er noch einmal nach dem Meerschweinchen, welches gerade in ein Salatblatt vertieft war und lautstark protestierte. Daniel rieb die Krallen des Tieres einige Male über seinen Unterarm, was eine allergische Reaktion auslöste, die wiederrum zu einem angenehmen Jucken führte. So konnte er sich auf dem Weg zu seinem Spontanbesuch wenigstens etwas kratzen.
In der Stadt herrschte wenig Treiben. Eine ältere Dame war über ihre Gehhilfe gestolpert und lag klagend auf den Straßenbahnschienen.
"Da haben Sie Glück, dass hier Sonntags keine Bahnen fahren", stellte Daniel fest und bot der Frau seine Hand an. Zaghaft, aber doch bestimmt zog er die Frau vorsichtig zu sich hoch, geriet dabei leicht ins Wanken, machte einen spontanen Ausfallschritt nach rechts und stolperte seinerseits über die verbeulte Gehhilfe, was ihn zu einem reflexartigen Ruck veranlasste, bei dem die Frau in viel zu hoher Geschwindigkeit nach oben gerissen wurde, aufschrie, und nach links abzudriften drohte. Panisch verlagerte Daniel sein gesamtes Körpergewicht zur Seite, kratzte sich innerhalb weniger Sekundenbruchteile am Unterarm, nur, um dann in einer wahnwitzig schnellen Drehung den erneut zu stürzen drohenden Körper abzufangen, wobei sich einer seiner Füße an der herausragenden Ecke eines Gullideckels verhakte. Mit einer rudernden Bewegung des freien Armes fand er kurzzeitigen Halt an der gerade unerwarteterweise vorbeifahrenden Straßenbahn, die auf der Zielort Anzeigetafel Dienstfahrt stehen hatte, und wurde gleich wieder zurück geschleudert. Mit aller Kraft, die er hatte, umklammerte er die Hand der älteren Dame und drehte sich mit ihr im Schlepptau einige Male um die eigene Achse. Dann kippten beide in Richtung Bürgesteig weg und landeten jeweils auf einem von zwei Stühlen eines kleinen Straßencafés gegenüber voneinander.
"Na, das war ja was", sagte Daniel später, verabschiedete sich höflich von Marie, wie er ihren Namen inzwischen wusste, da sie ihn aus Dank zu einem Kaffee mit Schuss eingeladen hatte, und setzte seinen Weg zu dem geplanten Spontanbesuch fort.
Als er an die Tür klopfte, meldete sich niemand. Daniel war gerade wieder im gehen begriffen, als sein Blick auf die Türklingeln fiel.
Hätte er jetzt noch Ralfs´ Nachnamen gewusst, wäre alles perfekt gewesen. So probierte er alle zwanzig Knöpfe durch, bis er irgendwann die vertraute Stimme seines Freundes aus der Gegensprechanlage hören konnte.
"Mach ma´ auf Arschloch, ich bins", begrüßte er ihn und Sekunden später summte die Tür.
"Na Alda, hast hier aber auch länger nicht mehr aufgeräumt."
Ralf räusperte sich. - "Also ehrlich gesagt ... meine neue Freundin ist grad zu Besuch."
Daniel sah auf die zierliche Person, die halbwegs angezogen auf dem Bett lag und ein unbenutztes Kondom neben einer leeren Weinflasche auf dem Tisch anordnete.
"Ich fass es nicht. Wetten, ich weiß, wer du bist?"
"Wat bissn du für einer?" - Sie sah süß aus, wie sie das so asozial fragte.
"Sabine, richtig? Du hast ein rotes Sofa, auf dem zwei grüne Kissen liegen, und deine Toilette wischst du nie, weil du eine Abneigung gegen Handschuhe hast. Zumindest dann, wenn du sie selbst tragen musst. Wenn jemand anderes sie trägt und dann mit seinen Fingern in deinen Arsch ..."
"Boah du Freak!" - Das Mädchen stand ruckartig auf.
"Woher weißt du das alles von mir ... bistn Hellseher oder sowas?"
Daniel setzte sein Gewinnerlächeln auf.
"Ich hab dich gefickt", antwortete er voller Stolz und sah sich mit purer Ratlosigkeit konfrontiert.
"Wann", wollte sie wissen.
Daniel dachte nach. - "Weiß nicht, irgendwann mal, nach ner Party, oder davor, oder während oder so."
"Weiß ich nicht mehr."
Er wehrte ab. - "Ist ja auch egal. Jedenfalls ... störe ich grad?"
"Tust du", mischte sich Ralf ein.
"Okay, dann gehe ich wieder."
"Besser ist das."
Als Daniel zu Hause ankam, ging draußen gerade die Sonne unter.
Er kratzte sich am Arm und legte sich ins Bett.
Kurz bevor er einschlief, fiel sein Blick auf die Einkäufe vom Vortag.
Nebeneinander aufgereiht lagen zwei Zitronen, eine Rolle Klopapier und eine HE-Man Figur.