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- 01.09.2005
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Angélique
Karaffenparty. Unsichere Schritte, Übelkeit und Rachegedanken. Kim hatte nicht bei Thomas und ihrer Mutter schlafen wollen, aber der Haustürschlüssel hing noch immer an ihrem Bund. Als die anderen die nächste Runde bestellten, war sie gegangen.
Eigentlich hatte sie die Nacht bei Kristin verbringen wollen. Die hatte einen guten Job bei Tegtmeier und eine eigene Wohnung, keine Fünfer-WG mit Nachtspeicher wie Kim in Hamburg. Aber Kristin hatte weitertrinken wollen, deshalb schlich Kim nun ins Elternhaus wie früher, hatte Angst, Thomas könnte auf sie warten, um zu fragen, mit wem sie wo gewesen war und ob sie Hasch geraucht hatte.
„Du machst Abi mit eins irgendwas und siehst auch ein bisschen nach was aus“, hatte er früher oft zu ihr gesagt. „Bei Tegtmeier würdest du so einen Job kriegen.“ Bei so schnippste er immer mit den Fingern. „Aber nicht, wie du rumläufst.“
Als sie sich heimlich den Misfits-Schädel auf die Schulter tätowieren ließ und nach dem Duschen mal vergaß ihn zuzudecken, gab Thomas ihr einen Stoß mit der Handfläche gegen das Sonnengeflecht. Er war stolz auf seinen braunen Gürtel, fast schwarz also. Er machte Sowieso-Karate, es interessierte sie nicht. Sie wollte hyperventilieren und kotzen, aber beides ging nicht, weil der Stoß alles in ihr blockierte.
Hinterher entschuldigte Thomas sich, bestand aber auch darauf, sie nicht geschlagen zu haben. Ihre Mutter glaubte ihm. „Er wollte dich nur zur Rede stellen und hat dich dabei aus Versehen zu fest gehalten“, sagte sie. Sie strich sich über die eigene Schulter und sah dabei Kims an. „Das ist aber auch … ein hässliches Ding.“
Thomas hatte sie immer dann aus Versehen zu festgehalten, wenn sie allein waren. Ihre Mutter sagte immer, sie übertreibt. Kim liebte sie trotzdem, aber warum ihre Mutter Thomas liebte, wusste sie nicht.
Thomas liebte was kroch und krabbelte, biss und stach. Im Keller hatte er einen Raum mit Terrarien eingerichtet. Er nannte es seine Schatzkammer. Glaskästen an der Wand statt Kisten voller Gold. Als Kind hielt Kim es kaum aus, allein runter zu gehen, um ein Eis aus der Truhe zu holen. Sie verzichtete oft darauf, selbst wenn sie sich nach dem Essen eines nehmen durfte.
Thomas hatte die Schatzkammer ausgerechnet in dem Raum eingerichtet, der wie kein zweiter im Haus ihrem Vater gehört hatte. Als C-Jungendtrainer hatte er den „Kram“ darin aufbewahrt, die Netze, die Bälle, die Stollenschuhe für die Kinder, die erst mal ein Probetraining machen wollten. Nach dem Unfall hatte ihre Mutter alles zurück an den Verein gegeben.
Den Raum hatte Thomas sich einfach genommen. Das behauptete ihre Mutter immer. „Und ich dachte, letzten Endes ist es nur ein Raum, Papa hätte das nicht schlimm gefunden.“ Sie strich Kim über den Kopf. „Findest du nicht?“
Fand sie nicht.
Mit fünfzehn hatte sie in der Küche ein Glas Wasser aus der Leitung getrunken. Kleine Nadeln wanderten unten über ihre nackten Füße. Zuerst dachte sie, es wäre nur das Kribbeln, das sie sich manchmal einbildete, im Wissen darüber, was im Keller wohnte. Doch es hörte nicht auf.
Sie sah nach unten und schrie. Das Glas fiel ihr aus der Hand in die Spüle. Sie trat ins Nichts, einfach weit weg mit dem Ding. Durch die Luft flog ein Tausendfüßler, lang und dick wie ein Stück Darm. Er klatsche an den Kühlschrank, fiel zu Boden und suchte wild nach einer dunklen Ecke, in die er sich verkriechen konnte.
