09.09.99
09.09.1999. Jedermann läßt sich heute trauen. Wahrscheinlich wollen sie ihrem alltagsfaulen Gehirn das Einprägen ihres Hochzeitstages erleichtern. Spätsommer. Der letzte Sommer dieses Milleniums verwöhnt uns mit Rekordtemparaturen im September. Ich war im Park. In meiner schattigen Höhle unter einem altersschwachen Baumriesen. Vier seiner ausladenden Äste mußten mit dicken Stützen versehen werden. So steht er würdig und greis. Darunter ich, auf der schmutzigsten und am wenigsten besuchten Bank des Parks. Von außen, von den sonnengebadeten Wiesen bin ich nur zu erahnen. Habe aber einen netten Blick nach draußen. In meiner Höhle. Gott segne den technischen Fortschritt. Habe einen portablen CD - Spieler bei mir. Himmlische Polyphonie der Renaissance lehrt Weltverachtung. Vermeintlich. Ab und an klickt es hinter meiner Stirn. Photographisch werden Idyllen festgehalten, brennen sich in meine Netzhaut. Hund holt Stock. Kind lernt Schwerkraft kennen. Studentin verbrennt Haut. Mutter schiebt Kinderwagen. Großmutter füttert Hund. Hund holt Stock 2. Kind lernt Pendelbewegung. Studentin verbrennt Tabak. Mutter tätschelt Wange. Großmutter ruft Hundenamen. Hund verschmäht Namen. Kind verschmäht Eis. Studentin verschmäht Student. Mutter verschmäht nicht verschmäht zu haben. Großmutter verschmäht nichts. Hund ebenso. ...En l’ombre d’ung buissonet / au matinet, / de si bon het, / je luy dis: „Dieu te begnye. / Je te prie Bellon m’amye, / ayme moi, je suis Robin.“ / ... Gott segne den technischen Fortschritt. Hier im Schatten sitze ich und kann diese wunderbare Musik genießen. Die Menschen lustwandeln im Park. Jene Mutter, sie hat ihren Hochzeitstag sicherlich am 08.08.1988. So läuft das nun mal. Ich sitze im Schatten und kann mir anhören was ich will. Am 09.09.1999. Angenommen ich wollte ... oder... Nein, lieber doch nicht. Alles bleibt so wie es ist. Es könnte nicht besser sein. Studentin verbrennt Rücken. Mutter verwünscht Hochzeitstag. Kind verlangt Getränk. Hund findet Hund. Großmutter geht heim(mit hund 1). Ich bleibe. Will gar nicht mehr gehen. Betrachte zwei Bäume, die im Schatten des Greises wachsen. Ihre Wurzeln sind keinen Meter voneinander entfernt. Weiter oben berühren sie sich sogar und sind richtiggehend verwachsen. Meine biologisch wenig fundierten Vermutungen gehen dahin, daß der größere der beiden, der sehr wohl mit den oberen Zweigen ans Licht kommt, mit dem kleineren, der nicht so glücklich ist, an der bewußten Stelle die Sonnenenergie teilt. Zwei Überlebenskünstler im Schatten eines Riesen. Ich im Schatten zweier Überlebenskünstler und eines Riesen. Die Bank unter drei Überlebenskünstlern und einem altersschwachen Riesen, der freilich genau genommen such ein überlebenskünstler ist. Bank im Schatten. Ich im Schatten. Der kleinere der Überlebenskünstler im Schatten. Der andere Überlebenskünstler teilweise am Licht. Und der greise Riese teilweise abgestorben, aber immer noch künstlerisch wenn nicht wertvoll, so doch überlebend. Leute heiraten. Ich sitze. Studentinnen schwitzen. Hunde hächeln. Großmütter gehen heim. Mütter bemuttern. Kinder verlangen. Ich sitze und habe keinen Anteil an dieser spätsommerlichen Idylle. Keinen Anteil an diesem Leben, an dieser Gegenwart. Ich sitze im Schatten.