Zwischen Leben und Tod
Dieser Gestank… So etwas Scheußliches habe ich noch nie gerochen. Es wird Zeit, dass ich aufstehe. Ich glaube der Geruch könnte mich umbringen, ich glaube es riecht nach, … oh mein Gott…
Noch bevor ich meine schlaftrunkenen Augen öffnen konnte, verkrampfte sich mein kalter Magen und entlud seine Lawine aus festen Brocken und flüssigem Magenschleim mit einem Druck, der meinen geschlossenen Mund förmlich aufriss.
Der Tod hatte meine ausgestreckten Arme also wieder ignoriert. Stattdessen schickte er mich erneut zurück ins Leben, welches meinen wiederholten Fluchtversuch mit dem gewohnten natürlichen Magenauspumpen bestrafte. Gott, wie ich dieses Gefängnis hasste!
Es waren doch genug Tabletten um drei erwachsene Männer zur Strecke zu bringen, doch für mich waren es anscheinend nie genug. Es schien, als hätte mein Körper einen eigenen, zweifellos stärkeren Lebenswillen als meine Seele und dieser Wille ließ alle Gifte in meinem Körper nur halb so giftig und alles tödliche nur halb so tödlich wirken. Dieser Wille schien die Wirkung der Tabletten zu halbieren, während sich mein Todeswunsch nach jedem missglücktem Versuch verdoppelte.
Ich erhob meine linke Hand, die das einzige Opfer der wunderlich aussehenden Lawine geworden war und putzte sie mir an meiner Jeans ab. Erst als ich inmitten des Erbrochenen die rötlich schimmernde Spur sah, die ich an der Hose hinterließ, bemerkte ich, dass meine Hände voller Blut waren. Auch auf meinem Hemd befanden sich Blutspuren. Was hatte ich mir bloß angetan?
Dieses Mal war es schlimmer als sonst. Ich fühlte einen erneuten Druck in meiner Magengegend, der mich als Vorgeschmack wieder würgen ließ. Es musste dieser Geruch sein. Ja, das war es. Tränen schossen mir in die Augen. Tränen, dessen tiefe Quelle dieses Mal nicht mein innerer Schmerz war, sondern der Ekel, der mir in diesem Moment sogar noch schlimmer vorkam. Ich erbrach erneut.
***
Ich kann es nicht mehr aushalten, wo kommt das bloß her? Was zum Teufel kann so bestialisch riechen? Bin ich,… bin ich deshalb wach geworden? Ich muss wissen woher das kommt…
Dieser Geruch, so makaber er auch den ganzen Raum mit einem beißenden Gestank aus verkohltem Essen und faulem Fleisch einhüllte, half mir zumindest beim Aufstehen. Er zwang mich förmlich dazu ihm zu folgen und die Quelle dieses ironischen Lockstoffes aus dem Haus zu tragen und weit weg zu bringen.
Langsam richtete ich mich auf. Für einen Moment lang ging ich in mich und versuchte zu reproduzieren, was wohl vor ein paar Stunden passiert sein mochte, aber das Letzte, an was ich mich erinnerte, war das Gespräch mit meiner Frau über unseren neuen Nachbarn und das fand ungefähr zwei Stunden vor der Einnahme der Tabletten statt. Was danach geschah, hatte ich unerklärlicherweise vergessen. Es war das erste Mal, dass ich nicht einmal mehr wusste warum ich sterben wollte.
Auf der Klippe zwischen Leben und Tod stehend, riss mich schon manch ein Windstoß in den Abgrund, der den Tod bedeuten sollte, doch dieses Mal war es anders. Noch nie war ich so tief und weit in den Abgrund gestürzt wie dieses Mal. Ich fühlte es an meinem Körper, in meiner Seele. Dieses Mal war es kein Windstoß, dieses Mal war es ein gottverdammter Tornado.
Der Sommersturm, der gestern Abend noch drohend mit seinen dunklen Wolken und peitschenden Winden seinen nassen Angriff vorbereitete, war mittlerweile wieder verschwunden und ließ die Sonne als einzigen Krieger der schwachen Schlacht zurück. Es war wieder heller geworden, und es war heiß.