Thomas kam rein und fing den Ausreißer mit einer Grillzange. Kim schimpfte, er solle besser auf seine scheiß Viecher aufpassen, der scheiß Riesenwurm sei ihr über die Füße gekrabbelt. Thomas lachte.
„Du Arschloch!“, schrie Kim.
Danach hielt er sie sehr fest. Als sie auf dem Küchenboden lag und nach Luft schnappte, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trat er ihr in den Rücken. Dabei zerquetschte er aus Versehen den Tausenfüßler mit der Zange und fluchte den Rest des Tages, was für eine selbstsüchtige Kuh sie sei.
Später entschuldigte er sich. Ihre Mutter fragte, ob alles wieder okay sei. Kim nickte.
In ihrem Zimmer weinte sie in der Nacht, das Bild ihres Vaters an die Brust gepresst, sie auf seinen Schultern mit einem Eis in der Hand. Es war im Heide Park, hinter ihnen die große Holz-Achterbahn. Auf den Auslöser gedrückt hatte ihre Mutter, vier Monate, bevor Nieselregen bei null Grad auf der Kreisstraße gefror und ihr Vater vor einen Baum knallte. Kim wusste, er hatte schnell nach Hause gewollt, weil sie mit Magen-Darm im Bett lag. Er hatte sie trösten wollen. Sie hatte geweint am Telefon, denn sie hatte nichts mehr in sich gehabt und musste trotzdem noch kotzen. Hätte sie sich zusammengerissen, wäre er noch am Leben. Sie war eine selbstsüchtige Kuh, und zur Strafe hatte das Universum ihr Thomas geschickt.
Jetzt stand sie vor der Treppe nach unten. Von hier oben konnte sie die Tür zur Schatzkammer sehen. Ob Angélique noch lebte? Bis zu 20 Jahre alt könnte sie werden und eine Beinspannweite von 30 Zentimetern erreichen.
„Das ist so“, hatte Thomas ihr damals erklärt und die Hände so weit auseinandergehalten, das ein Fußball dazwischen Platz gehabt hätte. Kim war elf gewesen. Thomas lebte noch nicht lange bei ihnen. „Es sind Lebewesen“, hatte er gesagt. „Eigentlich ist sie doch richtig schön, oder?“
Er hatte sie Angélique genannt, „weil sie Französin ist“. Aus Französisch-Guyana. „Weißt du, wo das ist?“
In Frankreich, hatte Kim damals angenommen. Thomas wollte ihr Angélique in die Hand geben. „Danach fürchtest du dich nie wieder.“
Kim wollte nicht. Angélique war selbst noch klein, aber sie war schon größer als ihre Hand.
Auf ihrem Rücken verhakte Kim die Finger ineinander. Als Thomas einen Arm packte und mit immer mehr Kraft nach vorne zog, fing sie an zu weinen. Ihre Mutter hörte sie oben und fragte, was los sei.
„Alles gut!“, erwiderte Thomas. Er setzte Angélique behutsam zurück in ihren Glaskasten. Schnell verzog sie sich in den ausgehöhlten Ast darin.
Bitterkeit und Enttäuschung lagen in Thomas' Blick, als er sich wieder zum Kim umdrehte. „Dir ist nicht zu helfen“, sagte er.
Sie ging die Treppe hinunter, zum ersten Mal seit acht Jahren, seit sie ausgezogen war. Jeder Schritt auf jeder Stufe stellte das Rädchen an der Zeitmaschine ein kleines bisschen weiter zurück. Das Kribbeln auf der Haut war wieder da, lauter alte Freunde traf sie heute Nacht.
Wegen Französisch-Guyana nannte Thomas sie auch seine Grande Dame. Einmal träumte Kim davon, in dem hohlen Ast von ihren Kindern gefressen zu werden.
Im Holz spann Angélique ihren Kokon und legte ihre Brut darin ab. Thomas hatte ihrer Mutter davon vorgeschwärmt. „Die Eier müssen es dunkel und warm haben.“
Was schlüpfte, verkaufte er. Das brachte „ganz gut was nebenbei“. Jede neue Generation machte Thomas stolz, als wäre er selbst Vater geworden.
