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Allwissend
Jakob erklomm die schneebedeckte Bergspitze. Endlich, endlich hatte er es geschafft. Jahre der Suche würden sich jetzt endlich auszahlen. Endlich würde er Antworten auf alle Fragen bekommen. Und vielleicht noch auf ein paar mehr.
Jakob sah eine Hütte. Sie war sehr schlicht, aber mehr erwartet man von einer in 8075 Meter Höhe stehenden Hütte auch nicht.
Jakob trat ein.
„Oh, Großer Wissender, ich bin hierher gekommen, um Antworten –“
„Auf deine Fragen zu bekommen“, unterbrach der alte Mann.
Jakob war fasziniert: Dieser Mann trug zu recht den Titel „allwissend“.
„Ja, so ist es Meister.“
„Dann frage. Aber bedenke: Ich werde dir antworten!“
Der Alte hatte bisher ohne jegliche Emotion gesprochen, aber es schien ihm wohl wichtig, diesen Aspekt besonders hervorzuheben.
Jakob brachte seine erste Frage vor:
„Meister, der Gott Tie–wieh hat zu mir gesprochen und stellte mir die Frage: ‚Welche Farbe nimmt ein Chamäleon an, wenn es in einem Raum ist, dessen Wände, Decke und Boden Spiegel sind?’ Ich grübelte und grübelte. Aber ich konnte die Antwort nicht finden.“
„Nichts leichter als das: Wenn ein Chamäleon sich in einem derartig gestalteten Raum befindet, nimmt es keine neue Farbe an, sondern behält seine momentane, da es sich in allen Spiegeln erblickt, und diese „Umgebung“ folglich die gleiche Farbe haben muss.“
Jakob war aufs Neue fasziniert: Dieser Mann schien auf alles eine Antwort zu haben.
„Doch sage mir, Meister“, fuhr Jakob fort, „was ist das Universum?“
„Das Universum ist nichts weiter, als eine Anhäufung von Idioten, die sich fragen, was das Universum sei.“
„Aha, verstehe. Gibt es einen Gott?“
„Aufgrund des Aspekts, dass, ob nicht allein durch die Idee der Existenz Gottes in den Köpfen von mehreren Milliarden Menschen, ob nicht vielleicht gerade deshalb, allein deswegen schon, muss die Antwort auf die Frage lauten: Ja.“
„Ah, Sie meinen also, dass allein aus der Idee eines Gottes ein Gott entstehen kann, also es völlig unerheblich ist, ob es schon immer einen Gott gab, sondern allein deswegen, weil an ihn geglaubt wird, dass es ihn deswegen auch tatsächlich gibt, als eine gewisse Kraft im Kosmos.“
Der Alte sah Jakob an. Dieser schlug die Augen nieder und entschuldigte sich. Er hatte die eiserne Grundregel vergessen: Interpretiere niemals den Meister.
„Meister, was ist der Sinn des Lebens?“
„Ihn zu suchen.“
„Und, Meister, was ist die Kehrseite der Medaille?“
„Das, was man daraus macht.“
„Meister, wie können Sie hier überleben? Ich sehe keinen Ofen, keine Feuerstätte, keine irgendwie geartete Essensanrichte.“
„Dies, mein Sohn, ist ein Geheimnis.“
Jakobs Augen weiteten sich.
„... Vater?“, fragte er mit Tränen in den Augen.
„Äh, das kannst du mir nicht beweisen“, wehrte der Meister schnell ab.
„Meister, wieso leben Sie hier in dieser Hütte? Einsam auf einem Berg?“
„Ich bin nicht dein Vater! Niemand kann mir was beweisen! Ich lebe aus freiem Willen hier!“
„Meister, nun habe ich ein – ja, wie mag man es nennen? – hätte Kafka es geschrieben, wäre es wahrscheinlich ein berühmtes Gleichnis, aber es ist nicht von ihm:
Ich öffne den Kühlschrank.
Drinnen ein Joghurtbecher.
Warum?“
„Nun, da es nicht von Kafka ist, handelt es sich nur um eine Aneinanderreihung von Wörtern, die absolut sinnfrei ist. Ich weigere mich, so einen Schund zu beantworten.
Damit dürfte dein Wissensdurst gestillt sein. Ich gebe dir noch einen Rat, den du beherzigen solltest, um im Leben weiterzukommen: Erwarte immer das Unerwartete.“
„Aber, wenn ich das Unerwartete erwarte, ist es doch nicht mehr unerwartet?“
„Genau. Deshalb rate ich dir: Erwarte immer das Erwartete. Und beginne zu sein, und höre auf zu werden. Oder hieß es, beginne zu werden, und höre auf zu sein?“
„Meister, eine Frage noch: Was ist ein Überhangmandat?“
„Nun, dieses Wissen ist nicht für den Menschen vorbehalten. Selbst ich weiß es nicht.“
Und damit fiel der Alte in einen siebenjährigen Schlaf, aus dem er nach sechs Jahren erwachte. Den Rest seines Lebens verbrachte er damit, dieses Paradoxon zu durchschauen, was ihm jedoch nicht gelang. Erst viel später sollte einer kommen, der das Rätsel zu lösen vermochte: Eines der sieben Jahre war ein Schaltjahr. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Jakob indessen – gar nicht faul – durchsuchte die Hütte des Alten und fand nichts, was auf eine menschliche Existenz hinwies. In einem Paralleluniversum brachte er den alten Mann um.
Hier jedoch zog er seines Weges und amüsierte sich mit den neu gewonnenen Kenntnissen königlich.
Erst Jahre später, wenn es schon zu spät sein würde, würde er sich daran erinnern, dass er dem Alten die wichtigste Frage gar nicht gestellt hatte: Wenn Jakob dieses Ereignis auf Papier festhalten und veröffentlichen würde – hätte es eine Chance auf halbwegs gute Kritik?
Aber da Jakob nicht gefragt hatte, konnte er nur hoffen.