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Am Anfang das Ende

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30.07.2001
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Am Anfang das Ende

Dicke, fette Tropfen, die es ernst meinen. Manche würde dieses Wetter als „regnerisch“ Bezeichnen. Ein Tag, der es durchaus in sich hätte Hunde, Katzen und weiß Gott noch was aus den Wolken fallen zu lassen. Und davon reichlich. Mein Regenschutz fängt eifrig jeden Tropfen ein und lässt sie sauber gebündelt meinen Nacken entlang rieseln. Nicht uninteressant. Dummer Weise lenkt das feuchte Gefühl in meinen Schuh mich ein wenig von meinem eisigen Rücken ab. Aber nichts ist perfekt.

Trotzdem. Dieser Tag ist schon nahe dran an „perfekt“. Das Wetter hat zumindest genug Anstand ebenso mies wie meine Stimmung zu sein. Nur ein Masochist mit todesverachtendem Hang zu Dramatik würde jetzt durch den Wald gehen, während der Boden unter seinem Füßen auf dem besten Weg ist, ein munteres kleines Bächlein zu werden. Was soll ich dazu sagen? Könnte sich jedenfalls auch mehr Mühe geben, dieser armselige Rinnsaal.

Entschlossen schlitternd nähere ich mich dem kleinen See auf der Lichtung. Lange her, dass wir uns gesehen haben. Und wer weiß, ob er mich wieder erkennt. Das letzte Mal war ich als kleiner fröhlicher Junge hier. Ein Knirps, der unbeschwert Steine auf der glatten Oberfläche des Sees zum Springen abgerichtet hat. War das wirklich ich? Nun - zumindest hat auch der See sich verändert. Unruhig, dunkel – fast schon düster. Bestenfalls ein entfernter Verwandter aus diesem Sommer damals. So wie ich.

Da sind wir nun – der See und ich. Zwei alte Freunde, irgendwo zwischen bekannt und fremd. Ich gehe wie damals in die Hocke – zugegeben, vielleicht ein wenig langsamer, vorsichtiger. Meine Finger berühren das Wasser. Kalt und fast schwarz. Die Wolken spiegeln sich gebrochen in der aufgewühlten Oberfläche. Und die Momente gleiten in einander.

Ich bin gerade neuen Jahre alt geworden und ein langer Sommer voller Abenteuer und Entdeckungen liegt vor mir. Ein Gewitter liegt lauernd in der Luft. Ich bemerke die schwüle Hitze kaum, wer kann sich schon um Hitze kümmern wenn es gilt, den Rekord im Steinchen-Hüpfen ein für alle mal zu berechen? Die Steine tanzen und die Sonne funkelt geheimnisvoll in den sanften Wellen. In meiner Hand halte ich den mit Sicherheit besten Hüpfstein aller Zeiten. Wie von selbst streichen meine Finger über ihn und berühren liebevoll jede Rille, jede Rundung. So vertraut. Kein Wunder - schon seit Tagen trage ich ihn immer bei mir. Und seit Tage arbeite ich an meinem Wurf. Es wäre schließlich ein Verbrechen, mit einer falschen Bewegungen seinen Lauf über die Wellen zu verderben. Nur ein paar kurze Augenblicke, aber ich kann schon fühlen wie stolz ich auf meine Stein sein werde. Kein Stein wird auf diesen Wellen jemals so weit und wild tanzen wie er. Ich weiß es. Vorsichtig, fast schon zärtlich wiege ich ihn in der Hand. Ein letztes Prüfen seines Gewichts. Ich hole aus zum Wurf und bemerke nicht, wie ich voller Spannung und Sorge um meine Stein den Atem anhalte. Auch der See hält den Atem an und wird ganz ruhig und glatt. Er hält ganz still. Die perfekte Bühne für meinen tollkühnen Springer. Mein Arm streckt sich in einer schnellen Bewegung – und ein fruchtbares Krachen erschreckt mich. Meine Finger öffnen sich einen Augenblick zu früh und der Stein entgleitet mir. Mit einem dumpfen Geräusch landet er im Wasser und sinkt sofort. Nicht ein einziges Mal ist er gehüpft. Nicht ein einziges Mal.

Ich starre wie betäubt auf die Stelle an der mein kleiner, weißer Freund so plötzlich verschwunden ist. Meine Tränen vermischen sich mit den dicken Regentropfen. Der Regen – wann hat der denn begonnen? Auch die Wolken weinen und vermischen sich mit meinen Tränen zu einem letzen Abschied für meinen Springer. Gedankenverloren streiche ich mir über die Nase. Was riecht hier so? Ein beißender Geruch beginnt meine Trauer immer mehr zu stören. Ich blicke hoch und sehe, dass der Blitz am gegenüberliegenden Seeufer einen Baum getroffen hat. In zwei brennende Hälften gespalten. Langsam und unerbittlich beißen die Flammen in das Holz. Es zischt und knistert. Ein unheimliches Geräusch, fast als würde das Holz schreien. Bevor ich wie von tausend Teufeln gehetzt nach Hause laufe fällt mein Blick für einen letzten Augenblick auf die Stelle, an der der Stein verschwunden ist. Mein Gesicht ist tränenüberströmt und ich bin fast blind vor Furcht und Trauer. Ich blinzle – und die Zeit beginnt wieder ihren gewohnten Lauf.

