- Beitritt
- 19.05.2015
- Beiträge
- 2.599
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 48
Alaska
Alaskas Haus steht in einer Ortschaft, die zum Großstadtspeckgürtel gehört, zur Behaglichkeitszone im Schatten von Lichtern und Lärm. Die Menschen, die dort wohnen, fahren morgens zur Arbeit in die Metropole, kehren abends zurück, pflegen Wochenendgemütlichkeit, engagieren sich in Vereinen, radeln durch Wälder und passen auf ihre Nachbarn auf.
„Der Container kommt am Nachmittag“, sagt Albert, zuckt mit den Schultern, wendet sich ab.
Für das, was sie vorhat, braucht Maria ihren Mann nicht. Sie streift die Daunenjacke über, zieht den Reißverschluss bis zum Hals, setzt sich ins Auto und startet den Motor. Während der Fahrt lässt sie die Fensterheber nach unten surren, will sie den Oktobergeruch spüren. Nach einer Stunde kommt sie an, stellt den Motor ab. Wind fegt durch die Büsche, ein paar Vögel zwitschern, ein Säuseln aus der Ferne, das die Stille unterbricht. Den Blick durch die Fenster der Einfamilienhäuser verwehren Gardinen. Sie parkt auf dem Hof. Die Rosen wuchern mittlerweile fast die ganze Wand empor, ein Brombeerstrauch wuchert zwischen Haus und Garage.
Maria atmet durch, füllt die Lunge mit Herbstluft, bevor sie das Alaska-Haus betritt. Sie erschauert, als sie die Mischung aus Tabak und Whiskey riecht, die wiesengrüne Raufasertapete bemerkt, die Eichenkommode. Spuren durchwabern die Luft, kleben in den Fugen, an den Wänden, Spinnweben, unsichtbare Fäden, an denen sie nicht vorbeikommt. Als erstes dreht sie in den Räumen die Heizkörper auf, eilt nach oben. Im Bügelzimmer öffnet sie mit dem Feuerhaken die Luke, zieht die Falltreppe herab, klettert zum Dachboden empor. Sie beschließt, ganz oben zu beginnen, den Müll aus dem Fenster zu werfen.
Der Ring fällt ihr ein, vor allem den Ring muss sie finden, das Wolfsgesicht auf dem Karneol berühren. Alles andere kann verschwinden, verrotten wie Alaska selbst. Warum hatte er ihn im Krankenhaus nicht dabei, warum hatte sie ihn nicht nach dem Ring gefragt?
Ihr Blick irrt umher, sucht nach Halt. Sie klappt das Fenster auf, saugt an der Sturmluft, hört dem Knistern der Herbstblätter zu, die auf dem Hof wirbeln. In der Ecke neben dem Kaminabzug verstaubt der Phillips-Plattenspieler, den niemand außer Alaska berühren durfte, weil er fürchtete, das Vinyl könne verletzt, der Fluss der Musik gestört werden. Daneben steht eine Weinkiste mit Schallplatten, alphabetisch geordnet, Schlager, Bach, Beethoven, Heintje, Rex Gildo, Wagner, Miles Davis, John Coltrane, Disco-Zeug. Alaskas Miene hellte sich auf, sobald Musik einsetzte. Er summte die Melodien mit und wenn die Lust ihn überkam, holte er sein Saxofon, presste das Mundstück zwischen die Lippen, begann zu spielen, schlug die Krallenfinger auf die Tasten, bis das Instrument krächzte, jubelte, jauchzte, Botschaften ausspie. Maria liebte es, wenn er musizierte, die Rhythmen ihren Kopf füllten. Manchmal umarmte Alaska die Tochter, sobald der letzte Akkord verhaucht war, presste die Bartstoppeln auf ihre Wangen, kratzte über die Mädchenhaut und erklärte, dass er ein berühmter Musiker hätte werden können, wenn er es nur gewollt hätte. Danach drückte er das Kreuz durch, fuhr sich durchs Haar, benutzte die Finger als Kamm, während das Lächeln aus dem Gesicht wich, eine Maske zurückblieb. Er schaute dann in die Ferne, die Nasenflügel vibrierten, entspannten sich wieder. Maria habe leider keinerlei Talent, deshalb wäre es reine Verschwendung, die Klavierstunden zu bezahlen, die sie gern genommen hätte. Maria fühlte sich als Anhängsel, ein Aschenputtel, [ doppelt?]das kaum mehr als eine Last darstellte. Wenn er Nachbarn, Freunde einlud, mit ihnen sang und lachte, benahm er sich so, als wäre sie gar nicht anwesend.