Ich schlurfte langsam bis zur Tür und drehte den Knauf, doch nichts passierte. Der Schlüssel steckte jedoch noch im Schloss und während ich ihn im umdrehte, versuchte ich mich krampfhaft daran zu erinnern, warum ich die Tür wohl abgeschlossen hatte, doch die Synapsen in meinem Gehirn schienen ihre Informationen vor mir weiterhin verbergen zu wollen. Irgendetwas sagte mir, dass es auch besser so war. Mein Körper arbeitete schon wieder für mich und gegen meine Seele. Aber hier ging es nicht mehr um meinen Todeskampf, hier ging es plötzlich um etwas ganz anderes. Irgendetwas stimmte hier nicht.
***
Der Geruch wird stärker. Durch den Mund atmen hilft auch nicht mehr. Gott, es riecht nach... Es riecht nach etwas, was zu lange gekocht wurde… und immer noch kochen würde…
Als ich das Wohnzimmer betrat, konnte ich den Gestank zwar noch immer nicht genau einordnen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er aus der Küche kam. Ich hangelte mich an der Wand entlang denn ich spürte, dass ich den langen Weg durch den Flur sonst nicht hätte zurücklegen können, da mein schwacher Körper erbarmungslos protestierte. Zudem schien der Gestank wie ein unsichtbarer Schutzschild zu arbeiten, welcher jeden Schritt in Richtung Küche schwerer machte. Ich hielt mir meine Hand vor die Nase um den Gestank etwas abzudämpfen, doch es half nicht sonderlich viel.
Kurz bevor ich die Tür zur Küche erreichte, brach ich zusammen. Die Geruchswelle, die an meiner Nase vorbeispülte, traf mich mit voller Wucht und zwang mich in die Knie. Doch obwohl der Gestank so unerträglich war, dass er nicht nur meine Nase, sondern meinen ganzen Körper quälte und an den Rand einer erneuten Ohnmacht trieb, konnte ich nicht anders als weiter zu kriechen. Ich musste einfach wissen, was so fürchterlich roch und wenn es mich mein wertloses Leben kosten sollte.
Als ich endlich angekommen war, mobilisierte ich noch ein Mal all meine Kräfte um den Türknauf zu drehen. Als die Tür sich langsam öffnete, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen und das erste Mal in meinem Leben hatte ich Angst zu sterben. Obwohl mich der Tod schon immer mehr faszinierte als das Leben, wollte ich doch wenigstens in diesem Augenblick noch etwas weiter leben um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, denn ich hatte eine Vorahnung, dass etwas Großes hinter dieser Tür lauern würde.
Nach einer schier unendlich langen Zeit erlangte ich mein Augenlicht wieder und jetzt sah ich es. Ich sah die Quelle des Gestanks und wieder hatte ich Angst zu sterben. Nicht jetzt.
***
Oh mein Gott… Das ist doch,… OH MEIN GOTT!!! Lieber Gott, lass das alles nicht wahr sein…Das Blut an meinen Händen, es ist… es ist fremdes?!
Auf dem blutverschmierten Küchenboden lag eine Frau neben einem Mann, der buchstäblich geköpft worden war. An der Stelle wo sein Kopf hätte sein müssen war eine große Blutlache, die einen widerwärtigen Kontrast zum weißen Küchenboden darstellte. Die Sonne sendete ihre Strahlen gnadenlos durch die Fensterscheiben direkt auf die beiden Leichen. Es war heiß in der Küche und für einen Moment lang glaubte ich ein leises Blubbern zu hören, das aus der Richtung des Kopflosen kam, doch ich schob den Gedanken an die teuflischen Kochgeräusche schnell beiseite.
Unzählige Fliegen erfreuten sich an dem Stummel auf der Schulter des Mannes, doch seltsamerweise lagen ebenso viele Fliegen tot in der Blutlache herum. Dieser makabere Duftstoff, der sie durch den Fensterspalt gelockt hatte, hat wohl selbst diese Tiere, die sich mit unglaublicher Freude auf einen Haufen Kot stürzten wie ein Geburtstagskind auf seine Geschenke, zu Grunde gerichtet.