Er erzählte auch gern, wenn andere Sammler Angélique lobten. Zum Beispiel, weil sie groß und kräftig genug war, lebende Mäuse zu verschlingen, und zwar nicht nur die blinden Babys, die sich nicht wehren konnten. Mutter mochte nicht, wie Thomas über Angélique sprach. Kim sah es in ihren Augen.
Der Lichtschalter rechts. Kim drückte darauf.
„Oh Gott.“
Thomas hatte Schätze gesammelt wie ein gieriger Pirat. Kein Stück Wand lag mehr hinter den Terrarien frei. Die meisten Bewohner hatten sich in ihre Bauten zurückgezogen. Ein Tausendfüßler, noch länger und dicker als der, der ihr damals über den Fuß gekrabbelt war, tastete sein Gefängnis mit den Fühlern ab.
An der Wand direkt geradeaus, auf dem Regal in der Mitte, stand das Kronjuwel. Kim ging darauf zu und vergaß die kleinen Monster um sich herum. Es gab nur sie beide.
Angélique hatte sich in ihren Ast verkrochen. In der Ecke lag ein kleines Männchen auf dem Rücken, mit angezogenen Beinen. Ficken war gefährlich in Angéliques Welt. Thomas machte mit ihr also immer noch ganz gut was nebenbei.
„Groß sind wir beide geworden, du Schlampe.“
Ein Bein ragte aus dem Ast hervor. Angélique hatte die Höchstmarke erreicht. Vielleicht war sie sogar schon darüber hinaus.
Das Bein zuckte wie bei einem träumenden Hund. Kim erschrak.
„Er muss so stolz auf dich sein.“
Und es wird ihm das Herz brechen, wenn du weg bist. Weg wie ihr Vater. Morgens hier, abends Matsch.
Kim ballte die Hände zu Fäusten. Versuchte sich zu erinnern, wie oft Thomas sie aus Versehen festgehalten hatte. Im Festzelt war ihr die Idee gekommen, den ganzen scheiß Kasten in die Weser zu schmeißen. Hatte man Hexen nicht auch manchmal ersäuft?
Hass legte sich wie ein warmer Mantel um ihre kalte Angst. Sie nahm das Terrarium vom Regal. Fast hätte sie es fallen lassen. Das Bein zuckte wieder, so nah vor ihrem Gesicht.
„Bonjour“, sagte Kim. Nur ein Wort, aber sie hörte ihre Stimme zittern.
Der Kofferraumdeckel quietschte wie die Türen eines Hauses, das lange leer gestanden hatte.
„Scheiße.“
Sie hatte das Festival vergessen. Schlafsäcke verstopften den Corsa hinten, Paletten mit leeren Dosen Bier und Spirelli in Arrabbiata. Angélique musste auf den Beifahrersitz. Wenn sie schon nicht in den Kofferraum passte, wollte Kim sie wenigstens jederzeit sehen können.
Der Weg zur Weser führte über die Felder zwischen den Dörfern. Niemand kam ihr entgegen, niemand fuhr hinter ihr. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei angehalten zu werden, lag bei fast null. Für Trinker einer der Vorteile des Landlebens.
Bis zur nächsten Straßenlaterne waren es ein paar Kilometer. Das Niemandsland hatte sie jetzt. Die zugewucherten Wiesen gehörten Füchsen, Hasen, gelegentlich einem Hund, wenn Herrchen Bock hatte, zum Spaziergang so weit rauszufahren.
Sie fragte sich, ob Angélique einen Hasen fressen könnte. Einen kleinen vielleicht. Trotzdem wäre es genauso ein Todesurteil gewesen wie die Weser, sie einfach hier rauszuschmeißen. Wenn der Fuchs sie nicht geholt hätte oder irgendein Wildschwein, dann in zwei Monaten der Herbst. Ihre Art brauchte 40 Grad bei 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Hölle würde ihr gefallen.
Kim stieß auf. Die Magensäure brannte und schmeckte nach Bacardi-Cola. Sie sah zur Decke des Wagens und lachte über den widerlichen Geschmack. Die Strecke war kurvig. Immer mal wieder steckte am Straßenrand ein Kreuz in der Erde.
Kim sah wieder geradeaus. „Oh!“
Sie riss das Lenkrad scharf nach rechts. Mit achtzig Sachen schoss der Wagen über den Rand einer steilen Böschung hinaus. Sie hatte dem Hasen ausweichen wollen, aber sie spürte, wie die linke Front des Corsa ihn noch erwischte.
Eine Sekunde der Schwerelosigkeit. Dann ging es mit der Motorhaube voraus nach unten. Der Aufprall stauchte das Auto zusammen. Kim spürte ihre Kniescheiben zerspringen. Bevor sie schreien konnte, knockte der Ruck nach vorne sie aus. So bekam sie nicht mehr mit, wie das Auto auf die Fahrertür fiel und ihr dabei die linke Schulter aus dem Gelenk riss.
Es wurde hell. Kurz glaubte sie, gerade aus einem Traum erwacht zu sein. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf der Seite wie immer.
Aber warum stank das Bett nach Benzin? Sie machte die Augen auf. Ihre Kehle war trocken, der Gaumen klebrig. Mit der Zungenspitze fuhr sie ihre Zähne ab und bemerkte vorne zwei Lücken.
„Hilfe.“ Es war leise und klang komisch wegen der fehlenden Zähne.
Ihre Beine. Gott im Himmel, ihre Beine! Jemand schien ein glühendes Messer in ihren Nacken zu stecken, als sie runterblickte. Sie konnte ihre Waden nicht sehen. Der Unfall hatte den Fußraum zusammengedrückt wie eine Dose. Was sie sah, waren Glassplitter und ein hohler Ast, der neben ihrem Schoß auf der Fahrertür lag.
Ihr rechter Arm hatte den Aufprall heil überstanden. Kims zitternde Finger gingen zum Holz. Sie sah dabei zu, als gehörte die Hand jemand anderem. Was auch immer in ihr diese Hand lenkte, wollte Gewissheit haben. Das Bein ragte nicht mehr aus der Behausung hervor und die Glassplitter überall gehörten nicht nur zur Windschutzscheibe.
Sie drehte den Ast, sodass sie hineinsehen konnte. Nicht nur das. Sie konnte einfach hindurchsehen.
Kim riss den Kopf hoch und zur Seite. Ignorierte das Messer in ihrem Nacken und die überdehnten Sehnen in ihrem Hals. Der Beifahrersitz war leer, ebenso wie die Armaturen.
Wo war sie?
Der Körper hatte den Notstrom angeworfen. Sie holte ein paar Mal Luft, dann gelang ihr ein Schrei.
Alles still. Sie erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den ihre Mutter warnend vorgelesen hatte, einige Jahre, bevor Kim den Führerschein machte. Ein Mann hatte auf dieser Strecke einen ganz ähnlichen Unfall gehabt, die Böschung runter. Ein Lastwagenfahrer, der einen Stau umfahren wollte, hatte den Wagen zufällig entdeckt, weil er pinkeln musste. „Das war Glück“, hatte die Zeitung einen Polizisten zitiert. „Hier ist so wenig los und von der Straße aus sieht man das Auto nicht da unten in den Büschen liegen. Das hätte auch eine Woche dauern können, bis es einem auffällt.“
Eine Woche. Die Schmerzen und der Durst würden sie in ein paar Stunden töten. Eigentlich hoffte sie das sogar, denn alles tat so unfassbar weh.
Ihr Handy! Es hätte sonstwo liegen können, wo sie nicht drankam, aber da war es, im Fußraum des Beifahrersitzes. Auch der war eingedrückt, der Weg hinein glich einem zusammengestürzten Höhleneingang. Auf der Schwelle dieses Eingangs lag das Telefon.
Kim streckte die Hand danach aus. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn Parkinson oder irgendein anderer fieser Mist einem den Körper nahm. Eine selbstverständliche Bewegung war plötzlich ein Kraftakt, eine Herausforderung, ein Kampf gegen die eigenen, ungehorsamen Muskeln. Wie sehr sie sich auch unter Schmerzen reckte, eine letzte Lücke zwischen ihren Fingern und dem Telefon blieb. Diese Lücke hatte den Durchmesser eines Zwei-Euro-Stücks.