All die Jahre hat er mich gewärmt, das schon. Als versteckte sich Feuerglut in einer Eisschicht. Der Puls jagte, die Hitze nahm zu, er suchte ein Ventil, musste Luft ablassen, damit er wieder abkühlte, obwohl er sich selbst daran verbrannte. Ich weiß genau, warum er Alaska heißt, kenne die Zweideutigkeit des Namens, die Geheimnisse, die Alaskahölle, spürte im Vorhinein, was aus der Not entstand, wie er sich in die Kreatur verwandelte. Ich war gebunden an ihn, ein Gefangener ohne Aussicht auf Flucht. Entkommen konnte auch er nicht.
Warum hat Alaska die Werkzeuge ausgerechnet hier oben gelagert? Stichel, Meißel, Hämmer, Zangen in allen Größen liegen in einer Holzkiste, glänzen, als wären sie regelmäßig poliert worden, grinsen Maria an, als wollten sie etwas mitteilen. Sie schiebt den Kasten zur Seite, will ihn in die Garage bringen, dorthin, wo der Tisch steht, an dem Alaska arbeitete, wenn etwas zu reparieren war. Vielleicht kann Albert die Zangen, die Hämmer, die Schlüssel gebrauchen. Die halbzerfetzten, leeren Kartons wirft sie durch das Dachfenster nach draußen, schaut ihnen beim Segeln hinterher.
Ein Schwall Eisluft weht ihr entgegen, erinnert sie an die Alaska-Urlaube, die Hundefahrt. Nachdem er sie wie ein Gepäckstück verschnürt und ihr Schal, Handschuhe, eine Mütze mit Augenschlitzen verpasst hatte, stellte er sie vor sich auf den Schlitten. Dann schnalzte er mit der Zunge, rief den Hunden Kommandos zu. Nach einer Weile schwebten sie über die Schneelandschaft, die Sonne gleißte, die Hunde kläfften, der Schlitten knirschte. Am Himmel klebten Engel. Jahrelang waren sie nach Alaska geflogen, mal im Winter, mal im Sommer, berauschten sich am Familienglück. Die Mama hielt Händchen, lief in der Mitte, küsste mal ihn, mal ihre Tochter. Sie lagen zu dritt im Bett, Maria in der Mitte. Die helle Mamastimme mit dem russischen Akzent zwitscherte, flog über das Bett, übertönte Alaskas Brummstimme. Dann starb Marias Mama, der Krebs ließ ihren Bauch zu einem Riesenballon anschwellen, zerfetzte sie inwärts, bis die Bauchwand platzte. Am Grab weinte Alaska. Als niemand mehr da war, kein Pfarrer, kein Zaungast, keiner der Nachbarn und Freunde, versiegte der Tränenfluss, als hätte einer den Hahn zugedreht. Er wischte sich übers Gesicht, nahm Maria an die Hand, hielt ihr die Wagentür auf. Daheim schickte er sie aufs Zimmer, schloss die Tür und sagte ihr, sie solle jetzt schlafen. Maria wiegte sich, drückte die Puppe, das Mamaweihnachtsgeschenk, an sich, zählte die Bärchen auf der Tapete, hörte dem Ächzen, Stöhnen des Holzes und der Wände zu, den Schritten Alaskas. Der Stern war vom Himmel gefallen, das Licht in Marias Kindheit erloschen. Am nächsten Morgen saß ein lächelnder Alaska am Frühstückstisch: „Ich räume Mamas Sachen in die Garage und lasse sie abholen. Ist besser so.“.
Die Finger krampfen, Sehnen, Muskeln gleiten, bewegen sich, zucken. Auf der Haut bilden sich Schweißperlen. Ich spüre die Haare, Borsten, die mich kitzeln, als er mich nach oben katapultiert, um sich die Stirn abzuwischen, mit dem Gold den Alaska-Scheitel, den Haaransatz zu kitzeln, die Werkzeuge zu greifen, zu sägen, zu bohren zu schneiden, zu stückeln, nachdem er Gummi über mich gestülpt, mich im Dunkeln zurückgelassen hat. Zu selten waren die Sonnentage, wenn er mich ins Licht hielt, den Strahlen entgegen, wenn ich schmelzen wollte vor Glück.
