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Atemnot
Es war ein Fehler. Ich hätte nicht herkommen sollen. Der Alte saß auf seinen Kissen wie auf einem Thron und war doch viel kleiner als früher. Er schabte die letzten Reste Brot vom Teller und kaute mit offenem Mund. Als der Teller leer war, schrie er: „Ich habe heute noch nichts gegessen.“ Seinen gekrümmten, verschrumpelten Zeigefinger hob er in die Luft. „Ich verhunger.“ Er röchelte. „Theresa, dumme Göre. Essen.“
Theresa zuckte kurz, dann blickte sie auf, lächelte mir entschuldigend zu und lief in die Küche.
Jetzt war es ganz still, auch Theresas Mann Michael sagte nichts. Ich konnte die alte Wanduhr ticken hören. Der Raum wirkte verlebt. An einer weiß gekalkten, rissigen Wand hingen Fotos. Die meisten zeigten den Alten vor seiner Firma, die ihn reich gemacht hatte - ein Reichtum, den er aufsparte und nicht ausgab. Auf einem vergilbten Bild sah ich seine mittlerweile verstorbene Frau. Ganz am Rand der Galerie hing ein Foto von Theresa und Michael auf ihrer Verlobungsfeier, im Jahr nach unserem Abitur. Theresa trug ein breites Haarband, ihr Kinn war hochgereckt.
Viel von dem Mädchen, dem man auf der Straße hinterherschaut, konnte ich in Theresa nicht wiederfinden. Als sie aus der Küche kam, waren ihre Schultern nach vorne gezogen, der Blick gesenkt. Sie stellte ihrem Vater Essen hin.
Michael räusperte sich und sagte zu mir: „Schön, dass du uns besuchen kommst. Was machst du jetzt? Theresa hat erzählt, du wohnst in Bayern.“
„Ja, ich bin für zwei Wochen drüben im Dorf bei meiner Tante. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“ Dazu setzte ich ein freundliches, unverbindliches Lächeln auf.
„Das ist aber nett. Ich bitte dich, so schöner Besuch ist immer willkommen.“ Michael versuchte, mir in die Augen zu schauen.
„Hast Du schon gewusst“, fragte Theresa - da schnitt der Alte ihr das Wort ab und tobte: „Kalt. Meine Füße, ich erfriere.“
In dem Moment kam Ana, die neue Pflegerin, die Treppe herunter. „Ich übernehme das“ bestimmte sie. Sie zog dem Alten wärmere Hausschuhe über und sagte: „So, Herr Brodbeck, jetzt ist es aber auch gut.“
Was machte ich hier? Ich hatte Urlaub, ich konnte genauso gut im Freibad liegen oder im Biergarten sitzen. Ich verdrückte mich ins Bad, wo ich ein paar Minuten für mich sein konnte. Ich wusch mir lange die Hände und sah mich um. Früher standen überall in Theresas Badezimmer Kosmetika. Ich öffnete den Badezimmerschrank. Handtücher, Windeln für Senioren und ein ganzes Waffenarsenal an Medikamenten. Erkältungsmittel, Kopfschmerztabletten und Medikamente gegen Angstzustände und Schlafstörungen. Ich tippte auf Theresa. Vielleicht aber waren die Mittel für den Alten, um ihn ruhigzustellen…
Lange wollte ich nicht bleiben. Ich gab Michael zum Abschied die Hand, die er mit beiden Händen umfasste. Ana stierte mich an. Der Alte nickte mir zu. Theresa brachte mich zur Tür und von drinnen konnte ich den Alten rufen hören: „Idiot, ich hab keinen Bissen gekriegt.“
Am nächsten Tag war der Alte tot.
„Der Arzt hat`s mir doch gesagt: Atemstillstand. Mich wundert es nicht. Der Brodbeck hat den Tod seiner Frau nie verkraftet.“ Beim Bäcker tratschten ein paar ältere Frauen.
„Ach was. Ihm hat sich endlich mal jemand angenommen. Und die Polin ist ja erst seit einem halben Jahr da – soll ja ganz gut im Testament wegkommen.“
„Die Ana da? Der Tochter und dem Schwiegersohn würde ich`s zutrauen. Aber wenn die ihn hätten loswerden wollen, hätten sie das schon vor Jahren gemacht, als Brodbeck noch ein richtiger Tyrann war.“
Am gleichen Tag ging ich zu Theresa und nahm sie in den Arm. Sie war ganz benommen. Sie bestand darauf, mir einen Kaffee zu kochen und vergaß das Kaffeepulver. Ich sagte nichts, trank das heiße Wasser und sah zu, wie Michael und Ana hin und her huschten. Ana summte ein Liedchen und strich Theresa im Vorübergehen über den Rücken. „Kann ich etwas tun? Kann ich Dir irgendetwas Gutes tun?“ Theresa schüttelte den Kopf.
Als ich ins Bad ging, öffnete ich wieder den Schrank. Ein Mittel, das gegen Angstzustände und Unruhe wirkte, fehlte. Bei Überdosierung konnte es zu Atemstillstand führen. - Das Diazepam war nicht mehr da.
Ich stand lange vor dem offenen Badezimmerschrank, zu lange. Theresa öffnete die Tür und sah mich an, im Hintergrund stand Ana. Ich stotterte: „Was für ein schwüler Tag. Ich schwitze so. Ich darf mir doch mehr Handtücher nehmen?"
Theresa sah mich an: „Natürlich. Wenn Du kurz duschen willst, ist das auch kein Problem.“
„Nein, nein es geht schon.“
Ich drückte mich an Theresa und Ana vorbei ins Wohnzimmer. Solange die anderen beiden noch nicht da waren, fragte ich Michael: „Woran ist er denn gestorben?“
„Na ja. Am Alter.“
„Im Dorf heißt es, es war Atemstillstand.“ entgegnete ich.
Michael beugte sich zu mir: „Ja, ja. Atemnot. Immer und immer wieder.“
Da kamen Theresa und Ana ins Wohnzimmer. Heute würde ich nichts Neues mehr erfahren.
Auch in den nächsten Tagen kam ich nicht weiter. Da meine Urlaubstage gezählt waren, provozierte ich Theresa: „Theresa, ich bewundere dich so, dass du deinen Vater gepflegt hast. Das war sicher nicht immer einfach. Mein Cousin hat ja damals meine Oma gepflegt, als alle anderen wollten, dass sie ins Altenheim kommt. Aber im Altenheim, da kümmert sich doch keiner. Die pumpen die Bewohner mit Neuroleptika voll, stellen die einfach ruhig. Bei den Nebenwirkungen grenzt das an Mord.“
Theresa wirkte sehr gefasst, ihr Gesichtsausdruck war eingefroren. An diesem Tag wirkte sagte sie noch kaum etwas.
Aber am nächsten Tag rief sie mich an und wollte mit mir sprechen. Auf keinen Fall sollte ich zu ihr fahren. Eine halbe Stunde später kam sie mit kleinen, hastigen Schritten in die Küche meiner Tante.
„Wie geht es dir?“, fragte ich sie.
„Schön habt ihr es hier. Du bist nur noch ein paar Tage hier, ja?“
Ich nickte und sie redete über die anstehende Beerdigung und über die Renovierungen, die am Haus anstanden.
Ihr Atem klang flach, ihr Blick war gehetzt. Eine Pause entstand. Ich wartete ab.
„Was, wenn Michael ihm zu viele Tabletten gegeben hat?“ Ihre Stimme zitterte leicht, als sie weitersprach: „Es ist nur... eines meiner Medikamente fehlt. Ich weiß nicht… Nachdem, was du gestern gesagt hast… Auf seiner Arbeit, da drohen Entlassungen. Und du weißt ja, mit dem Vater hat er sich noch nie…“ Sie fasste sich mit ihrer rechten Hand an den linken Oberarm, sie drückte fest, ich sah die Abdrücke ihrer Hand.
„Theresa“, flüsterte ich und reichte ihr meine Hand über den Tisch.
Theresa sprang auf. „Nein, ich bin nur hysterisch. Mein Vater. Nein, das sind nur Hirngespinste, nichts weiter, hörst du? Zu keinem ein Wort.“
Ich stand nun auch auf: „Du musst zur Polizei. Wenn er vergiftet worden ist, wird man es bei der Obduktion herausfinden.“
Theresa lachte grob. „Du spinnst wohl. Du warst schon immer so neunmalklug. Was, wenn sich Papa die Schachtel von mir geklaut hat, wenn es gar nicht der Micha war?“ Sie schnaubte.
Ich berührte Theresa an den Schultern: „Theresa, überleg doch mal. Wenn es Michael war, lebst du auch nicht mehr sicher.“
Theresa wurde ganz ruhig. Sie hörte auf zu zittern, breitbeinig stand sie vor mir, sie wurde laut: „Was sagst du da? Wie lange kennen wir uns eigentlich?“
Dann trat sie einen Schritt zurück und sackte auf ihren Stuhl.
Zusammengekrümmt saß sie da und schaukelte sich leicht vor und zurück. Sie wiederholte wieder und immer wieder: „Was soll ich bloß tun, was soll ich bloß tun?“
Ich zog sie mit zum Auto. Es war noch früh, Michael konnte noch nicht von der Arbeit zurück sein. Ich fuhr Theresa zu ihrem Haus. Zusammen packten wir das Nötigste. Die ganze Zeit über horchte ich: waren da Schritte von Michael? Mit Mühe brachte ich aus Theresa heraus, dass sie noch eine Großcousine hatte, bei der Michael sie nicht vermuten würde.
Als wir endlich im Auto saßen, ohne dass Michael uns begegnet war, atmete ich das erste Mal wieder tief durch. Ich fuhr Theresa vierhundert Kilometer zu ihrer Verwandten. Ich redete ihr zu, sich von Michael zu trennen und scheiden zu lassen, bevor das Erbe in seine Hände fiele. Theresa sagte während der Fahrt kein Wort. Ich war froh, als die Cousine sie aufnahm.
Ich fuhr zurück zu meiner Tante und sagte ihr, dass ich beruflich früher nach Bayern zurück musste.
In den nächsten Monaten hörte ich von Freunden, dass sie Theresa nicht mehr gesehen oder gehört hatten. Sie war untergetaucht. Auch bei mir meldete sie sich nicht. Einmal rief ich ihre Cousine an, die mir nicht sagen wollte, wo Theresa war. Das war mir nicht unrecht.
Zwei Jahre später war ich das erste Mal in meinem Leben in New York. Wie so viele andere Touristen auch wollte ich das Tiffany von innen sehen. Vor den diamantbesetzten Armreifen stand eine zierliche Dame mit jugendlicher Haltung. Neben ihr ein jugendlicher Schönling, der ihr zärtlich über die Hüften strich. Selbst als der Verkäufer sie mit Miss Brodbeck ansprach, erkannte ich sie nicht sofort. Sie trug wieder ihre Hollywoodlocken. Ich ging auf sie zu und sprach sie an: „Theresa! Ich hatte mich schon gefragt, wo du jetzt lebst.“
Theresa schickte ihren Begleiter weg: „Darling, sieh dich doch schon mal nach etwas Passendem für dich um, ja?“
Dann drehte sie sich wieder zu mir: „Ja, Du weisst ja, die ganze Geschichte. Ich konnte mich nicht bei dir melden. Gibt es Neuigkeiten von zu Hause? Hast du mal mit Michael geredet oder mit der Polizei?“
„Nein, nein“, instinktiv wich ich einen Schritt zurück.
„Gut“, sagte Theresa. „Das bleibt auch so. Man könnte Michael sowieso nichts nachweisen. Ach“, sagte sie nun und klang ganz aufgesetzt und überdreht: „Du hast mir ja die Augen geöffnet! Michael ist ja so ein schlimmer! Da wäre ich selber nie drauf gekommen.“
Wie sie nun lachte, das kannte ich von früher. Ich stutzte: „Wieso sagst du das so? Man könnte fast denken, dass du deinen Vater…“
Da schritt Theresa einen Schritt auf mich zu und hielt ihr Gesicht bedrohlich an meines und zischte: „Aber nein. Natürlich nicht.“
Wieder lachte sie: „Es war so schön, dich zu sehen!“
Sie schnippte mit dem Finger nach ihrer Begleitung und verließ Arm in Arm mit dem jungen Mann das Geschäft.