Auch der Gurt hielt sie zurück. Zuerst hatte sie mit ihrem ausgekugelten Arm versucht, ihn zu öffnen, aber in ihrer Schulter rieb dabei etwas aneinander, das es eigentlich nicht tun sollte. Sie versuchte es mit dem rechten Arm, das einzige an ihr, was noch halbwegs zu funktionieren schien. Die Halterung des Gurts klemmte. Sie war an den Sitz gefesselt.
„Hilfe.“
Elend und leise. Kim saugte Spucke aus den Mundwinkeln zusammen, bis sie eine kleine Pfütze zum Schlucken auf der Zunge hatte. Mit dem geölten Hals versuchte sie es noch einmal.
„Hilfe!“
Ein paar frühe Vögel antworteten. Es klang, als würden sie sich über sie lustig machen.
Aber jemand hatte sie gehört. Auf seine Art. Ihre Art. Hatte die Erschütterungen in der Luft wahrgenommen mit den Haaren an den Beinen.
Rechts von Kim bewegte sich etwas. In dieser neuen, auf den Kopf gestellten Welt: Über ihr. So weit es ging, also nicht sehr weit, drehte sie den Kopf. Eine Hand griff von hinten um den Beifahrersitz, als wäre jemand hinten im Auto. Drei Finger legten sich langsam auf den Stoff. Lange, dünne Finger. Haarige Finger. Braun und grau.
„Lass mich in Ruhe.“ Kim flüsterte. „Ich hab dir nichts getan.“
Haha! Du wolltest sie ersäufen und sie weiß es!
Langsam zog Angélique ihren gewaltigen Körper in Sicht. Kims Atem ging schneller. Die Grande Dame hatte einen Hinterleib so groß wie eine Ratte. Sie stellte die vorderen Beine auf. Sieh mich an.
„Verschwinde!“
Die Beine senkten sich wieder. Kim spürte den Blick auf sich. Acht Augen.
„Geh weg, hab ich gesagt!“
Angélique wanderte die Rückenlehne herab. Langsam, als wäre sie selbst benommen vom Sturz. In der Breite reichten ihre Beine fast von einem Ende der Lehne zum anderen. Kim hätte den Arm ausstrecken und sie berühren können. Lieber hätte sie sich die Hand mit einer Laubsäge abgeschnitten.
Ihr Atem war jetzt fast ein Hecheln. Das Herz raste im selben Rhythmus. Kim wartete auf einen Angriff, aber Angélique ruhte, als wüsste sie, dass sie Zeit hatten.
Kims Kreislauf kapitulierte vor der Panik. Schwarze Punkte vermehrten sich und verengten ihre Welt zu einem Tunnel. Es war schrecklich und schön zugleich, das Bewusstsein zu verlieren.
Als sie die Lider wieder öffnete, war es Tag. Sie wusste nicht, welcher. Ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie einen Sprung aus dem fünften Stock überlebt. Sie streckte sich noch einmal nach dem Telefon. So weit weg. Als läge es auf einem anderen Kontinent.
Etwas bewegte sich draußen. Ein Berner Sennenhund stand im Gras und sah sie fragend an. Jemand pfiff. Der Hund drehte den Kopf nach rechts. Kim streckte die Hand nach ihm aus. Sie wollte etwas sagen, aber sie musste schlucken wegen ihres kratzenden Halses.
Wieder ein Pfeifen. Eine Stimme rief den Namen des Hundes, so weit weg, dass sie ihn nicht verstand. Der Hund sah wieder zu ihr, quittierte ihr Röcheln mit einem leisen, fragenden Bellen. Sorry, schien das zu bedeuten. Ich muss los. Kim sah ihm weinend hinterher.
Als Angélique noch klein gewesen war, hatte sie Babymäuse gefressen, zitterndes rosa Fleisch auf Thomas' Handflächen. Als eine davon sich umdrehte, erkannte Kim die eigenen Gesichtszüge in dem des Nagetieres.