Ein Knall schreckt Maria auf. Der Container landet auf dem Kies des Hofes, bebt und steht still. Maria läuft nach draußen, gibt den Fahrern einen Zehner Trinkgeld. Der grüne Lack blättert an manchen Stellen ab. Das Metall fühlt sich extrakalt an. Sie nimmt das Smartphone und wählt Alberts Nummer.
„Du hast’s nicht alle!“ Ihre Stimme überschlägt sich.
„Wieso?“
„Wegen dem Scheiß-Riesen-Container, was sonst.“
„Na und?“
„Du bist echt bescheuert, Albert! Das Ding ist viel zu groß. Na ja, was soll man schon erwarten. Als dein Kanakenvater gestorben ist, hast du sein bisschen Kram ins Auto gepackt und weggeschmissen. Du denkst wohl, Alaska hat das ganze Haus mit Müll vollgestopft, was?"
„Lass meinen Vater aus dem Spiel, hör auf damit, Maria!“
„Ist doch wahr.“
„Alaska war ein Arschloch.“
„Kein Wunder, dass er dich nicht leiden konnte.“
„Egal, Maria. Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.“
„Weißt du, Alaska hat mich gewarnt vor dir. Der Albert stammt aus einer Zigeunerfamilie hat er gesagt, alle Rumänen sind Zigeuner, nichts wert, müsste man ausrotten, keine Menschen, hat er gesagt.“
„Jetzt reicht’s aber. Dein Vater war ein verfickter Nazi, das wussten alle!“
„Mm.“
„Okay, gibt’s noch was?“
„Albert?“
„Was?“
„Ich liebe dich.“
„Mm.“
„Hier liegen Erinnerungen begraben, ich halt das kaum aus.“
„Du wolltest alleine hin.“
„Ja, ist besser. Wenn das alles vorbei ist, machen wir Urlaub, okay?“
„Wohin?“
„Wo’s warm ist.“
Nach dem Telefonat fühlt Maria sich leichter, als hätte sie sich von etwas befreit, das in ihrem Herzen feststeckte, als verstünde sie nach und nach, dass die Alaskastimmen verstummt waren, der Vater unter der Erde lag, nur noch die Würmer ihn hören konnten, die Wolfsfratze sich auflöste. Sie muss nur noch den Ring finden.
Als Maria vom Dachboden in die Wärme kommt, zittert sie. Die Dachluke schließt mit einem Gurgeln. In der Küche benutzt sie die Retrokaffeemaschine. Wasser tröpfelt langsam durch den Filter. Auf dem Tisch liegt das Schweizer Messer, dreiunddreißig Funktionen. Er trug es immer bei sich: Ein Mann braucht ein Messer, je schärfer, desto besser, hört sie ihn sagen. Dann schüttet sie den Kaffee in die Tasse mit der aufgedruckten Sonne, schmeckt das bittere Aroma. Das Messer steckt sie in die Jeanstasche, fühlt, wie es an ihrem Oberschenkel reibt. In den Räumen, die sie durchirrt, erkennt sie die Winkel wieder, die Flecken an den Wänden, die unebenen Stellen, den Teppich, auf dem sie die Puppen ausgebreitet, das Fenster, an dem sie die Sterne angeweint hat. Den Ring sieht sie nirgends. Wer ihn trägt, kann zaubern, hatte er gesagt. „Bist du ein Zauberer, Papa?“ „Vielleicht“, war seine Antwort.
In ihrem Zimmer steht die Zeit still, auch wenn Alaska das Bett abgebaut hat, nur der Schreibtisch geblieben war. Ihr Blick fällt auf die Nagellackreste, die sich ins Holz gefressen haben. Sie freut sich über die Traumküsse der Jugendjahre, bis die Erinnerungsbilder nach ihr greifen, endlose Hausaufgabenstunden, Schwärmereien, Einsamkeit, Trauer nach dem Tod der Mutter, Heimlichkeiten, große Angst. Sie kann die Rückblenden nicht verscheuchen. Dabei war so viel Zeit vergangen, so viel Zeit, seit sie sie nach der Lehre ausgezogen war, seit dem Streit wegen Albert, seit sie Alaska gemieden, ihn an Weihnachten, am ersten Weihnachtsfeiertag, niemals an Heiligabend besucht hat.
