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Aachen '44
Meine Kindheit endete am 12. September 1944. Die amerikanischen Bodentruppen umkämpften gerade den Aachener Stadtwald. Eine fahle Sonne schien auf die in Trümmern liegende Stadt, Häuserruinen ragten wie bedrohliche Tiere auf, eingehüllt in Rauchschwaden und einen Geruch nach Schutt und nassen Socken. Viele von uns versteckten sich damals in riesigen Bunkern.
Und ich erinnere mich an Frank und Karl, meine Jugendfreunde, damals vierzehn Jahre alt wie ich. Noch immer klingen mir ihre Stimmen in den Ohren.
„Komm mit, Egon, wir gehen beim alten Jansen Zigaretten holen“, rief Karl an jenem Morgen und winkte mir zu, ein Lächeln auf dem bleichen Gesicht, die flachsblonden Haare in alle Richtungen abstehend. „Der will in die Evakuierung, und Frank kommt auch mit!“ „Ich komm schon“, erwiderte ich.
Wir kletterten aus dem Bunker ins Freie. Kein Lufthauch rührte sich und es war angenehm warm.
Der alte Jansen, wie wir Jungs in nannten, versteckte sich damals in einem unzerstörten Haus in der Albertstraße. Wir stiegen über einige Trümmerhaufen in der Nähe des Bunkerausgangs, um auf die einigermaßen freie Blockstraße zu kommen, von wo es nur fünfzehn Minuten Fußweg waren.
Nach ein paar Minuten kamen wir an einem völlig zerbombten Vorgarten vorüber, der Boden wie mit einem Riesenspaten umgegraben, nur ein kleiner Apfelbaum stand wie unwirklich in diesem trostlosen Durcheinander, ein kleiner Garten Eden im Chaos der Apokalypse. „Gu-gu-guckt ma-mal, da hä-hängt sogar noch ein A-Apfel dran, stotterte Frank mir zu.“ Schnell sprang ich über die ausgefranste Hecke, hüpfte über die Bombentrichter und pflückte den in Armhöhe hängenden Apfel, der sich rund und hart anfühlte. Ich wischte ihn an meiner kurzen Lederhose ab, biss hinein, der süße Saft kitzelte mir in der Nase, lief mir übers Kinn. „Wollt ihr?“ Reihum ging der Apfel. „Kommt, gehen wir weiter, nur noch beim Obstladen der alten Greve vorbei, dann sind wir schon in der Albertstraße.“ Lachend schlenderten wir weiter, und dann passierte alles ganz plötzlich: „Halt, ihr verdammten Plünderer.“ Drei Wehrmachtsoldaten, eine Patrouille auf der Suche nach Plünderern, wie ich nach dem Krieg erfahren sollte, rannten um die Ecke und packten uns. „Ihr verdammtes Räuberpack, jetzt geht’s euch an den Kragen“, brüllte der älteste der drei, ein unrasierter Leutnant mit dicken Eiterpusteln im Gesicht, der trotz der Wärme in einen Armeemantel gehüllt war. „Wi-wi-wir ...“, weiter kam Frank nicht, als sein Gesicht unter der Faust des Offiziers explodierte. Ich schlug um mich, brüllte, lief los, fiel, rannte weiter. „Haut ab“, ich drehte mich noch um, aber die beiden Soldaten knieten schon auf meinen Freunden. „Dich kriegen wir auch noch“, schrie mir das Pickelgesicht nach, legte mit seiner Pistole an, doch ich war schon hinter einem Schutthaufen verschwunden.
Hinter einen Stein gekauert sah ich, wie sie meine weinenden Freunde wegschleppten, in das grüne Eckhaus, das mit Granatsplittern verziert war wie die Aknehaut des Leutnants. Die Minuten vergingen, endlos. „Was werden die mit Karl und Frank machen“, hämmerte es mir im Kopf. Eine kleine Schar Neugieriger hatte sich mittlerweile schon versammelt. „Da, endlich kommen sie raus“, dachte ich. Man hatte ihnen die Augen verbunden, Frank rann immer noch Blut aus dem Mundwinkel. „Nein, was haben die vor, das kann doch nicht sein, wir haben doch nichts gemacht“, das Blut pulsierte in meinem Kopf, hämmerte, schlug. „Nein!“ Meine Freunde wurden an die kahle Hauswand gedrückt: „Mama, Mama, ich habe nichts getan. Ich will nicht sterben.“ Karls Schreie verhallten zwecklos in den Ruinen, ein Murmeln fuhr durch die Menge. Keiner rührte sich, keiner tat etwas. Frank hielt sich kaum auf den Beinen, zitternd und stumm. Meine Hände krallten sich ineinander, als wollten sie sich nie wieder von einander trennen; meine weit aufgerissenen Augen wollten nichts sehen, mein Kopf konnte die Szene nicht begreifen. „Wir sind doch noch Kinder“, dröhnte es in meinem Kopf.
„Die erschießen die Jungs doch nicht, die machen nur Spaß“, rief ein dürres, dunkelhaariges Mädchen in der Menge. Kopfschütteln überall.
Langsam stellten sich fünf Soldaten auf, die zwei von vorher und drei, die sich im Eckhaus aufgehalten hatten. Sie hoben ihre Karabiner. Sie legten an. Feuer! Schüsse donnerten. Frank stürzte zu Boden, reglos. Karl fiel ebenfalls, erhob sich noch einmal, taumelte ein paar Schritte, ein neuer Schuss. Immer wieder sehe ich das Bild vor mir: Sein Hinterkopf zerspringt wie ein Kürbiss, Gehirnmasse spritzt an die Wand, zwei ausgeschossene Schneidezähne zeichnen ein trauriges Lächeln in die Luft. Wie in Zeitlupe fällt er auf die Knie, dann auf sein zerschossenes Gesicht; seine auf den Rücken gebundenen Hände zittern noch ein letztes Mal, winken mir wie zum Abschied. Stille. Tränen schossen mir in die Augen, den Mund weit geöffnet drang doch kein Laut aus ihm, ich zitterte. Sauer stieg der Apfelgeschmack in mir auf. „War es das? War der verdammte Apfel an allem Schuld?“, wirre Gedanken drangen in meinen Kopf. Wieder erschien der kleine Garten Eden vor meinem inneren Auge. „Wie konnten sie das tun?“ Ich übergab mich.
General Gerhard Graf von Schwerin, verantwortlich für die Verteidigung der Stadt Aachen und die Erschießung meiner Jugendfreunde, starb hochgeehrt und betagt 1980 in seiner bayerischen Wahlheimat in Rottach Egern. Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen.