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Artistenliebe

Tex

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12.03.2009
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Artistenliebe

Artisten-Liebe

Zappo und Pirinella, Schausteller in der 4. Generation, hatten im Sommer 1961 ein Engagement bei einem Schweizer Zirkus und waren zu Auftritten mehrere Tage in Westdeutschland und Westberlin. Ihre beiden Kinder, ein Zwillingspärchen, hatten sie für die kurze Zeit ihrer Bekannten Tula, einer zuverlässigen jungen Frau in Berlin Treptow anvertraut.
Am Ende der Kiefholzstraße führte eine kleine Brücke über den Landwehrkanal zu einer großen Wiese. Dorthin spazierte Tula mit Pippina und Antonio, den Zwillingen, täglich. Da konnten die Kleinen unbeschadet ihre ersten Gehversuche unternehmen. Sie waren noch keine zwei Jahre alt. Ihre Schritte waren noch tollpatschig und endeten häufig in einer weichen Landung auf der Wiese.
Da Pippina eine Schnupfnase hatte, vergnügten sie sich am Morgen des 13. August 1961 in der Wohnung. Ohnehin war es ein kühler Tag. Sie wollten warten, bis es wärmer würde.
Merkwürdiges Gewummer dröhnte von der Straße bis in ihre Wohnung. Tula spähte aus dem Fenster und sah schwere Wagen und jede Menge Uniformierte auf der Straße. Da die Kleinen gerade schliefen, lief sie hurtig die Treppen hinunter, trat neugierig hinaus auf die Straße und wollte den Einsatztruppen folgen. Es interessierte sie doch, was die vorhatten.
Aber schon bald wurde sie von einem Offizier zurück gedrängt. Was sie hier zu suchen hätte. Sie solle heim gehen, weiter käme sie ohnehin nicht. Heute nicht und morgen auch nicht. Überhaupt nie mehr.
Es dauerte geraume Zeit, bis sie begriff. Dann herrschte sie den Mann an: „Sollen wir etwa eingezäunt werden? Wie die Tiere im Zoo?“
Nein, in die DDR bliebe doch der Weg offen!, bekam sie zur Antwort. Aber nicht nach Westberlin. Vor den Revanchisten da drüben müsse man anständige Leute wie sie doch schützen. Befehl von oben.

Tula sah auch, wie jeder vom Bautrupp von einem Soldaten mit der Flinte bewacht, ach nein, beschützt wurde. Und der Soldat wiederum von einem höheren Dienstgrades mit einer Pistole.
Ihr war mulmig.

Dem Artisten-Ehepaar Zappo und Pirinella verbaute Ulbrichts ‚Schutzwall‘ die Rückkehr zu ihren Zwillingen. Alle verzweifelten Versuche, ihre Kinder zu sich nach Westberlin zu holen, wurden von den DDR-Behörden abgelehnt. Tula wurden die Kinder abgenommen und zur Zwangsadoption frei gegeben. Weder sie noch die verzweifelten Eltern erfuhren Näheres. Die Kinder wurden getrennt und konnten sich später nicht mehr daran erinnern, dass sie ein Geschwister gehabt hatten, noch wer ihre wahren Eltern waren.
Pippina erhielt den Namen Petra und kam zu einer Bauernfamilie in ein Nest im Hinterland zur Ostsee. Da, was heute wieder Mecklenburg heißt. Trotz der fürsorglichen Zuwendung ihrer Adoptiveltern fühlte sie sich nie ganz wohl in ihrer Familie. Die waren so anders. Pippina malte und zeichnete gern und gut. Die Bauern fanden das etwas eigenartig. Ohnehin waren Bundstifte und Farbkästen Mangelware. Mitunter half sich die kleine Künstlerin mit zerquetschten Blütenblättern.
Auch die Kinder der Umgebung blieben Petra in ihren Neigungen stets fremd. Kein Wunder, die Erbanlagen der Schausteller schlugen auch in der 5. Generation durch.
Ähnlich ging es Antonio, der Andreas genannt wurde. Seine neuen Eltern waren ein Fabrikarbeiter-Ehepaar in einem Leipziger Vorort. Dass er in dieser Umgebung eine gute sozialistische Erziehung erhalten würde, davon ging die Adoptions-Behörde aus. Andreas-Antonio war stets der Klassenclown. Im Pionierferienlager durfte er in all den Jahren beim Abschiedsabend am Lagerfeuer eine lustige Aufführung zum Besten geben. Da fühlte er sich in seinem Element, wenn alle seine Darbietung gut fanden und klatschten. Doch das blieben Kindereien.

Als er erwachsen wurde, bekam auch Andreas eine Anstellung in der Leipziger Eisengießerei, wo die – vermeintlichen - Eltern arbeiteten.
Petra, die bei ihrer ländlichen Familie mit Tieren aufwuchs, liebte lustige Kunststückchen – zu Geburtstagen oder Klassenfesten – mit ihren Haustieren. Die Bauern waren zwar alle in der LPG , doch durfte sich jeder daheim noch Kleinvieh halten. Gefüttert wurden sie aus den Beständen der LPG, klar. Einmal hatte eine Sau 12 Ferkel geworfen. Petra war ganz stolz, als es ihr gelang, das ganze Dutzend dazu zu bringen, über ein Stöckchen zu springen. Die Eltern missbilligten, Kopf schüttelnd, diese Zeitverschwendung. Niemand verstand sie, auch nicht, wenn sie musizieren oder basteln wollte. Stricken, ja, das wurde gern gesehen.
Nach Schulabschluss wurde Petra Melkerin in der LPG ihres Ortes. Das war so weit weg von ihren Neigungen. Mit keinem in ihrer Umgebung könnte sie über ihre geheimen Wünsche reden. Es gab keinen geeigneten Partner für sie. Petra blieb unverheiratet und wurde leicht sentimental, wenn sie an ihre unerfüllten Träume dachte.

Als in Berlin die Mauer fiel, war sie bereits 30 Jahre alt. Sie verließ ihre bäuerliche Zwangsheimat und suchte ein neues Betätigungsfeld. Es drängte sie, ihre künstlerischen Anlagen zur Entfaltung zu bringen, den Kinderwunsch zum Beruf werden zu lassen. Jede Gelegenheiten zu kleine Auftritten nahm sie wahr.
Dem jungen Mann aus Leipzigs Arbeiterviertel ging es ähnlich. Auch er suchte, dank der neu gewonnenen Freiheit, nach Möglichkeiten, etwas aus seinen bisher nur belachten Anlagen zu machen. Er wollte Clown werden.

Beide Geschwister warteten noch auf einen Durchbruch.
Da endlich! Mehr als zehn Jahre nach der Wende erfuhren beide zufällig von einem workshop für angehende Artisten, Schausteller. Eine Art „Deutschland sucht den Superclown“. Der Zirkus brauchte Nachwuchs. Nichts wie hin, bedeutete das für beide. Die Jüngsten waren sie ja nun nicht mehr. Dennoch meldete sich jeder von ihnen an und nahm am Casting teil.
Petra glänzte im selbst geschneiderten Kostüm mit einer Hundedressur.
Antonio erheiterte die Jury als Musik- und Sprach-Clown.
Bereits am ersten Tag bemerkten sie einander. Von Anbeginn fühlten sie sich eigenartig zueinander hingezogen. Sie bewunderten einander. Der Funke der Sympathie hüpfte schon beim ersten Gespräch zwischen ihnen recht aufregend. Da war endlich ein Mensch in ihr Leben getreten, der die bisher verspotteten Eigenschaften anerkannte, ja, sogar unterstützte. Petra war schon bis über beide Ohren in Antonio verliebt. Auch Antonio musst jedesmal ergriffen nach Luft schnappen, wenn er zufällig Petras Arm berührte. Beinahe wäre es eine Liebesgeschichte geworden.
Antonio wollte sie gerade herzhaft in die Arme nehmen, als einer von der Jury zu ihnen trat, um sie auf ein Kuriosum, auf die verblüffenden Parallelen der beiden Lebensläufe aufmerksam zu machen. Ob sie das schon gewusst hätten: Sie seien beide am selben Tag in Berlin geboren. Na, wenn das keine Zufall wäre!
In Berlin? Wieso nicht in Leipzig, fragte sich Andreas.
Aber meine Eltern haben immer in Mecklenburg gelebt? Wieso soll meine Mutter mich in Berlin entbunden haben?, fragte sich Petra.
Auf die Idee, sie könnten miteinander verwandt, ja gar Zwillinge sein, kam keiner von ihnen. Zeigten Pippina-Petra und Antonio-Andreas als zweieiige Zwillinge doch die gleichen Unterschiede wie Geschwister allgemein.
Dennoch waren viele Ungereimtheiten durch den Geburtsort aufgetaucht. Sie grübelten, mal gemeinsam, mal jeder für sich. Ein ungeheurer Verdacht begann zu keimen, dem sie nun nachgehen wollten. Telefonate mit den jeweiligen Adoptiveltern brachte Licht in die Abstammung. Die letzte Klärung kam aus den Archiven der ehemaligen DDR-Behörden, über die ein Zwangsadoption erfolgt war.
Als allgemein bekannt wurde, dass sie ein Zwillingspärchen waren, da redete jeder klug daher: Ja, so eine gewisse Familienähnlichkeit wäre nicht zu leugnen. Man würde sagen: Sie kämen aus demselben Stall.
Pippina und Antonio, wie sie nun wieder hießen, mussten rasch ihre Gefühle, die schon auf Brautschau aus waren, hart zurück pfeifen. Dem versagten Liebesglück trauerten sie noch eine ganze Weile nach. Doch nach über Jahrzehnten unter fremden Menschen endlich einen Verwandten und Antwort auf viele quälende Fragen gefunden zu haben, das war ebenfalls ein sehr wertvolles Geschenk des Schicksals.
In eine gemeinsame Nummer bauten sie als Pantomime die Schicksale ihrer Kindheit, die Geschichte von Pippina und Antonio ein und ernteten damit stets viel Applaus.

 

Hallo Tex,
in diese Geschichte hast du einfach viel zu viel reingepackt! Ich habe das gefühl, ein ganzes Zwillingsleben 'schaffen' zu müssen, wobei ich bei einigen Aspekten einfach gerne verweilt hätte, um die Personen besser kennenzulernen. Hier geht die Quantität ganz klar zu Lasten der Qualität. Am Ende finden sich die Geschwister wieder, entdecken ihre Verwandtschaft, obwohl die 'Gefühle schon auf Brautschau' waren..., das klingt mir zu betulich und umgangssprachlich. Sorry, gefiel mir nicht so gut.
LG,
Jutta

 

Artisten-Liebe

Hallo, Jutta, bin teilweise schon bei den Seelentrümmern auf deine Anmerkung eingegangen. Du hast ja Recht. Vielleicht wäre der Kern der Geschichte, die Zwangsadoption, eine gute Grundlage für eine längere Erzählung. Müssen ja nicht gerade Clowns sein. Gruß Thea

 

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