Schlussendlich zerrte er an mir, schob, drückte, um mich abzuziehen, loszuwerden. Ich steckte so fest auf dem Ringfingerglied, dass er mich einseifen musste, damit ich heruntergleiten, mich von der vertrauten Umgebung lösen konnte. Anstatt mich wegzulegen, irgendwo im Dunkeln zu verstecken, an einem Ort der Ruhe, wo Staubkörnchen das Gold kitzeln, in einer Samtschatulle womöglich, die wärmt und birgt, reißt er mich vom Finger, als sei ich ein Fremdkörper, schließt die Faust und versenkt mich in einem trüben Meer. Seither schwimme ich.
Karton für Karton füllt sie mit dem Kram, den sie fürs Erste behalten will: ein paar Töpfe, den PC, Festplatten, CDs, mit Aufklebern versehen, auf denen Zahlen stehen. Die Kleider nimmt sie sich einzeln vor, entdeckt ein paar Geldscheine, Quittungen, Kugelschreiber, fleckige Hosen, schmutzig, ungepflegt, obwohl er penibel war, einer für den Sauberkeit einen, Wert an sich darstellte. Keine Spur von dem Ring. Die Schränke riechen nach Mottenpulver und einem Hauch Alkohol. Maria leert sie, wirft das Geschirr, bis auf das gute, das mit den grünen Rosen, in den Container, hört dem splitternden Porzellan zu. Die Fotoalben packt sie in den Kofferraum, beschließt, sie irgendwann durchzublättern. Die Eichenstühle mit dem grünen Samtbezug, auf denen sie saß, wenn die Strafpredigten auf sie prasselten wie ein Gewitterregen, endlose Reden über Sauberkeit und Moral; alte Zeitungen, die er stapelweise aufbewahrte, manche aus den 70ern, Schweißrandunterhemden, US-Flaggen-T-Shirts, ein paar Bücher mit vergilbten Seiten, Jack London, Ernest Hemingway, Bildbände, deren Abbildungen verblasst waren, all das, was sie hasst, wirft sie eigenhändig in den Container.
Danach atmet sie durch, ruft Alaskas Freund Richard an:
„Richard, kannst du was von Alaskas Zeug gebrauchen? Schuhe, Mäntel, Anzüge, Pullover, mm?“
„Nee, Maria, nee, lass man. Aber das Saxofon, dass du mir das schenken willst, damit kann ich was anfangen, werde auf die alten Tage probieren, dem Ding paar Töne zu entlocken.“
Sie bleibt auf dem Hof stehen, überlegt sich, Richard nach dem Verbleib des Ringes zu fragen und legt schließlich auf. Als sie ins Haus zurückkommt, sitzen die Dämonen wie eh und je hinter den Tapeten, in den Fugen, verkriechen sich in der Luft, scheinen sich auf ewig festzufressen, glotzen sie an, zeigen ihr Alaskas Wutfratze, die gefletschten Zähne, Zitterhände, wenn er nachts heimkam, Maria auf ihn wartete, seinem Blick auswich, die Augen bemerkte, die über sie hinweg glitten, als suchten sie einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. Maria versuchte, der Alaskawut zu entgehen, sich in eine Eule zu verwandeln, ihn mit Vogelblicken zu bannen, bevor die Woge über sie schwappte, um sie zu verschlingen, etwa, weil sie ein Glas verschüttet, die Hausaufgaben nicht zufriedenstellend erledigt hatte, ihre Schrift nicht lesbar genug erschien, irgendetwas anderes gegen die Alaska-Ordnung verstieß. Alaska schlug sie nicht, er wütete. Danach schwieg er, redete tagelang nichts mit ihr. Manchmal verschwand er die ganze Nacht, kam erst am frühen Morgen zurück, gerade noch rechtzeitig, um die Lieferung aus Holland entgegenzunehmen, die Blumen im Laden zu arrangieren und zurechtzuschneiden, sah ruiniert aus. An solchen Tagen war Alaska am gefährlichsten.