Das war ein Traum oder eine Halluzination vom Durst. Die wache und reale Welt und die andere, die mit den Babymäusen, die aussahen wie sie, waren zunehmend schwerer voneinander zu unterscheiden. Es war hell und heiß und ab und zu hörte sie ein Auto oben auf der Straße. Eines hielt an und eine Tür wurde zugeschlagen. Jemand fragte, ob alles in Ordnung sei und sie war gerettet.
Doch dann machte sie die Augen auf.
Sie erwachte in einem Traum. Es war dunkel und ihr Mund war voll.
Du bist wach.
Die Ohnmacht hatte sie geholt, stundenlang. Das hier war kein Traum.
Sie bewegte die Zunge. Schwerfällig kreiste sie umher und rührte durch kleine Kugeln, die in etwas steckten, das sich wie Zuckerwatte anfühlte. So klebrig.
Kim biss zu. Die kleinen Kugeln platzten. Sie drehte den Kopf, damit der Saft ihr aus dem Mund lief und nicht den Hals hinab.
Warte!
Zumindest ein Teil war Wasser. Sie atmete zweimal tief durch die Nase ein und dann, auf drei, schluckte sie. Der Brechreiz schnürte ihr den Hals zu, aber es kam nur wenig. Vielleicht würde sie kotzen, wenn sie weggetreten war und dann daran ersticken.
Augen auf. Grünes Gras hinter der gesplitterten Windschutzscheibe. Sie konnte es sehen, also war es hell. Sie lebte. Und stöhnte.
Die Kopfschmerzen hatte sie zuerst noch ignoriert. Neben dem, was in ihren Knien und ihrer Schulter los war, fielen sie nicht weiter ins Gewicht. Jetzt fühlte es sich an, als würde ihr Gehirn da oben drin anschwellen. Es war wie ein Fernseher, den jemand jedes Mal, wenn sie aufwachte, ein bisschen lauter gedreht hatte.
Inzwischen musste sie die ersten Risse im Schädel haben, wie ein Damm kurz vor dem Bruch. Sie stellte sich vor, wie ihre Augen platzten und wie angenehm es wäre, wenn der Druck auf diese Weise entweichen könnte.
Ein Fauchen rechts von ihr. Angélique saß über dem Handschuhfach. Wieder stellte sie die Vorderbeine auf. Diesmal war es mehr als eine Drohung.
Was hast du getan?
Kim spuckte. Der Schleim in ihrem Mund war zu kleinen, harten Krümeln getrocknet.
„Fick dich.“ Sie hörte die Worte in ihrem Kopf, aber was aus ihrem Mund kam, klang ganz anders.
Die Haare! Sie hatte die Haare vergessen!
Thomas hatte es ihr erklärt damals, ihre Abscheu für Faszination gehalten. Wenn sie sauer ist, schießt sie mit ihren Haaren wie mit Pfeilen. Giftige Pfeile. Es fühlt sich an wie Pferdefliegen, aber schlimmer.
Einer der Pfeile traf sie ins Kinn, einer in die Wange und einer ins linke Auge. Jetzt fühlte es sich an, als würde es tatsächlich aufgehen wie ein Ballon, aber es wollte und wollte nicht platzen. Kim öffnete den Mund für das bisschen Schrei, zu dem sie noch fähig war.
Angélique fiel. Kim schrie und hob den Arm, aber ihr ausgezehrter Körper bewegte sich wie in Zeitlupe. Angéliques Hinterleib landete in ihrem Mund. Weil Kim versuchte, ihn noch rechtzeitig zu schließen, biss sie unwillentlich zu. Gleichzeitig bekam sie Angélique mit der rechten Hand zu fassen.
Die Zähne der Grand Dame bohrten sich in ihren Finger, wie mit Säbeln hackte sie darauf ein.
Keine Zähne, hatte Thomas ihr früher erklärt. Cheliceren nennt man die. Kannst du das sagen, Cheliceren?
Anstatt sich Angélique aus dem Gesicht zu reißen, biss Kim zurück. Der Instinkt, dem sie damit folgte, hatte leichtes Spiel bei der Übernahme ihres geschwollenen Hirns.
Angéliques drahtige Haare stachen in das wunde Fleisch ihrer Zahnlücken. Ihr Kiefer zermalmte, was er zu packen bekommen hatte. Die ergrauten Beine zappelten.
