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Zweier
Zweier
Simon wischte einen Rest Zahnpasta aus dem Mundwinkel und ließ sich auf das Bett fallen. Er schloss die Augen und sog die muffige Luft des Schlafzimmers durch die Nase ein. Eine Ecke der Gürtelschnalle drückte in seinen Bauch, aber er hatte keine Lust, sich auszuziehen. Stattdessen drehte er sich auf den Rücken. Er sah auf den Wecker. „6:53“ blinkte es ihm entgegen. Er quälte sich aus dem Bett heraus, schob mit einer Hand die Jalousie zur Seite und öffnete das Fenster. Von draußen drang der Lärm des frühmorgendlichen Straßenverkehrs herein. Auf dem Gerüst vor dem Haus glänzten die Reste des nächtlichen Regens in der aufgehenden Sonne und Simon sah durch seine nur noch ein viertel geöffnete Augen, wie Frau Marquard den gerade ankommenden Bauarbeitern zuwinkte, während ihr Hund an den Rhododendron pinkelte. Simon gähnte herzhaft und entschloss sich, wenigsten doch noch die Jeans auszuziehen. Halb entkleidet ließ er sich zurück auf das Bett fallen und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. Ein dumpfes, lautes und einigermaßen rhythmisches Klopfen draußen vor dem Fenster war das letzte, was er wahrnahm. Es war wohl einfacher, einen Azubi den angetrockneten Speis aus dem Eimer klopfen zu lassen, als ihn am Abend vorher mit Wasser auszuspülen (den Eimer, nicht den Azubi). Er wunderte sich, woher er solche Dinge wusste und schlief über dem Gedanken, ob man einen Azubi heutzutage noch immer „Stift“ nennt,ein.
Ein Geräusch von schweren Schuhen auf Metall vermischte sich mit Erinnerungen vom Vortag und fliegenden Zähnen. Ein Zahn sagte etwas zu einem anderen Zahn und dieser stöhnte genervt. Darauf flog erste Zahn einen kleinen Looping, sah Simon an, öffnete den Mund und befahl, einmal unten nachzusehen. Irgendetwas stimmt hier nicht, kam es Simon in den Sinn, bevor die Erkenntnis ihn kitzelte, dass es sich nur um einen Traum handeln könnte, und die Zähne nichts anderes waren, als die Bauarbeiter vor seinem Fenster. Zu müde, um aufzuwachen und zu wach, um wieder einzuschlafen, hing Simon zwischen zwei Welten. Er konnte und wollte nicht aufstehen und das Fenster schließen, aber auf Kommando wieder einzuschlafen, war gar nicht so einfach. So blieb ihm also nichts übrig, als zu lauschen und zu hoffen, dass er von selbst ins Reich der Träume zurück gleiten würde. Ein Paar Arbeitsschuhe stapfte vorbei. Eine kurze Ruhepause, dann eine Stimme von unten:
„Sind keine Zweier da!“ Klang, als würde das Paar Arbeitsschuhe von gerade dem Azubi gehören.
„Wie? Sind keine Zweier da? Ja, brüll doch mal genau vor meinem Fenster herum. Simon hasste es, zu müde zu sein, um das Kissen über den Kopf zu ziehen.
„Sind keine da.“ Das sagtest du bereits.
„Da müssen welche sein.“ Was in aller Welt sind überhaupt „Zweier“? Simon nahm an, dass es sich um irgendeine Art von Dachpfannen handeln müsse. Ziemlich wahrscheinlich, immerhin wurde da draußen gerade das Dach erneuert. Vielleicht waren es auch Styroporplatten, die, gerade frisch an die Außenwände geklebt, Simon sowohl erhöhte Wärmedämmung als auch eine erhöhte Miete bescheren würden. Aber eigentlich interessierte es ihn nicht, zumindest nicht jetzt.
„Sind aber keine da!“ Die tauchen auch nicht auf, wenn du jetzt noch mal fragst Und wenn du das tust, muß ich dich würgen. Vermehrte Nachfrage führt NICHT zum Auftauchen nicht vorhandener Gegenstände- ging es Simon durch den Kopf.
Man schien ihn gehört zu haben. „Ich komm runter!“ Ein zweites Paar Arbeitsschuhe, das wenigstens fünfunddreißig Kilogramm mehr Gewicht trug als das erste, stapfte an seinem Fenster vorbei. Was man so alles hören konnte, wenn man sich nur darauf konzentrierte. Man konnte sogar hören, wie sich ein weiterer Mann auf den Gerüst am Hintern kratze und dann eine Zigarette anzündete.
„Gerd, sind keine Zweier da!“ schallte eine Stimme herauf. Sieh mal an. Der Hinternkratzer heißt also Gerd.
„ Keine Zweier??“ Ach komm, Gerd, die Diskussion hatten wir bereits.
„Nee, keine Zweier!“
„Und nun?“ Vor Simons imaginärem Auge schob sich ein ca. fünfundvierzig jähriger Bierbauchträger mit blondem Schnauzer seine verdreckte Schirmmütze in den sonnenverbrannten Nacken und beugte sich über das Gerüst.
„Sag ma´ Chef Bescheid“, tönte es von unter herauf.
„Jau, mach ich.“ Tu es nicht Gerd! Tu es nicht! Nicht so. Bitte, das hier ist kein schlechter Witz. Nimm das Handy und ruf ihn an. BITTE! Nichts da, Gerd kannte kein Erbahmen. „CHEEEEF, KEINE ZWEIER DA!“ schallte seine Stimme durch den Morgen.
„Keine Zweier?“ kam eine vierte Stimme von einer undefinierbaren Stelle des Gerüsts.
„Nee!“
Acht Sekunden Stille.
„Ich ruf mal auf der Firma an, macht ihr mal so lange Frühstück.“ Simon öffnete das linke Auge und hob seinen Kopf Richtung Fenster. Durch die Lamellen der Jalousie sah er zwei Arbeitsschuhe mit einer weißen Arbeitshose darüber vorbeitrampeln.
Keine Zweier, kein Krach, keine zehn Minuten später und Simon schlief tief und fest, bis das nervtötende Tuten seines Weckers ihn viereinhalb Stunden später zwingen würde, sich zu erheben und wieder seinem Arbeitsleben zu widmen. Gerd machte da gerade Mittag.