Ich kann zaubern, die Wirklichkeit zerstückeln, zerfasern, dem Träger Macht verleihen, Träume verwirklichen. Alaska glaubte daran und handelte danach. Vor vielen Jahren schon. Wieder und wieder. Er pausierte, als seine Tochter zur Welt kam. Bis Anna starb. Seine goldschöne Frau, die nie etwas bemerken wollte. Als ihn die Tochter verließ, fühlte er sich frei, lebte, lachte, spielte. Manchmal unternahm er einen Ausflug, manchmal musste Blut fließen. Und ich, ich schützte ihn, verlieh ihm Unsichtbarkeit. Um zu sterben, zog er mich ab, aus keinem anderen Grund. Das wusste er. Ich schwebe jetzt mitten in den Erinnerungen.
Maria bemerkt eine Pfütze vor der Garage. Mit dreizehn kaufte sie heimlich Tangas, versteckte sie. Jedes Mädchen trug Strings. Warum er sie fand, was er in der Kommode gesucht hatte, erfuhr sie nie. Eines Abends kam Alaska in ihr Zimmer. Ohne sie anzuschauen, zog er an der Schublade. Die Schiene quietschte. Er hielt einen schwarzen Spitzenstring zwischen Daumen und Zeigefinger, zeigte darauf, stopfte ihn in eine Aldi-Tüte. Die anderen folgten. „Du Hure!“, schrie er und packte sie. Sie fuhren in die Stadt, dorthin, wo Cracknutten auf Freier warten. Dann stieg er aus, schüttete den Inhalt der Tüte auf die regenfeuchte Straße, öffnete den Hosenschlitz und pinkelte auf den Wäschehaufen. Die Huren kreischten und lachten, Maria schämte sich. Wie lange hatte sie daran nicht gedacht?
Weil sie fürs erste genug hat, trägt Maria die Kartons zur Garage, weicht der Pfütze aus, stapelt sie in der Ecke neben dem Werkzeugtisch. Fässer stehen in unterschiedlichen Größen und Farben an den Wänden. Manche weisen Dellen auf. Sie erinnert sich nicht daran, wozu sie dienen, seit wann sie hier lagern. Teppichklebstoffgestank kriecht ihr in die Nase. Im letzten Jahr feierte Alaska auf dem Hof den 70. Geburtstag. Ted brachte Steaks aus dem PX mit. Das Grillfleisch brutzelte. Der Gesangverein rückte an, Volkslieder wurden geschmettert. Das Saxofon kam zum Einsatz. Die Sonne strahlte, bis ein Gewitter tobte, Regengüsse herabstürzten. Alaska öffnete die Garagentür. Die Gäste setzten sich, einige lehnten sich an die Fässer. Fleisch und Holzkohlegerüche verdrängten den Duft des Regens. Maria und Albert trafen spät ein und verließen die Feier früh.
Ich spüre einen Luftzug von draußen, schwimme auf halber Höhe zwischen dem Fleisch. Ach, wenn ich doch nur hier rauskäme. Einmal noch die Sonne genießen, meinen Glanzleib bestrahlen lassen könnte. Die meiste Zeit beschäftige ich mich damit, auszuweichen, auf keinen Fall anzustoßen. Ich erschaure, wenn es geschieht, stoße mich ab, soweit ich es vermag.
Wo ist der Ring? Weder in den Schränken, noch in der Küche oder auf dem Dachboden, weder zwischen dem Kram auf dem Schreibtisch, noch unter den Hinterlassenschaften aus dem Krankenhaus. Sie stellt sich vor, ihn an sich zu nehmen, überzustreifen, zu tragen. Sie stellt sich vor, ihn einzuschmelzen, zu beobachten, wie sich Blasen bilden, bis er die Form verliert, schwindet.
Die Fässer stehen im Weg. Sie muss in der Garage Platz schaffen, damit die restlichen Kisten reinpassen. Also nimmt sie sich das zerbeulte, blaue Fass vor, öffnet den Verschluss. Ein Metallgurt mit einer schlossgesicherten Schnalle hält den Deckel fest. Maria geht zum Haus, holt den Reif mit Alaskas losen Schlüsseln, der auf der Kommode liegt, probiert sie durch, bis einer greift. Die Zwinge krächzt, löst sich. Sie hebt den Deckel an und blickt hinein.