Irgendwann zuckte Angélique nur noch. Ihre Innereien legten sich warm auf Kims Zunge. Ein letztes Bein wollte nicht aufhören, nach ihr zu treten – Lass mich los! – aber schließlich bewegte sich auch das nicht mehr.
Willkommen zu Hause, dachte Kim.
Willkommen zu Hause.
Sie spuckte ihre Beute aus. Die Grande Dame fiel durch das gesplitterte Fenster ins Gras. Kim schrie. Nicht vor Schmerzen diesmal, nicht vor Angst. Es klang nicht menschlich, aber es klang gut.
Sie hätte jetzt sterben können.
Nein.
Sie wollte die Hand wieder nach dem Telefon ausstrecken. Es war ein halbherziger Versuch, die Enttäuschung bereits mit eingeplant. Dann zuckte eine Idee durch ihr Dammbruch-Hirn wie ein Stromstoß.
Kim packte Angélique am zerquetschten Unterleib. Als sie sie anhob, kreuzte ihr Blick das tote Starren von acht Augen. Kurz fürchtete sie, ein Funken Hass könnte das Leben in diesen Augen wieder entzünden. Doch nichts geschah. Kim spuckte Angélique blutig braunen Schmand ins Gesicht.
Es klappte. Die Grande Dame überbrückte das Stück, das gefehlt hatte. Kim wimmerte vor Erregung. Hoffnung. Langsam zog sie das Monster ihrer Kindheit wieder zu sich. Nichts. Das Telefon blieb, wo es war.
„Es muss gehen. Bitte.“
Beim zweiten Mal machten Angéliques Zähne – ihre gottverdammten Cheliceren! – leise tack, als sie an der Längsseite des Handys hängenbleiben. Kims Atem ging schneller. Ihr Arm zitterte.
„Wag es nicht“, herrschte sie ihn an. „Wag es ja nicht.“
Sie zog. Die winzigen Enterhaken, die sie nach dem Telefon geworfen hatte, hielten. Das Telefon rutschte aus dem Fußraum und fiel durch das kaputte Fenster ins Gras neben Kims Gesicht. Ihr Schreien ging in ein Lachen über, das Lachen in ein Weinen. Schließlich alles gleichzeitig.
Sie nahm das Handy und wählte den Notruf. Ihre Kehle war trocken und ihre Lippen geschwollen, ihr Mund eine Wunde. Irgendwann hatte die Frau am anderen Ende die notwendigen Worte trotzdem verstanden. Kreisstraße, Kurve, Böschung. Unfall.
„Bleiben Sie dran, sprechen Sie mit mir“, sagte die Frau.
Kim nickte. Gib ihr noch Handzeichen, du hohle Nuss.
Sie kamen, um sie zu holen, „aber es dauert einen Moment“, sagte die Frau. „Sie sind allein im Auto?“
Kim musste kurz darüber nachdenken. „Jetzt ja.“
„Ja?“
„Ja.“
Die Schulter würde noch eine Weile schmerzen, aber dann, irgendwann, wäre sie wie neu, sagte der Chirurg. Die Knie, leider, das war was anderes. Was ganz anderes. Kim hörte Stolz heraus, als er erklärte, er habe keinen ihrer Unterschenkel abnehmen müssen.
„Aber Sie werden Krücken brauchen. Möglicherweise für immer. Die Knie ...“ Es folgte ein Schwall medizinischer Fachbegriffe, und irgendwo zwischendrin sagte er „völlig zerstört“.
Scheiß auf die Knie. Scheiß auf das Auge, das nur noch hell und dunkel voneinander unterscheiden konnte. Kim lächelte, weil sie lebte.
Nein, nicht deshalb. Weil sie es nicht tat.
Ihre Hand ging zum Bauch. Ein kurzer Krampf.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Chirurg.
„Ein bisschen Bauchschmerzen“, flüsterte Kim.
„Ich hole eine Schwester.“
„Nein, es geht schon.“
Blödsinn.
Es fühlte sich an, als würde ein Seeigel durch ihre Harnröhre kriechen.