Ich kroch mit zugehaltener Nase an dem Mann vorbei zu der Frau, die hinter ihm auf dem Rücken lag. Ihr Körper war zwar mit Zeitungspapieren bedeckt, aber ihr langes, blond- lockiges Haar, welches teilweise in der Blutlache des Mannes lag, verriet mir auf grässliche Weise, dass es meine Frau sein musste.
Ihr Gesicht hatte stark geblutet und hinterließ nun eine rötliche Silhouette in der Form einer dämonischen Fratze auf der Schlagzeile des Tages.
Es gelang mir nur teilweise die Zeitung von ihrem Kopf zu lösen da sie stellenweise schon fest an ihrem Gesicht klebte. Meine Augen fingen wieder an zu tränen. Dieses Mal jedoch fühlte ich, dass der Geruch nicht allein Schuld daran war. Es war eher die Angst, in das Antlitz meiner Frau zu gucken.
Als ich den Großteil der Zeitung von ihrem Gesicht gelöst hatte, sah ich als erstes ihre Augen. Sie waren weit aufgerissen und glänzten. Sie muss vor ihrem Tod viel geweint haben. Ihr Mund, einst mit vollen Lippen und femininen Gesichtszügen gesegnet war zu einem stummen Schrei geformt, den niemand mehr hören würde. Ihr ganzes Gesicht war übersäht mit tiefen Schnittwunden, aus denen viel Blut geflossen war.
Ich löste meinen starren Blick und versuchte den Oberkörper meiner Frau von den Zeitungspapieren zu befreien. Ich erhaschte einen Blick auf ihre Brust, welche in der Mitte wie mit einem Skalpell geöffnet worden zu sein schien. Fliegen hatten sich in den Brustkorb meiner Frau eingenistet. Einige bewegten sich, andere nicht.
Dieser Anblick gab mir den Rest. Ich erbrach erneut, schnappte mir ein Küchenmesser und legte mich neben meine tote Frau.
***
Wer hat das bloß getan? Warum hat jemand meine Frau umgebracht und sie hier schmoren lassen? Dieser,… dieser Gestank!
Die Sonne ist schuld. Sie brät die Leichen wie eine Mahlzeit. Eine Mahlzeit so verstörend wie der Geruch selbst. Ich bin jetzt bereit es wieder zu versuchen. Ich werde dem Tod eine weitere Chance geben. Dieses Mal wird auch er seine Arme ausstrecken und ich werde endlich in den Genuss seiner kalten Umarmung kommen, da bin ich mir sicher…
Ich schloss meine Augen und umrandete das Messer mit meinem Daumen, als die Polizeisirenen vor meinem Haus erklangen und ich Autotüren hörte, die hektisch auf und wieder zugemacht wurden. Bevor die Haustür aufgebrochen wurde, hörte ich aus schier endlos weiter Distanz zwei Männer sprechen: „Er ist da drin! Er muss da drin sein!“
Die schwarzen Männer kamen in Windeseile in die Küche hineingestürmt. Als mich einer von ihnen mit dem Messer in der Hand neben den Leichen sah, eröffnete er sofort das Feuer. Er muss wohl im Affekt gehandelt haben, denn in der kurzen Zeit zwischen dem Schuss und meines erneuten Wegtretens erinnere ich mich daran jemand rufen zu hören: „Nein! Nicht schießen, NICHT SCHIEßEN!“
Als wenn es das Schicksal so gewollt hätte, wachte ich ein letztes Mal im Krankenwagen auf. Ich hörte zwei Stimmen, die einer Frau und die eines Mannes.
„Dieses Schwein hat seine Frau und seinen Nachbarn umgebracht.“
„Warum hat er das getan?“
„Keine Ahnung, aber man sagt, dass er sich vor vielen Jahren sterilisieren lassen hat und… nun ja, seine Frau war schwanger als er sie umgebracht hat.“
„Dann hat er sie aus Eifersucht getötet, weil sie mit dem Nachbarn…?“
Ich hatte genug gehört. Ich konnte mich wieder erinnern. Es stimmte, was die Stimmen sagten. Jetzt wusste ich wieder, was in den letzten zwei Stunden vor meinem Koma passiert war. Ich habe meine schwangere Frau und ihren Liebhaber brutal getötet und sah keinen anderen Ausweg als den Tod. Dies war also der Tornado, der mich von der Klippe des Lebens blies. Ein Tornado, ja das war es.