Alaska schwieg, bevor er starb. Wenn sie ihn besuchte, schaute er Maria unentwegt an, während Katheter ihn am Leben hielten, Flüssigkeiten durch die Blutbahnen jagten, obwohl nichts mehr zu retten, das Alaskaablaufdatum überschritten war. Sein Mund zuckte, mahlte, als wollte er etwas schlucken oder Worte formen, die ihm nicht gelangen, die er nicht herauspressen konnte. Die Augen wirkten wie Kieselsteine in einem Bergbach. Der Krankenhausarzt sagte, er habe gar nichts vom Sterben mitbekommen, so morphiniert sei er gewesen. Die Krankenschwester habe ihn zuletzt gesehen, grinsend habe er die Finger zum Victory-Zeichen gespreizt. Für die Beerdigung bestellte sie einen Saxofonisten, der seinen Lieblingssong spielte, das Solo aus „Your latest trick“ von den Dire Straits. Eine Menge Leute kamen, ihn zu verabschieden. Es roch nach feuchter Erde, nach Gras.
Fäulnis, Terpentingeruch, abgestandenes Wasser zwingen sie, einen Schritt zurückzutreten, durchzuatmen, bevor sie sich wieder vorbeugt. Eine milchiggraue Flüssigkeit füllt das Fass bis zum oberen Drittel. Darin erkennt sie Schatten, Gegenstände bewegen sich, angetrieben von der Welle, die Maria durch das Öffnen des Fasses ausgelöst hat. Ihre Augen tränen. Sie tritt zurück, verlässt die Garage, um Luft zu schnappen, reibt sich das Gesicht, geht wieder rein. Auf dem Arbeitstisch findet sie Einweghandschuhe, streift sie sich über. Das Gummi schmatzt, schmiegt sich an.
Maria hört ihr Herz schlagen, als sie die Hand in die Flüssigkeit taucht. Das erste, was sie greifen kann, schwebt oben, erinnert an eine Baguette-Stange, fühlt sich schwer an. Sie zieht den Gegenstand aus dem Fass, hält ihn von sich weg, öffnet die Augen. Was sie sieht, dringt so langsam in ihr Bewusstsein, als müsse sie sich daran gewöhnen, als müsste der Verstand einen weiten Weg zurücklegen, sich in den Alaskarätseln verfangen, auflösen, wieder zusammensetzen, aus dem Gedankennebel tropfenweise eindringen, um das Kind in ihr zu beschützen. Das Bild klärt sich auf. Sie erkennt einen an den Rändern ausgefransten Arm, Klavierspielerfinger, Kalkhaut.
Erst als sie durchatmet, die Luft sorgsam aufsaugt, realisiert sie, was sie mit den plastikumhäuteten Fingern festklammert, sieht den bleichen Frauenarm, den Totenstumpf, bringt es mit ihrem Vater, mit Alaska, in Verbindung, ahnt, dass sie das Geheimnis gelüftet hat. Trotz des Grauens breitet sich etwas wie Euphorie in ihr aus, während sie den Arm wieder in der Flüssigkeit versenkt, den Geruch vergisst, der aus dem Gefäß aufsteigt. Ihr Arm senkt sich tief in das Fass. Ein abgetrennter Fuß kommt ans Licht. Die Reste der Nagellackierung leuchten auf, die Farbe ist an einigen Stellen abgeblättert - rot, was sonst. Maria erschrickt, schleudert zu Boden, was sie in der Hand hält. Das Fleisch prallt wie ein sattgesogener Ball auf, bleibt schließlich liegen.
Ihr Hirn pocht, Gedanken rotieren, Bilder erscheinen, Gestalten, Dämonen, mittendrin Alaska mit Teufelsgesicht, feuerlodernden Augen, abstehenden Riesenohren. Er starrt sie an, grinst. Maria zittert, zwingt sich, zu wühlen, zu suchen. Als ihr Arm wieder zum Vorschein kommt, hat sie einen kleinen Gegenstand gefischt, den Ring Alaskas. Da spürt sie das wutvibrierende Smartphone, zieht es aus der Hosentasche. Aber zuvor streift sie den Ring über und beschließt, nach Alaska zu fliegen.