„Aua, scheiße!“
Der Chirurg machte einen Satz von der Bettkante, auf der er gesessen hatte. „Was haben Sie denn?“
„Mein Bauch!“
Zwischen den Beinen wurde es warm, als pinkelte sie sich ein. Der Chirurg zog das Laken von ihr runter. Sie besudelte das Weiß ihres Krankenhaushemdes, doch der Fleck im Stoff über ihrer Vagina war nicht gelb, sondern rot.
„Was ist das?“ Kim griff ihr Hemd, aber der Chirurg hob die Hand.
„Warten Sie!“ Kim fühlte ihn, als er sie spreizte. Der Schreck in seinem Blick wechselte zur Neugier eines Forschers.
„Was?“, fragte Kim. Die Krämpfe ließen nach, als wäre sie auf dem Klo gewesen. „Was ist da?“
Die Netzfäden zogen sich an den Fingern des Chirurgen hinab. Vier haselnussgroße Eier lagen auf seiner Handfläche. Aus einem zappelte ein kleines Beinchen.
„Schatz?“
Mutter, Mutter, Mutter. Sie sah ihre Mutter, sie war selbst keine.
„Ich wollte dich nicht wecken. Alles in Ordnung?“
Kim rieb sich den Traum aus den Augen. „Nein.“
„Das wäre es dann erst mal.“ Das sagte der Chirurg, der ihr eben noch Geburtshilfe geleistet hatte. Er stand in der Tür. Draußen auf dem Flur huschte ein Pfleger vorbei. „Bei Fragen wissen Sie ja jetzt, wie Sie mich erreichen.“
Ihre Mutter bedankte sich.
„Hast du geträumt?“, fragte sie, als der Chirurg die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Du hast ganz unruhig geatmet.“
Kim nickte.
„Vom Unfall?“, fragte ihre Mutter.
Sie nickte wieder.
„Du bist jetzt hier. Es sind nur Träume.“
Am Fußende des Bettes stand Thomas. Kim sah ihn nicht an.
„Hattest du getrunken?“, fragte er.
„Thomas, bitte.“ Ihre Mutter drehte sich zu ihm um. „Das ist doch jetzt nicht wichtig.“
Er zuckte die Schultern. „Ich meine ja nur. Wenn Sie Blut genommen haben, ist der Führerschein weg.“
„Du könntest dich auch einfach freuen, dass ich noch lebe“, sagte Kim.
„Tue ich ja.“
Kim wollte antworten, aber ihr Hals war rau. Sie nahm den Plastikbecher mit Pfefferminztee auf dem Nachttisch. Leer.
„Ich hole dir einen neuen“, sagte ihre Mutter und ging mit dem Becher nach draußen.
Thomas´ Hände krallten sich fester um das Bettgestell. Die Knöchel seiner Fäuste waren weiß.
„Was hast du gemacht?“
Wie im Auto schmierte Kim ihren Hals mit Spucke. Trotzdem war ihre Erwiderung kaum zu hören. „Was meinst du?“
„Tu bloß nicht so blöd. Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
Er nickte. „Klar.“ Er schlug auf das Bettgestell. Auf dem Weg nach draußen stieß er fast mit ihrer Mutter zusammen. Tee schwappte über den Becherrand.
„Mist!“ Ihre Mutter zog ein Taschentuch aus der Hose. „Gehst du raus?“, fragte sie Thomas.
„Ich warte im Auto.“
„Ich bleibe aber noch hier.“
„Schön.“
Kim stützte sich auf die Ellbogen. Die linke Schulter war absolut nicht damit einverstanden.
„Thomas?“, sagte sie.
Er sah sie an.
„Sie war schwanger.“
Ihre Mutter sah zwischen ihnen beiden hin und her. „Bitte?“
Bevor Thomas ging, nahmen seine Augen einen glasigen Schimmer an.
Ihre Mutter setzte sich wieder ans Bett und gab ihr den Tee. „Was hast du gesagt?“
Kim ließ den Kopf wieder ins Kissen sinken. „Sie war schwanger“, sagte sie und sah kurz zur Decke. Dann nahm sie einen Schluck Tee. Lecker.
Arschloch.
Doch die Träume blieben und ihr Name blieb, wie Krücken, falsche Zähne und ein fast blindes Auge: Angélique.