Mein Stein liegt seit Jahren einsam am Grund des Sees. Am anderen Ufer steht immer noch der gespaltene Baum. Natürlich, er brennt nicht mehr. Ich umrunde mit schnellen Schritten den See. Laufe und schlittere auf dem feuchten Gras. Viel zu schnell, nur pures Glück hindert mich dran, bei jedem zweiten Schritt ins Wasser zu rutschen. Ganz außer Atem komme ich zum Baum. Natürlich, der Baum wäre auch noch hier wenn ich wie jeder normale Mensch langsam hingegangen wäre. Aber es gibt Dinge, die können nicht warten. Seitlich neben dem verbrannten schwarzen Stamm hat sich ein neuer Ast gebildet. Nein, nicht nur ein Ast – ein neuer Stamm. Noch dünn und jung – aber voller unbändigen Willen und Leben. So tapfer. So entschlossen. Ich bin gerührt. So sehr, wie seit Jahrzehnten nicht. Ich merke, wie mir die Tränen hemmungslos über die Wangen zu rinnen beginnen. Was für ein großartiger, entschlossener Baum. In zwei Hälften gespalten, halb verkohlt. Und trotzdem so voll Leben.

Ich lehne mich gegen seinen Stamm und schließe langsam die Augen. Ich fühle wo meine Hand den Stamm berührt. Und ich fühle mich. Tief in mich hinein. Ganz tief – da, wo ich mich lange nicht mehr hingewagt hatte. Jenseits der Masken und Rollen. Noch tiefer – vorbei auch an den Rollen, die ich mir selbst so glaubhaft vorspiele. Wie ein Fremder taste ich mich vor. Weiter und weiter. Ängste, Zweifel, schüchterne Hoffnungen. Vergessene Träume regen sich verschlafen und schüchtern. Ganz zaghaft werfen sie mir ein überraschtes Lächeln zu. Sie hätten wohl nicht gedacht, dass ich noch mal hier vorbei kommen würde. Und mitten unter ihnen stehe ich plötzlich vor mir. Vor mir selbst. Keine Rolle, keine oberflächlich funktionierende Maske – sondern ich. Und zum ersten Mal seit Jahren spüre ich wieder das, was wirklich ich bin. Noch so versteckt und verschüttet, dass ich es nur aus den Augenwinkeln erahnen kann. Aber sie sind da: der Kämpfer in mir, der Träumer. Von einem Augenblick zum anderen ist auch das alte Gefühl wieder da. So mutig, so frei. Und auch so lange her.

Heute ist alles anders. Zu viel ist geschehen. Das Leben ist passiert. Ich hätte nie gedacht, wie einem das Leben passieren kann. Wie sehr es das kann. Ich frage mich, ob ich das damals zugelassen hätte. Hätte ich? Ich war so stark, so entschlossen. Nein. Verdammt noch mal, nein. Ein ganz unbekanntes Gefühl. Und doch nicht unbekannt. Nur lange vergessen. Vielleicht schon zu lange?

Vorsichtig hebe ich meine Hand und berühre ganz zart die Blätter des jungen Baumstamms. Ich streiche behutsam mit meinen Fingern über jede Linie und fühle mich plötzlich unendlich verbunden. Mit diesem Baum. Und mit mir selbst.

 

Hallo Caroline!

Das Ende des Steins, der so bedeutend war für den Knirps, ist also bedeutungsvoller geworden als erwartet. Denn selbst wenn ein neuer Rekord aufgestellt würde, es wäre nicht das Ende des Schauspiels. Das Ereignis des Baumes verändert den Lauf des Lebens und schenkt neue Gedanken. Erinnerungen an eine verlorene Kindheit aber an eine gerettete Zukunft.

Erstaunlich wie ähnlich sich Baum und Mensch sein können. Man kann es noch sehen die Erinnerung, den gespaltenen Baumstamm. Die Bedeutung entsteht nahe aber erst nach langer Zeit.

Eine sehr schöne Geschichte, mit wahrhaftem Tiefgang!

 

:)

Ja, da kann ich nur zustimmen. Still und sehr wahrhaftig. Weiter so ...

Heiko

 

> Eine sehr schöne Geschichte, mit wahrhaftem Tiefgang!

*lächel* deine lieben zeilen freuen mich ganz besonders. die geschichte ist an einem regnerischen sonntag entstanden für einen lieben freund, der mich gleich zu zwei dingen angeregt hat ...

erstens, überhaupt eine geschichte zu schreiben. denn das hier ist mein absoluter erstling, meine erstgetippselte sozusagen.

und zweitens sie auch gleich aus dem schutz eines ganz versteckten ordners in die weiten des www zu entlassen.

mir war ein wenig bange auf welche gefühle sie da bei ganz fremden lesern wohl treffen würde ... so muss sich eine mutter fühlen, wenn sie beobachtet wie ihr kind die ersten schritte tut. einerseits stolz, anderseits schon ängstlich das verbandszeug bereit haltend.

deine zeilen haben mich sehr gefreut ... ich danke mit einem lächeln.

caroline

 

Ich nehme mal an ihr seid ein und die selbe Person. Nur, warum die selbe Geschichte nochmal als Zitat?

mir war ein wenig bange auf welche gefühle sie da bei ganz fremden lesern wohl treffen würde..
Nun, ist doch besser als wenn sie beim Leser keine Gefühle auslösen würde, oder? ;)

deine zeilen haben mich sehr gefreut ... ich danke mit einem lächeln.
Da Heiko keine ZeileN geschriben hatte, nehme ich jetzt mal ganz egoistisch an, das bezieht sich auf meine Wenigkeit. :D

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Selbst eine gute Geschichte braucht mal schlechte, aber konstruktive Kritik.

 

@Caroline
Auch mir hat die Geschichte gefallen, was ein halbes Wunder ist, auf das Du stolz sein kannst.

Normalerweise lehne ich diese Art von Erzählungen ab, weil sie mir aufdringlich und aufgesetzt vorkommen und deshalb keine 'emotionale Resonanz' (ich wüsste nicht wie ich es besser ausdrücken könnte) erzeugen.

Nichts davon trifft hier zu.

:)

Gruss,

Batch

 

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